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12

Die letzten vier Wochen waren recht ereignislos verlaufen. Sie hatte sich gut an die Schule gewöhnen können, Mia hatte endlich bemerkt, dass sie in Chemie und Biologie im selben Kurs waren und hatte sich sogleich zu ihr gesellt. Jetzt passte sie im Unterricht nur noch halb so gut auf, weil sie und Mia entweder Tic-Tac-Toe auf den Holztischen spielten, oder Nachrichten füreinander auf ihre Schreibblöcke kritzelten, oder heimlich Schokolade naschten. An diesem Tag lud Mia sie zu sich nach Hause ein. Mia hatte einen Hamster, den sie unbedingt kennenlernen sollte. Seit der Party hatte sie auch jeden Tag zum Mittag mit Mia gegessen. Und weil an Mia eine ganze Freundesgruppe dranhing, hatte sie die auch gleich kennengelernt.

Der asiatische Junge, Hao, der die ganze Zeit mit einem Kartendeck herumlief und ziemlich beeindruckende Tricks auf Lager hatte, mit denen er alle Mädchen in seinem Umkreis zu beeindrucken versuchte (was die meiste Zeit auch klappte -sie zumindest hatte er tief beeindruckt, und sie hatte nach einem weiteren verlangt und dann nach noch einem).

Sofja, geborene Amerikanerin, aber russische Wurzeln, war die Reinkarnation von purer Perfektion und sie konnte sich an dem Mädchen kaum sattsehen, an ihren dichten, dunklen Haaren, den langen Wimpern, den hohen Wangenknochen und den stets so sorgfältig gewählten Outfits. Sofja war sogar so schön, dass sie für einen Augenblick ihre Sexualität in Frage stellte.

Und dann waren da noch die zwei Pauls. Paul Tordo, ein dunkelhäutiger, großer, dünner Kerl, der lieber Football als Eishockey spielen wollte; und Paul Kendrick das genaue Gegenteil: so blond und blass, dass es schon fast als weiß durchging und so breit, dass sie vermutlich leicht in eines seiner Hosenbeine gepasst hätte.

Als sie diese verrückte Gruppe kennengelernt hatte, hatte sie sich automatisch gefragt, warum Mia sich (von Sofja mal abgesehen), mit ausgerechnet diesen so unscheinbaren (oder eher unangenehm auffallenden) Schülern umgab. Mia war, was man sich unter einem waschechten Schneewittchen vorstellte. Schwarze, glatte Haare (so glatt und schwarz, dass sie Mia gefragt hatte, ob sie asiatische Vorfahren hatte -hatte sie nicht), schneeweiße Haut (so weiß, dass sie Mia gefragt hatte, ob sie ganz sicher keine asiatischen Vorfahren hatte -hatte sie ganz sicher nicht) und ihre Lippen strahlten in der Schule in einem rosigen Ton und außerhalb der Schule blutrot, weil Mia fand, dass sie durch die blasse Haut und die schwarzen Haare ruhig den Kontrast noch etwas mehr ausreizen und hervorheben konnte.

Als sie Mia kennengelernt hatte, hatte sie angenommen, dass sie oberflächlich war. Dass hatte sie nicht gestört, sie fand nicht, dass Oberflächlichkeit schlimm war. Aber jetzt kannte sie Mia seit einem Monat und hatte bemerkt, wie weit sie eigentlich von dem Wort oberflächlich entfernt war. Sie war zu jedem, der sie ansprach, egal ob jung, alt, dünn, dick, klein, groß, Junge, Mädchen, schwul, lesbisch oder gar emo so unheimlich freundlich, dass es sogar sie verwunderte. Sie selbst war zwar auch immer bemüht, freundlich zu sein, aber sie wusste, dass es gestellt war. Es war eine angespannte Form des Freundlich-seins, um sich einzufügen und niemandem Schwierigkeiten oder Probleme zu bereiten und keinen in Verlegenheit zu bringen. Mia hingegen schien ehrlich freundlich zu sein. Sobald jemand Mias Namen nannte, sah sie, wie ihre Augenbrauen neugierig und aufmerksam nach oben wanderten und ihr Lächeln ihre Augen erreichten. Mia wollte mit Leuten interagieren. Mia wollte, dass man sie ansprach.

Sie hatte Mia nun schon ein paar Mal beobachtet und versucht, ihre lockere Haltung nachzuahmen. Das strahlende, unbekümmerte Lächeln, die sanfte, einladende Stimme, die Wortwahl. Aber es klappte nicht so recht, denn wenn sie jemand ansprach, spürte sie nur diese beißende Unsicherheit, besonders, wenn Mia direkt neben ihr stand, oder Andrew am anderen Ende des Flurs mit seinen Kumpels abhing und sie beobachtete, als würde er jede Sekunde seinen Zauberstab hervorziehen und den Todesfluch aussprechen. (Vielleicht hatte sie diese Woche zu viel Harry Potter gesehen...)

Außerdem war sie nicht so hübsch wie Mia. Mia hatte einen tollen Modegeschmack und trug gerne teuren Schmuck, dunkle Röcke, hohe Stiefel und helle Blusen und Handtaschen von Designermarken. All das hätte sie sich nicht einmal leisten können, wenn sie ein Jahr lang ihr Taschengeld gespart hätte, das sie von ihrer Mom bekommen hatte und davon abgesehen hatte Mia keine drei Zentimeter lange Narbe unter dem rechten Auge, die die Leute immer an irgendeinem Punkt anstarrten, so sehr sie sich auch zu beherrschen versuchten. Es hätte sie weniger gestört, wenn die Leute ihr auf den Busen gestarrt hätten.

In diesem einen Monat hatte noch eine andere, sehr wichtige Entwicklung stattgefunden, nämlich, dass April angefangen hatte, sie absolut zu vergöttern, was durchaus auch daran liegen konnte, dass sie alles tat, damit April sie gern hatte. Sie spielte mit ihr, wann immer April der Sinn danach stand, sie fütterte sie, wenn Julia gerade etwas anderes zu tun hatte, sie hatte sie letzte Woche zum Kinderarzt gebracht, weil sie eine Zeckenimpfung gebraucht hatte und sie hatte sie sogar schon fünf Mal gewickelt. Sie las ihr aus Bilderbüchern vor und verteilte Küsse an Stellen, an denen sie sich beim Hinfallen wehgetan hatte, damit sie zu weinen aufhörte. Und mittlerweile wurde sie jedes Mal von April in Beschlag genommen, sobald sie von der Schule nach Hause kam.

Izzy war immer noch Izzy. Sie hatte zwar gehofft, dass sich an dem Verhalten ihrer kleinen Schwester etwas ändern würde, aber es hatte sich nicht das Geringste geändert. Izzy war immer noch unheimlich launisch und still. Immer noch redete Izzy kaum ein Wort und verkroch sich nach der Schule meist sofort in ihrem Zimmer.

Wenigstens wäre ihr nicht aufgefallen, dass Izzy unerlaubt oder mitten in der Nacht das Haus verlassen hätte und das war zumindest ein Fortschritt, wie sie fand. Vielleicht tat ihr der Tapetenwechsel doch gut, denn obwohl Izzy nicht mit ihr darüber redete, wusste sie, dass die letzten Jahre ihre Schwester mitgenommen hatten. Vielleicht noch mehr als sie selbst.

Mia und sie wollten nach der Schule nicht nur Trüffel den Hamster besuchen, sondern auch gemeinsam für Chemie lernen, also würde sie heute zum ersten Mal zu Mia nach Hause kommen. Julia wusste bereits Bescheid, dass sie später kommen würde.

Sie hatte Mia nicht zu sich einladen wollen, weil sie sich nicht sicher gewesen war, ob Adam und Julia damit einverstanden sein würden. Außerdem kannten Mia und Andrew einander, und hätten bestimmt ein freundschaftliches Gespräch angefangen, während sie nur stumm daneben gestanden hätte.

Sie war nervös, als Mia sie in die Einfahrt des Hauses lotste, weil sie nun sah, dass Mias Familie definitiv nicht zu jenen gehörte, die ihr Haus durch einen Glücksfall billig ersteigert hatten, dafür war es viel zu groß und modern, der Garten zu hübsch und sauber, der Zaun zu frisch in seinem glänzenden schwarz lackiert und das ganze Anwesen zu weit von der eigentlichen Siedlung entfernt. Hier hatte man seine Ruhe. Dieses Haus war bestimmt extra für diese Familie gebaut und nicht einfach einem Vorbesitzer abgekauft worden.

Sie waren mit dem Bus gefahren und das letzte Stück zu Fuß gelaufen. Jetzt, da sie sich das Anwesen ansah, war sie verwundert, dass sie nicht von einem goldenen Rolls Royce abgeholt worden waren. Eine Mischung aus Neid und Ehrfurcht machte sich in ihr breit. Einerseits war sie neugierig auf das Haus und wollte sich darin bewegen und sich vorstellen, darin zu leben, andererseits, wollte sie Mia einen bösen Blick zuwerfen, sich umdrehen und gehen, weil sie gar nicht wissen wollte, in welchem Wohlstand ihre neugewonnene Freundin lebte, während sie sich auf dem Badezimmerfußboden in Anchorage immer die nackten Füße an den spitzen, aufgesprungenen Fließen aufgeschnitten hatte.

Es war nicht fair, dachte sie. Sie konnte nichts dafür, dass sie in dieses Umfeld hineingeboren wurde und Mia konnte auch nichts dafür, aber das machte es nicht unbedingt leichter.

„Das gibt es doch wohl nicht", murmelte Mia plötzlich, als sie das Gartentor öffnete.

„Was ist denn?", fragte sie und beschloss, dass es kindisch gewesen wäre, Mia einen bösen Blick zuzuwerfen und wegzulaufen.

„Das ist Kodys Wagen." Mia beschleunigte ihre Schritte, während sie noch überlegte, ob Mia jemals den Namen Kody in ihrer Gegenwart hatte fallen lassen. Als sie Mia zum Haus folgte, war sie sich immer noch nicht sicher. Der Garten reichte um das Gebäude herum und sah aus, wie aus einem schöner-wohnen-Katalog. Grünes, getrimmtes Gras, hohe blühende Sträucher und ein Kiesweg, der unter ihren Schuhsohlen knirschte. Das Haus war in einem sanften Gelbton gehalten.

Eigentlich hübsch, aber sie wurde den Neid trotzdem nicht los.

Sie betraten das Haus und es war hell und modern eingerichtet und gab ihr sofort das Gefühl, nicht hier her zu gehören. Doch sie kam kaum dazu, sich genauer umzusehen, denn Mia lief zielstrebig voraus in ein anderes Zimmer und stieß einen kurzen Schrei aus, der sie so sehr erschreckte, dass sie ihr nachlief. Mia lag in den Armen eines großen Kerls, der ihr so unverwechselbar ähnlich sah, dass sie glaubte zu wissen, wer Kody war. Er musste ihr Bruder sein, aber er sah um einiges älter aus. Mindestens acht Jahre, dachte sie. Er war einen guten Kopf größer als Mia, seine Haare reichten ihm knapp unter die Ohren. Er konnte noch nicht lange hier sein, dachte sie, da er noch seine Schuhe trug und die Jeansjacke über dem grauen T-Shirt nicht ausgezogen hatte.

„Du hättest mir sagen können, dass du kommst!", lachte Mia.

„Hätte ich ja, aber ich wusste es selbst nicht, bis vor zwei Stunden."

Mia ließ ihn los und drehte sich strahlend zu ihr. „Das ist mein großer Bruder. Kody. Kody, das ist Hannah, eine Freundin von mir."

Er streckte ihr bereitwillig die Hand entgegen und sie nahm sie. „Freut mich."

„Mich auch."

„Mann, du Idiot", fluchte Mia liebevoll und sah dann wieder zu ihr. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich unseren Lernplan und das Kennenlernen mit Trüffel verschoben." Ihr Blick glitt zurück zu Kody. „Ich hab Hannah versprochen, dass wir lernen."

„Das ist doch kein Problem", erwiderte sie sofort. „Ich will diese... Familienwiedervereinigung nicht stören. Ich kann ein andermal vorbeikommen und wir lernen."

„Unsinn!", sagte eine Frau hinter ihr und sie drehte sich um. „Du kannst gerne zum Essen bleiben. Ich bin Mias Mutter. Olivia."

Ebenfalls unverkennbar. Die dunklen Haare zu einem Knoten zusammengedreht, eine Brille mit schwarzem Rand auf der Nase und sie schien wie Mia eine Vorliebe für Mode zu haben. Das verriet zumindest die Tatsache, dass sie nicht wie Julia in Jogginghose und lockerem Shirt Zuhause herum lief, sondern in dunkler Jeans und heller Bluse und sie silberne, feine Ohrringe trug.

Sie lächelte zurückhaltend. „Ich will keine Umstände machen."

„Das sind doch keine Umstände. Du bist herzlich eingeladen!" Olivia hatte ein genauso strahlendes Lächeln wie Mia selbst und sie konnte die Einladung nicht abschlagen.

„Vielen Dank", erwiderte sie höflich und Olivia wandte sich an Mia.

„Jason kommt auch in einer Stunde."

„Wirklich?!" Mia begann so breit zu strahlen, dass sie glaubte, ihr Gesicht würde zerreißen. „Wieso sagt mir das denn niemand?"

„Weil wir auch das nicht gewusst haben", erwiderte Kody und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Er hat mir vor zwei Stunden geschrieben, dass er aus dem Flieger ausgestiegen ist und über seine fünf freien Tage hier bleibt. Er wollte uns überraschen. Ich habe zufällig auch frei bekommen und dachte, es wäre nett, wenn ich dazu stoße."

Mia fiel ihm schon wieder um den Hals und drückte ihn so fest, dass er ein ersticktes, aber amüsiertes Geräusch von sich gab.

„Es ist so lange her, dass wir alle zusammen unter einem Dach waren! Schade, dass Dad heute arbeiten muss."

Ihre Mutter lächelte. „Er kommt morgen."

„Dafür bist du morgen weg", jammerte Mia und ließ Kody wieder los.

Olivia seufzte. „Man kann eben nicht alles haben. Wieso zeigst du deiner Freundin..." Sie warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Hannah", half sie ihr schnell aus.

Hannah nicht das Haus? Wir essen erst, wenn Jason hier ist."

Also zeigte Mia ihr das Haus. Die üppig großen Zimmer, die moderne, aber nicht kühle Einrichtung, die Tatsache, dass es weder penibel aufgeräumt, noch unordentlich war. Im Wohnzimmer hingen über dem Kaminsims viele Fotos und auch im Bücherregal fand sie einige davon. Sie sah einen blonden Mann und Kody daneben, beide in blauer Uniform.

„Ist das Jason?", fragte sie und Mia nickte. „Er ist blond", bemerkte sie und Mia lachte.

„Ja. Ich zieh ihn immer damit auf, dass er adoptiert wurde. Ist er natürlich nicht, aber er sticht auf jedem Familienfoto heraus wie ein bunter Hund. Unser Dad hat auch dunkle Haare, es macht gar keinen Sinn... Aber vielleicht hat er das von Grandpa." Mia zeigte auf ein anderes Bild mit einem älteren, blonden, großgewachsenen Mann und einer älteren, stämmigen Frau. „Siehst du?"

„Deine Brüder sind ein hübsches Stück älter als du, oder?"

„Stimmt. Ich bin ein Nachzügler, wie Dad immer sagt. Nicht geplant, aber trotzdem gewollt", kicherte Mia. „Kody ist achtundzwanzig und Jason zwei Jahre jünger. Aber er wohnt in New York, ich sehe ihn nur noch selten."

„Und beide sind Piloten?", fragte sie, als sie weiter zu einem Bild gelangte, an dem Kody in Uniform auf einem grünen Feld vor einem Flugzeug stand. Kein Passagierflugzeug, sondern ein Leichtflugzeug mit einem Propeller vorne dran.

Mia nickte. „Meine ganze Familie besteht aus Fliegern. Und das ist kein Scherz", fügte sie hinzu, als sie Mia skeptisch musterte. „Beide meiner Großväter waren Piloten und meine Großmütter waren Flugbegleiterinnen. So haben sie sich kennengelernt. Meine Mom ist die erste Pilotin der Familie. Der Bruder meiner Mom ist auch Pilot und die beiden Schwestern von meinem Dad sind Flugbegleiterinnen. Und meine Mom und mein Dad haben sich auch auf der Arbeit kennengelernt."

„Wow", murmelte sie und ließ ihren Blick wieder über die Fotos schweifen. Jetzt verstand sie, wie sich Mias Familie ein solches Grundstück und Mia sich so teure Kleidung und Schmuck leisten konnte. Piloten verdienten gut und jahrelange Ersparnisse machten so einen Lebensstil vermutlich mehr als leicht.

Manchmal wünschte sie, sie hätte auch ein Talent, das ihr einmal viel Geld einbringen würde. Irgendetwas, das sie ihr Leben lang würde tun können. Anwälte und Makler verdienten viel. Ärzte. Aber sie sah sich als nichts davon. Sie sah auch nicht, dass sich ihr Leben irgendwann zum Besseren wenden würde. Dass sie sich eines Tages Dinge ohne mit den Wimpern zu zucken würde leisten können. Ein Teil von ihr glaubte, dass sie für immer in einer kleinen, renovierungsbedürftigen Wohnung leben und einen Job in einem Supermarkt haben würde, besonders, seit sie ihre so hart erarbeitete Karriere in den Sand gesetzt hatte.

Für sie hatte es immer nur das Eislaufen gegeben. Das Eislaufen als Beruf und sonst nichts. Und als diese Laufbahn keine Option mehr gewesen war, sah auch ihre Zukunft um einiges düsterer aus. Anstatt sich in glitzernden Kleidern und neuen Eislaufschuhen auf dem Eis zu sehen, völlig außer Atem und umringt von einer applaudierenden, kreischenden Menge und fallenden Blumen, sah sie sich nun alleine mit Fertiggerichten müde auf einer durchgesessen Couch in einem dunklen Apartment, nur mit dem Flackern des Fernsehers, mit dem Wissen, in fünf Stunden wieder zur Arbeit zu müssen. Und sie glaubte nicht, dass sie das Zeug für etwas Anderes hatte.

„Verrückt", murmelte sie. „Wirst du auch mal Pilotin?"

Mia lachte. „Ganz bestimmt nicht. Ich hab wahnsinnige Flugangst, das macht mich wohl zum schwarzen Schaf der Familie."

„Wirklich?"

„Ich will lieber ins Finanzwesen", nickte Mia. „In irgendeiner langweiligen Bank auf dem Boden arbeiten. Ich kann ganz gut mit Zahlen und Statistiken umgehen." Mia zeigte auf ein Foto auf dem vermutlich ihr Vater und davor links und rechts Jason und Kody standen, alle drei in Uniform mit einem stolzen Lächeln. „Da hat Jason gerade seine letzte Prüfung absolviert. Meine Brüder haben schon mit sechzehn begonnen zu fliegen. Sie sind süchtig danach. Manchmal glaube ich, dass sie lieber dort oben leben als hier unten. Aber solange Bankfilialen nicht ins Weltall versetzt werden, bringen mich keine zehn Pferde in ein Flugzeug."

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mit einem Flugzeug nicht ins Weltall fliegen kann", mutmaßte sie.

Mia spitzte die Lippen. „Keine Ahnung. Kody?!", brüllte Mia ins Esszimmer hinüber, wo die beiden Mädchen Kody und Olivia zurückgelassen hatten.

„Was?", brüllte er zurück.

„Kann man mit einem Flugzeug ins Weltall fliegen?"

Keine zehn Sekunden später erschien er im Türrahmen und grinste belustigt. „Ob man mit einem Flugzeug ins Weltall fliegen kann? Wofür gibt es deiner Meinung nach Raketen?"

Sie verdrehte die Augen. „Ja, naja, wo beginnt es denn? Das Weltall, meine ich."

„Keine Ahnung", erwiderte Kody.

„Etwa hundert Kilometer über dem Meeresspiegel", erwiderte sie und Mia warf ihr einen überraschten Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern. „Hey, im Gegensatz zu dir habe ich in Astrophysik aufgepasst."

„Wenn das so ist, dann nein", schmunzelte Kody. „Man kann nicht mit einem Flugzeug ins Weltall fliegen. Die meisten Passagierflugzeuge fliegen nicht über vierzehn Kilometer. Die Concorde hat neunzehntausend geschafft, aber das ist unüblich."

„Danke, Kodypedia." Mia grinste sie an. „Dann sehen meine Jobaussichten doch blendend aus, oder?"

Kody lachte. „Ich würde mich ehrlich wohler fühlen, wenn du bei deinem Finanzberater-Plan bleibst. Hast du dir mal beim Autofahren zugesehen?"

„Jason sagt, Autofahren und Flugzeugfliegen sind zwei Paar Schuhe", erwiderte Mia beleidigt und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Ja, aber wer eine rote Ampel, drei Stoppschilder und eine Fußgängerin übersieht, dem traue ich nicht zu, die richtige Landebahn zu treffen." Er warf seiner Schwester einen amüsierten Blick zu. „Hat sie dir erzählt, dass sie schon zweimal durch ihre Fahrprüfung gerauscht ist?"

„Doch nur, weil ich die Fußgängerin übersehen habe!", maulte Mia. „Und ihr ist nichts passiert!"

„Wenn du alle zwanzig Minuten einen Fußgänger übersiehst, ist das ein bisschen zu viel, Schwesterchen", lachte Kody und Mia zeigte ihm den Stinkefinger, gerade als die Haustüre aufging und eine fröhliche Stimme durchs Haus drang.

„Wehe, ihr habt nicht mit dem Essen auf mich gewartet, ich bin am Verhungern!"

Mia quietschte vor Aufregung auf und war so schnell aus dem Zimmer gerannt, dass sie überrascht war, dass Mia keine Staubwolke hinterlassen hatte. Sie und Kody folgten ihr nach draußen, gerade rechtzeitig, um sich den Anblick nicht entgehen zu lassen, bei dem Mia Jason beinahe umrannte. Er war kleiner als Kody aber trotzdem etwas größer als Mia und seine Haare waren tatsächlich blond, sodass es schwer vorstellbar war, dass er wirklich in diese Familie gehörte. Sie hielt sich im Hintergrund, während Kody und Jason einander umarmten und auf den Rücken klopften.

„Hey, Mann!", sagte Jason.

„Und?", fragte Kody. „Heute mal ohne Schatten hergekommen?"

Jason lachte, aber es lag etwas Angestrengtes, beinahe Nervöses darin und sie fragte sich, was dieser Kommentar wohl zu bedeuten hatte. „Hoffentlich." Dann entdeckte er sie. „Wir haben Zuwachs bekommen, wie ich sehe", scherzte er und betrachtete sie.

„Leider nicht." Mia machte einen Schmollmund. „Aber es ist fast genauso gut. Das ist Hannah. Sie geht seit kurzem auch auf unsere Schule und wir wollten Chemie lernen und ich wollte ihr Trüffel vorstellen. Da wusste ich noch nicht, dass ihr beide hier herkommt."

„Der Hamster lebt noch immer?", hakte Jason verblüfft nach. „Der ist doch schon tausend Jahre alt."

„Er ist erst drei", entgegnete Mia.

Bevor die beiden weiter diskutieren konnten, erschien Olivia im Türrahmen und strahlte Jason an.

„Komm her, mein Großer!" Sie schloss ihn in eine lange Umarmung und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange. „Lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?"

„Also, ehrlich gestanden... Ich habe einfach nur Hunger."

Olivia lachte. „Keine Sorge. Essen ist schon fertig. Wir haben nur noch auf dich gewartet."

Sie bewegten sich alle ins Esszimmer und Mia zog sie auf den Stuhl neben sich. Jason nahm Mia gegenüber Platz, Kody saß gegenüber von ihr und Olivia am Tischende. Während des Essens (es gab richtig leckere Thunfischspaghetti und zwar in Mengen, wie sie es noch nie gesehen hatte) war sie sich nicht sicher, ob es unhöflicher gewesen wäre, sich in die Gespräche einzubauen, oder sich lieber zurückzuhalten und die Familie einfach Familie sein zu lassen.

Sie entschied sich für Letzteres, aber nur das gute Essen zu genießen, klappte nicht lange, denn Olivia war viel zu bemüht, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

„Also", lächelte Mias Mutter sie an. „Wie geht es dir in der neuen Schule, Hannah? Gibt es etwas, das dich besonders interessiert?"

„Bis jetzt ist sie Jahrgangsbeste", schaltete sich Mia ein, bevor sie antworten konnte.

„Ach, wirklich?", fragte Olivia und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sie streifte sich verlegen die Haare hinter die Ohren.

„Ja... naja... Das Schuljahr hat ja gerade erst angefangen... Und wir hatten erst eine kleine Prüfung. Das Blatt kann sich noch wenden. Aber mir ist die Schule nie sonderlich schwer gefallen, um ehrlich zu sein."

„Manche Menschen sind eben von Natur aus begabt", bemerkte Olivia lächelnd.

„Davon bin ich weit entfernt", lachte sie. „Ich lerne einfach viel. Ich bin ziemlich ehrgeizig."

„Na", bemerkte Kody amüsiert. „Vielleicht schaffst du es ja, Mia auch zum Lernen zu motivieren."

Mia kniff die Augen zusammen. „Sorry, Dad. Im Gegensatz zu dir habe ich echte Menschen als Freunde und keine gigantische Blechbüchse. Die verlangen eben ein bisschen mehr Aufmerksamkeit." Kody lachte.

„Hört auf damit", bat Olivia müde und wandte sich wieder ihr zu. „Jahrgangsbeste zu sein ist sicher nicht einfach."

„Früher war ich auch nicht Jahrgangsbeste", lenkte sie schnell ein, weil sie nicht prahlerisch rüberkommen wollte. „Aber jetzt habe ich mehr Zeit zu lernen, deshalb..."

„Mehr Zeit?", fragte Olivia. „Wie hast du die denn gefunden? Mehr Zeit hätten wir, glaube ich, alle gerne."

„Ich war früher im Eiskunstlaufverein." Jetzt hob Kody beeindruckt die Augenbrauen und Olivia nickte anerkennend. „Ich hab damals jeden Tag trainiert. Oft bis zu fünf Stunden. Ich wollte es zu den Olympischen Spielen schaffen, aber seit ich das nicht mehr mache... naja. Viel Freizeit." Sie lächelte verlegen. Dass sie einmal bei den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, erzählte sie nicht, denn sie war dreizehn gewesen und hatte gegen eine hübsche Russin verloren und war nur auf dem zweiten Platz gelandet. Niemanden interessierten die, die auf dem zweiten Platz gelandet waren.

„Das hast du mir gar nicht erzählt", meinte Mia, beinahe beleidigt und boxte ihr in den Arm.

„Du hast nicht gefragt", entgegnete sie und Mia legte den Kopf schräg.

„Gut, dann zählte ich die Frage, ob jemand Eisläufer ist, auch zu meinen Top fünfzig ersten Fragen."

„Eiskunstläuferin, wenn ich bitten darf." Sie hob mahnend den Zeigefinger und Mia streckte ihr die Zunge raus.

„Was hat dich dazu bewegt, aufzuhören?", fragte Olivia interessiert.

Sie senkte den Blick und begann möglichst beiläufig die übrigen Nudeln auf dem Teller herumzuschieben, in der Hoffnung, etwas mehr Zeit für eine Antwort zu gewinnen, aber natürlich war das Schwachsinn.

„Ich habe einfach... das Interesse verloren, schätze ich." Sie schenkte Olivia ein schwaches Lächeln.

„Oh, wie schade. Du hast bestimmt sehr viel Zeit investiert."

Sie nickte nur, ohne jemanden anzusehen. „Ja, schon..."

„Hast du auch bei so Wettbewerben mitgemacht?", fragte Mia. Sie nickte. „Und gewonnen?" Wieder nickte sie. „Krass. Das hättest du ruhig mal erwähnen können. Ich hätte gerne gewusst, dass du ein Weltstar bist."

„Ach, hör auf", murmelte sie. „Ich bin kein Weltstar, es waren nur die Regionalmeisterschaften."

„Gibt es davon Videos auf YouTube?"

Sie zögerte. Wo hatte sie sich da bloß reingeritten. Genau aus diesem Grund erzählte sie den meisten Leuten nicht, dass sie eine Eiskunstläuferin war. Gewesen war.

„Bestimmt...", meinte sie vage. „Aber ich glaube nicht, dass-"

„Das will ich unbedingt sehen!", rief Mia entschieden aus. „Wenn meine beste Freundin Olympiamaterial ist, dann will ich das mit eigenen Augen sehen!"

„Ich auch", pflichtete Kody ihr bei und ihr Puls beschleunigte sich, als Mia aufsprang, ins Wohnzimmer zum Fernseher lief und ihn einschaltete. Auf YouTube angekommen wollte Mia ihren Namen eingeben, aber sie sprang auf und hätte dabei beinahe den Stuhl umgeworfen.

„Warte! Warte, wenn du das unbedingt sehen willst, dann... ich... ich mach das schon." Sie rang Mia schnell die Fernbedienung ab. Mia warf ihr zwar einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts.

Ihr war mehr als bewusst, dass bei ihrem bloßen Namen die Aufnahmen und Reportagen ihres Unfalls auf dem Bildschirm auftauchen würden. Mit besonders dramatischen Überschriften und roten Kreisen und Pfeilen auf dem Thumbnail, um besonders viele Menschen zum Draufklicken zu verleiten. Sie wusste es, weil sie ihren Namen nach der ganzen Sache unzählige Male selbst gegoogelt hatte und fast ausschließlich Aufnahmen des Unfalls aufgetaucht waren. Aus den verschiedensten Winkeln und mit unterschiedlichen Reportern und Sprechern. Sie hatte sich jedes der Videos mehrmals angesehen.

Jetzt gab sie also Schlagwörter ein, bei denen sie sich ganz sicher war, dass keines der Unfallvideos auf dem Bildschirm auftauchen würde. Während sie die Wörter eintippte, hatten es sich Mia, ihre Brüder und Olivia auf der grauen Stoffcouch bequem gemacht, während ihr Finger immer noch über dem Startbutton schwebte.

Sie hatte kein Problem damit, anderen zu zeigen, was sie früher einmal gekonnt hatte. Wie hart sie gearbeitet hatte und wie makellos sie über das Eis geglitten war. Die Performance, die sie gleich abspielen würde, war eine ihrer besten gewesen und sie hatte dafür den ersten Platz bei den Nationalmeisterschaften gewonnen. Sie hatte eben ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert gehabt und es war kurz vor dem schrecklichen Unfall gewesen. Izzy und Mom waren dort gewesen, um sie anzufeuern. Es störte sie wirklich nicht, dieses Video abzuspielen, sie wusste nur ganz genau, welche Frage am Ende erneut auftauchen würde: „Warum hast du damit nur aufgehört?" Es war nicht das erste Mal, dass die Leute sie diese Frage doppelt oder sogar dreifach stellten und jedes Mal trafen sie die Worte wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie hatte schließlich nicht freiwillig aufgehört.

Letztlich packte sie der Stolz, den sie empfand, als sie daran dachte, dass diese Performance monatelange Arbeit gekostet hatte und sie sie nicht perfekter hätte vorführen können, also drückte sie auf den Startbutton und gab Mia die Fernbedienung zurück. Anders als die anderen setzte sie sich allerdings nicht auf die Couch, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Blick vom Bildschirm, konnte es aber nicht lassen, das Video in der Spiegelung der Glasscheibe eines Bilderrahmens zu verfolgen.

Sie war sich nicht einmal sicher, wie das Stück hieß, zu dem sie ihre Performance gehalten hatte, denn ihr Trainer hatte es herausgesucht und ihr geschickt und sie hatte es sie tagelang ohne Unterlass angehört, bis sie jeden Ton und jeden Takt auswendig kannte, um dann an ihrer Aufführung dazu arbeiten zu können.

Uns jetzt spürte sie bei jedem einzelnen Ton, bei jedem Sprung, den sie auf dem Bildschirm vollbrachte, jeder noch so kleine Bewegung, wie ihre Muskeln unwillkürlich zuckten, und tun wollten, was sie ihnen zu jedem einzelnen Ton des Musikstückes eingeschweißt hatte, zu tun. Sie merkte, wie sich ihre Haltung anspannte, ihre Schultern sich automatisch zurückzogen, ihr Rücken sich durchstrecken wollte und ihr Kinn sich anhob.

Für sie hatte sich eislaufen immer wie fliegen angefühlt. Besonders, wenn das Eis ganz frisch geglättet gewesen war und noch keine Rillen von anderen Eisläufern Unebenheiten geschaffen hatten.

Es war wie fliegen.

Manchmal war es ihr vorgekommen, als würde sie die Schwerkraft überwinden, wenn sie Doppel- oder sogar Dreifachrotationen in ihren Sprüngen geschafft hatte. Wenn sie in den unwahrscheinlichsten Positionen über das Eis geglitten war und ihren Balancepunkt auf den Millimeter genau gefunden hatte.

Sie war gut gewesen. Sie war so unfassbar gut gewesen und sie hatte es geliebt, so gut in etwas zu sein.

Eislaufen fühlte sich an, wie fliegen. Und daran zu denken, trieb ihr die Tränen in die Augen und sie versuchte schnell, sie wegzublinzeln. Die Türe zum Eiskunstlauf war ins Schloss gefallen und würde sich nie, nie wieder öffnen lassen.

„Das ist sehr beeindruckend", sagte Olivia, gegen Ende der Performance und drehte sich zu ihr. „Es ist wirklich schade, dass du damit aufgehört hast."

„Also, wenn ich sowas könnte, würdet ihr mich nur noch bei Olympia sehen", meinte Mia. „Ich würde damit auf jedem Eislaufplatz angeben! Überall."

Sie schmunzelte, weil sie sich an die Zeit erinnerte, an der sie mit ihren Freunden tatsächlich im Winter alle Eislaufplätze abgeklappert und zwischen den laufenden Menschen kleine, improvisierte Vorstellungen vorgeführt hatten, bis diese ihnen etwas mehr Platz gemacht hatten, sodass sie zu dritt, zu viert oder zu fünft die ganze Eisfläche für sich alleine gehabt hatten und bewundert worden waren.

Sie vermisste die Handykameras, die auf sie gerichtet gewesen waren, vermisste es, keine Narbe im Gesicht zu haben, vermisste den Applaus und den Jubel der Menschen.

Sie vermisste es, etwas Besonderes zu sein.

Olivia klatschte in die Hände, schaltete den Fernseher aus und stemmte sich von der Couch. „Also, wer will Schokokuchen? Ich habe extra einen vom Bäcker geholt."

Drei eifrige Hände schossen von der Couch aus nach oben und sie fand, dass die drei plötzlich wieder wie kleine Kinder aussahen.

Olivia verschwand in die Küche, um den Kuchen aufzuschneiden und die vier wanderten zurück ins Esszimmer. Kurz bevor Olivia zurückkam, stand sie auf, und gab vor, sich noch etwas zu trinken zu holen. Sie hielt Olivia, die Teller und Gabeln in der einen und den aufgeschnittenen Kuchen in der anderen Hand balancierte, lächelnd die Türe auf und schlüpfte in die Küche.

Sie war erleichtert, als sie für einen Augenblick lang alleine war. Es war eine ganze Weile her, seit sie sich eine der Aufnahmen ihrer Auftritte angesehen hatte. Es hatte ihr nicht gut getan, an etwas festzuhalten, das losgelassen werden wollte.

Sie hielt ihr Glas unter den Wasserhahn und füllte es. Sie trank einen Schluck. Dann noch einen. Und noch einen. Plötzlich war das Glas leer und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich zu Hause in ihrem Bett verkriechen zu können. Ihr Gesicht brannte heiß und ihr Puls raste. Oder war es nur Einbildung? Sie legte zwei Finger an ihr Handgelenk, dort, wo sie ihren Puls immer deutlich spüren konnte.

Eins, zwei, drei, vier, fünf...

Nein, er raste wirklich. In ihrer Brust prickelte es und ihr wurde übel. Sie schloss die Augen und versuchte die Panik wegzuatmen. Es war nicht das erste Mal, dass ihr das passierte, es passierte oft, wenn sie daran dachte, was geschehen war.

„Hey."

Sie fuhr erschrocken herum und stieß dabei das leere Wasserglas um, das über die Arbeitsplatte in die Spüle rollte.

„Verdammt, du hast mich erschreckt", keuchte sie, presste sich eine Hand gegen die Brust und zwang sich ein belustigtes Lächeln auf die Rippen.

Er lächelte. „Tut mir leid. Meine Schwester beschwert sich, weil Mom auf die Servietten vergessen hat." Er begann in verschiedenen Schubladen zu kramen und sie überlegte, ob jetzt der perfekte Zeitpunkt war, um sich zu entschuldigen und nach Hause zu gehen. Sie fühlte sich Hundeelend und sie wusste, dass dieses beklemmende Gefühl in ihrer Brust zurückkommen würde, würde sie es nicht zulassen, aber wenn sie es zulassen würde, würde sie wieder in Tränen ausbrechen und nicht auf die hübsche, dramatische, filmreife Art, sondern die hässliche, die wehtat und bei denen sich ihr ganzer Körper verkrampfte, bis er schließlich erschöpft nachgab und sie auf dem kühlen Badezimmerfußboden, unfähig sich zu bewegen, einschlafen würde.

„Du hättest nicht aufhören sollen", sagte er plötzlich und riss sie aus ihren erbärmlichen Gedanken. Sie würde jetzt ganz bestimmt nicht wie ein Baby nach Hause laufen und weinen. „Mit dem Eislaufen."

„Ach ja?", fragte sie und versuchte, nicht ganz so nervös und außer Atem zu klingen, wie sie sich in Anbetracht ihres rasenden Pulses fühlte.

„Wenn man so ein Talent hat und jahrelang dafür trainiert hat, schmeißt man das nicht weg." Sie hätte ihm gerne gesagt, dass es nicht bloßer Interessensverlust war, der sie daran hinderte, je wieder das Eis zu betreten, denn diese Erklärung klang sogar für sie absolut lächerlich. Sie wusste, wie gut sie gewesen war und wie weit sie es hätte bringen können, und sie hätte nicht einmal aufgehört, wenn sie das Interesse am Eiskunstlauf tatsächlich verloren hätte (was, wie sie sich sicher war, niemals passieren würde), denn was sie vorangetrieben hätte, wäre das Leben gewesen, das sie durch den Eiskunstlauf hätte haben können. Die ganzen Wettbewerbe, die Auftritte, die Zeitungsartikel, das Geld.

Anders zu sein, als alle anderen, heraus zu stechen aus der Menge.

Aber mittlerweile fand sie, dass ihr Leben mehr wert war als alles Geld und alle Aufmerksamkeit der Welt, und dass das Eislaufen durchaus ihren Tod bedeuten konnte, wusste sie inzwischen auch.

„Tja, ich bin sehr ehrgeizig", erwiderte sie und versuchte fröhlich zu klingen. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und prüfte in der Spiegelung der Mikrowelle, ob es so gut aussah, wie es das in ihrer Vorstellung tat. Tat es. Wenn sie sich selbst fremd gewesen wäre, hätte sie das Chaos in ihrem Inneren nie vermutet. „Ich finde bestimmt ein anderes Hobby, in dem ich richtig gut werde."

Er lächelte. „Ist es nicht ein bisschen wagemutig, zu glauben, dass Gott dir mehr als nur ein Wahnsinnstalent geschenkt hat?" Sie blinzelte ihn an und wich seinem Blick durch den Spalt in der Türe Richtung Esszimmer aus, wo Mia, Olivia und Kody am Tisch saßen und den Schokoladenkuchen aßen, während sie sich angeregt unterhielten.

Ihr gefiel diese Familie. Sie schien so bodenständig und fühlte sich sicher an. Kein Grund, sich aufzuregen. Es war doch alles gut. Sie war hier bei Mia und würde gleich Schokoladenkuchen essen und dann Trüffel kennen lernen und sie würden noch zusammen ihre Chemieunterlagen durchgehen.

Langsam merkte sie, dass sie ruhiger wurde und ihr Blick traf wieder seinen. Er lächelte.

„Wenn du nach deinem Talent suchst, das war es. Und so eines bekommst du nicht ein zweites Mal."

„Wie ermutigend."

Er lachte leise. „Naja, jeder hat doch etwas, in dem er richtig gut ist, oder nicht? Ich hab das Fliegen. Du das Eislaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da draußen jemanden gibt, der ein so unverschämtes Glück hat und in mehreren Dingen ausgezeichnet ist."

Sie musste grinsen. „Hast du dich gerade selbst als ausgezeichnet bezeichnet?"

„Nur was das Fliegen angeht. Sonst bin ich ein hoffnungsloser Fall, frag meine Mom."

Wieder lachte sie. „Du wohnst in New York, oder?", fragte sie dann und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. Er hatte die Servietten gefunden und hielt sie in seinen Händen, aber sie war noch nicht bereit war, die Küche zu verlassen und sich weiteren Fragen über ihre verflossene Karriere als Eiskunstläuferin zu stellen. Und Mia konnte viele Fragen stellen, wenn sie wollte.

„Ja, das stimmt. Weißt du das von Mia?"

Sie nickte. „New York ist... doch ziemlich weit weg."

Er schmunzelte. „Ziemlich, ja."

„Vermisst du deine Familie nicht manchmal? Oder die Gegend in der du aufgewachsen bist?"

Er schien einen Augenblick nachzudenken. „Manchmal. Doch, schon. Aber ich war lange Zeit am Flughafen in Anchorage stationiert." Beim Namen ihrer Heimatstadt rutschte ihr das Herz in die Hose. Den Namen dieses hübschen und sogleich schrecklichen Ortes aus seinem Mund zu hören, war erschreckend. „Kody ist noch immer dort stationiert, meine Eltern auch, aber sie fliegen mit einer anderen Airline als ich es vor meinem Umzug getan habe. Ich mochte die Airline nicht, bei der ich gearbeitet habe, und wollte mich bei anderen bewerben, aber mein Favorit war in New York stationiert. Man wird immer lieber genommen, wenn man auch tatsächlich in der Nähe der Basis wohnt und bei meinem Vorstellungsgespräch, für das ich extra nach New York geflogen bin, haben sie mich gefragt, ob ich bereit wäre, dorthin zu ziehen und da habe ich Ja gesagt, auch, wenn ich noch nicht unbedingt davon überzeugt war. Aber ich wurde angenommen und..." Er stieß ein verlegenes Lachen aus und senkte den Blick. „Tut mir leid, du hast nur gefragt, ob ich mein früheres Umfeld vermisse."

Sie lächelte, weil es sie nicht störte, ihm zuzuhören. Diese Familie redete gerne, wie ihr schien, aber er hatte eine besonders angenehme Art zu reden, drückte sich recht gewählt aus und hatte eine ruhige Stimme. Er hätte vermutlich seine Einkaufsliste vortragen können und sie hätte ihm gerne zugehört, dachte sie.

„Also, bist du nach New York gezogen", meinte sie, weil sie ihn ermutigen wollte, weiterzureden und er nickte.

„Meine Eltern sind dabei total hinter mir gestanden und haben mich unterstütz. Beim Umzug, der Wohnungssuche, sie haben mir beim Einrichten geholfen und mir einen Wagen besorgt..." Sie musste unwillkürlich lächeln, aber sie spürte, wie sich Wehmut in ihr breit machte, weil sie genau wusste, dass ihre Eltern das nie für sie tun würden. Ihre Mom hätte sie zwar unterstützt, aber nur die ersten paar Tage, dann wäre sie eingeknickt und eine ihrer Episoden hätte sie übermannt. Und Adam interessierte sich vermutlich nicht genug für sie, um ihr bei einer so großen Sache zu helfen. Wenn sie jemals einen solchen Plan würde in die Tat umsetzen wollen, würde sie es alleine tun müssen.

„Mia war ziemlich enttäuscht, als ich weggezogen bin", fuhr er fort. „Und ich muss zugeben, dass es Tage gibt, an denen ich bereue, nach New York gezogen zu sein, und nicht eben mal in mein Auto steigen und nach Hause fahren kann. Wenn ich einen wirklich bescheidenen Tag hatte und einfach meine Familie sehen möchte. Ich kann sie dann höchstens über einen Bildschirm sehen, wenn sie noch nicht schlafen."

Sie nickte. Nicht, weil sie sich schon mal in einer ähnlichen Situation wiedergefunden hätte, sondern einfach, weil sie wollte, dass er weiterredete. Dass dieser Augenblick noch ein bisschen länger andauerte, denn ob es nun daran lag, dass er sie ablenkte oder daran, dass er selbst eine so intensive Ruhe ausstrahlte, ihr Puls hatte sich völlig normalisiert, die Übelkeit war verschwunden und ihr Lächeln war nicht mehr gespielt.

„Aber andererseits ist New York ziemlich cool", grinste er. „Du kannst jederzeit einkaufen, wann immer dir der Sinn danach steht, was ziemlich praktisch ist, wenn man um drei Uhr nachts von seinem Flug nach Hause kommt und nichts zu essen im Kühlschrank hat." Er betrachtete sie einen Augenblick lang. „Warst du schon mal dort?"

Sie schüttelte den Kopf. Abseits ihrer Tourneen war sie niemals außer Land gewesen, das hätte sich ihre Mom nicht leisten können und ihr Reisepass war seit einem Jahr abgelaufen.

„Nein, aber ich würde gerne. Ich will die Freiheitsstatue mit eigenen Augen sehen und den Time Square und... das Empire State Building", zählte sie wahllos auf und beide lachten. „Es gibt viele Orte, die ich gerne sehen würde. Nicht nur in New York, sondern... überall auf der Welt." Nur würde es dazu vermutlich niemals kommen. Zum Reisen brauchte man Geld. Und das Bild von ihr an der Kasse eines Supermarktes vermutlich auch noch hochschwanger, weil sie sich wieder einmal Hals über Kopf verliebt und nicht aufgepasst hatte, loderte in ihrem Kopf.

„Wo auch immer du mal hinwillst, ich wette ich kann die die besten Restaurants und Cafés empfehlen. Mein Job bringt mich an die entlegensten Ecken dieser Welt und das Letzte, was man beim Reisen möchte, ist ungenießbares Essen und ein scheußlicher Kaffee."

„Das merke ich mir", lachte sie. „Vielleicht komme ich irgendwann darauf zurück. Guter Kaffee ist wirklich absolut lebensnotwendig."

Die Türe zur Küche ging auf und Mia lugte herein. „Was macht ihr denn die ganze Zeit hier drinnen? Versteckt ihr euch vor uns?"

„Natürlich", erwiderte er sofort, so ernst, dass sie erst gar nicht begriff, dass er einen Scherz machte. „Wir haben einstimmig entschieden, dass es uns bei euch zu langweilig war." Mia legte den Kopf schräg und verdrehte lächelnd die Augen. „Hannah, wollen wir noch lernen?"

Sie nickte, obwohl ein Teil von ihr lieber hier unten in der Küche geblieben und mit ihm geredet hätte. Aber sie wusste, dass sie einiges in Chemie zu wiederholen hatten; jetzt zu lernen war nur vernünftig. „Gute Idee."

Sie verschanzten sich in Mias Zimmer, und weil Trüffel sich in seinem Haus versteckte und sich nicht zeigen wollte, breiteten sie alle Unterlagen auf dem Boden aus und lernten geschlagene drei Stunden. Mias Mutter klopfte zwei Mal an. Das erste Mal brachte sie den beiden zu trinken und beim zweiten Mal Obstschälchen mit Trauben, Nüssen und ein bisschen Schokolade.

Sie fand es angenehm wie sehr Mias Mutter die beiden versorgte, aber als sie es anmerkte, meinte Mia, dass sie das tat, um ihr schlechtes Gewissen abzuschütteln, weil sie und Mias Dad oft fünf Tage am Stück arbeiteten und nicht zu Hause waren. Und seit Kody und Jason ausgezogen waren, war Mia häufig tagelang ganz alleine in dem großen Haus, wenn sich die Arbeitspläne ihrer Eltern überschnitten.

„Aber es hat auch seine guten Seiten", hatte sie gelächelt, nachdem sie angemerkt hatte, wie einsam es manchmal war. „So kann man immer heimliche Partys feiern und die Sauerei beseitigen, bevor die Eltern wieder kommen."

Als es draußen dunkel war und die beiden keine einzige Formel mehr in ihre Köpfe prügeln konnten, trabte Mia nach unten und fragte Kody, ob er sie nach Hause fahren konnte, aber er gab ein so klägliches Stöhnen von sich und hatte sich so faul auf der Couch geräkelt, dass Jason sich als Fahrer angeboten hatte. Da war Kody aufgesprungen und hatte heftig dagegen protestiert, dass Jason seinen Wagen fuhr, hatte sich angezogen und ihr bereitwillig die Haustüre aufgehalten.

Sie hatte sich bei Olivia für das Essen bedankt, Mia zum Abschied umarmt und Jason angemessener Weise nur angelächelt. Er hatte zurück gelächelt und die Hand gehoben.

„Wow", meinte sie beeindruckt, als sie Kodys Wagen genauer betrachtete. „Ein... großes Auto."

Er lachte. „So hat es noch nie jemand formuliert."

Es war ein schneeweißer Porsche, zwar nicht das Modell, das sie sich in ihren Träumen wünschte, aber es kam sehr nahe ran. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und war sich sicher, noch nie in ihrem Leben in einem Auto gesessen zu haben, das so geräumig und luxuriös war. Es hatte sogar eine weiße Ambientebeleuchtung im Fußraum und auf dem Armaturenbrett.

„Du weißt, wo du hin musst?", stellte sie sicher, als er zielstrebig aus der Ausfahrt fuhr und den Porsche in Richtung Hauptstraße lenkte.

„Ich hab Mia schon oft bei Andrew abgesetzt."

Sie kniff irritiert die Augen zusammen. „Wieso sollte ich zu Andrew wollen?"

„Ist er nicht dein Stiefbruder?"

„Wann zur Hölle hat Mia denn herumerzählt, dass Andrew mein Stiefbruder ist?"

Kody lachte. „Als du und Jason in der Küche ein Komplott gegen uns geschlossen habt." Er lehnte sich zurück und hatte nur noch eine Hand auf dem Lenkrad, den anderen Arm hatte er über das heruntergelassene Fenster gelegt.

„Es war kein Komplott. Nur eine Mischung aus einer Serviettenjagd und einem guten Gespräch."

Kody lachte wieder. „Wenn ich das nur glauben könnte." Diese Bemerkung verwunderte sie ein klein wenig, aber sie wollte nicht nachfragen.

Den Rest der Fahrt über schwiegen sie, weil sie vom Lernen recht müde war und sie merkte erst, dass sie weggenickt war, als Kody sie weckte und sagte, dass sie da waren.

„Danke", gähnte sie.

„Kein Ding", lächelte er. „Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen."

„Gleichfalls." Sie lächelte, nahm ihre Tasche und schwang sich aus dem Auto. „Und... das ist wirklich der coolste Wagen, den ich je gesehen habe", ließ sie ihn noch wissen, bevor sie die Türe zuschlug und Kodys Lachen im Wagen verschwand.

*

Als sie ihre Mom besuchte, läutete bereits der Herbst ein. Obwohl es in anderen Teilen der USA noch so warm war, dass die Menschen in kurzärmligen T-Shirts und Shorts herumlaufen konnten und sich trotzdem am liebsten die Haut vom Körper geschält hätten, bekamen die Bäume schon braune Blätter und die Tage wurden zumindest so kühl, dass es ratsam war, immer eine dünne Jacke oder etwas zum Überwerfen dabei zu haben.

Sie fuhr direkt nach der Schule in die Klinik. Adam hatte sie gesagt, dass sie an einem Gruppenprojekt in Englisch arbeitete und sich nach der Schule mit ein paar Leuten traf. Sie wollte nicht, dass er es wusste, wobei sie sich nicht einmal sicher war, warum das so war. Vielleicht, weil sie verhindern wollte, dass Izzy davon Wind bekam. Ihre Schwester hätte sie nur mit diesem ganz eigensinnigen zu dreißig Prozent verachtenden, dreißig Prozent enttäuschten, und dreißig Prozent wütenden Blick angesehen. Die letzten zehn Prozent konnte sie nie deuten.

Sie hatte am Vortag in der Klinik angerufen und sich erkundigt, ob ihre Mom zu gegebener Zeit besucht werden durfte. Das letzte Mal war sie vor knappen zwei Monaten hier gewesen. Zum Abschied hatte ihre Mutter das letzte Mal gemeint, sie solle nicht so bald wieder kommen, es mache sie nur fertig ihre Tochter zu sehen, aber nicht bei ihr sein zu können. Zu sehen, was sie verpasste. Dass sie ihre Ruhe brauchte und nicht um sonst in der Klink war. Dass es sie an das stressige Leben außerhalb der Klinikwände erinnerte.

Sie hatte versucht, diese Worte nicht zu persönlich zu nehmen, aber ein wenig hatte es doch wehgetan und sie verstand, warum ihre Schwester sich weigerte, hier her zu kommen.

Als sie ihre Mom an diesem Tag in dem großen Besuchszimmer an einem der Tische sitzen und auf sie warten sah, bemerkte sie erleichtert, dass sie einen guten Tag erwischt hatte, denn ihre Mom stand auf, lächelte breit und schloss sie in ihre Arme. Ihr kamen beinahe die Tränen, aber sie erlaubte sich nicht, zu weinen. Es waren zwei Monate her und so schrecklich es zu Hause auch gewesen war, sie konnte nicht leugnen, dass sie ihre Mom vermisste. Zumindest die Mom, die sie liebevoll in die Arme schloss.

Ihre Mom ließ sie los, nahm ihr Gesicht in beide Hände und lächelte.

„Du wirst von Mal zu Mal hübscher. Was habe ich nur getan, um ein so hübsches Kind zu verdienen?"

Sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch und sie griff nach den Händen ihrer Mom. „Wie geht es dir?"

„Gut. Sehr gut", strahlte ihre Mom. Izzy hatte Moms Augen. „Es tut gut, eine Zeit lang keine Verantwortung tragen zu müssen."

Sie meinte die Verantwortung, zwei Teenager großzuziehen, deren Geburt vermutlich mehr einer manischen Episode zuzuschreiben war, als tatsächlichem Mutterwunsch. Die Verantwortung, einen Job länger als drei Monate zu behalten, einkaufen zu gehen, die Wohnung sauber zu halten, morgens aufzustehen... All das schaffte sie nicht.

„Also... kommst du bald nach Hause?", fragte sie und war sich nicht sicher, ob sie das wollte. Einerseits wollte sie nicht weiter bei Adam und Julia bleiben, weil sie jeden Tag, der verstrich, das Gefühl hatte, dass sie den beiden lediglich eine Last war, obwohl keiner von beiden direkt dieses Gefühl zu vermitteln schien. Sie wusste einfach, dass es so war.

Von Andrew ganz zu schweigen. Er machte jeden Tag dumme Bemerkungen (entweder über ihre Narbe, die Art, wie sie sich kleidete, die ersten Noten, die sie nach Hause gebracht hatte und die herausragend gewesen waren, die Bücher, die sie las, das Essen, das sie aß, wenn sie Julia Arbeit abnehmen und ein bisschen sauber machen wollte, einkaufen ging oder die Wäsche aufhängte) und warf ihr ständig einen so verachtenden und zu gleich süffisanten Blick zu, dass sie genau wusste, was er von ihr hielt. Er sah sie so an, wie sie vor einer Woche die Mottenlarven im Mehl angesehen hatte, bevor sie die ganze Tüte in den Mülleimer geworfen hatte.

Wieder bei ihrer Mom zu wohnen hätte jedoch bedeutet den ganzen Luxus zu verlieren, den sie bei Adam hatte. Morgens in die Schule gefahren zu werden, nicht selbst kochen zu müssen, sich nicht von Fertiggerichten ernähren zu müssen oder sich Sorgen um die unbezahlten Rechnungen zu machen. Ständig in Angst vor dem nächsten Wutausbruch oder der nächsten Episode ihrer Mutter zu haben, weil sie ihre Medikamente nicht nahm, weil die ihre Mom angeblich müde und langsam machten und ihr das Gehirn vernebelten.

„Ich bleibe noch eine Weile hier", sagte ihre Mom und sie versuchte die aufkeimende Erleichterung zu unterdrücken. Sich zu wünschen, dass die eigene Mutter länger in einer psychiatrischen Klinik blieb, als nach Hause zu kommen, war doch völlig undankbar, oder nicht?

„Wie ist es in der Schule?", fragte ihre Mom dann.

„Jahrgangsbeste. Bist jetzt", lächelte sie und ihre Mom strahlte.

„Ich wusste doch, dass ich nicht nur eine wunderschöne, sondern auch schlaue und ehrgeizige Tochter habe. Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz."

Sie merkte, wie ihr Lächeln steifer und milder wurde.

„Danke, Mom... Ich... wir vermissen dich." Es entsprach nicht unbedingt der ganzen Wahrheit, unter anderem, weil sie genau wusste, dass Izzy ihre Mom kein bisschen vermisste, aber es fühlte sich auf jeden Fall wie das Richtige an, das man sagen sollte.

„Ich vermisse dich auch", lächelte ihre Mom. „Aber es tut so gut, hier zu sein. Es ist anstrengend, eine Mutter zu sein, weißt du? Eines Tages wirst du es bestimmt verstehen." Sie nickte zögerlich. „Und jetzt erzähl mal, ob es einen Jungen in deinem Leben gibt."

Sie blinzelte kurz irritiert. „Nein... Nein, da ist niemand."

„Ach, komm. So ein hübsches Mädchen an einer neuen Schule muss doch zumindest einen Jungen haben."

Sie überlegte kurz, ob sie die gute Laune ihrer Mom riskieren wollte, wagte es aber dann doch, weil sie fand, dass sie zu ihrer Schwester halten musste.

„Willst... Willst du gar nicht wissen, wie es Izzy geht?"

„Na, ich nehme an, es geht ihr gut, sonst hättest du es mir doch gesagt, oder?", lachte ihre Mom und verstand offenbar nicht, worauf sie hinauswollte, aber sie wollte sie nicht aufregen.

„Ja... Ja, du hast recht."

„Und hast du dir schon überlegt, auf welches College du möchtest? Nächstes Jahr wird es schon Zeit für die Bewerbung."

Sie atmete tief durch. „Nein, habe ich nicht."

„Ich finde ja, du solltest wieder mit dem Eislaufen anfangen. Du bist so talentiert."

Sie nickte und sah auf die graue Tischplatte. „Du weißt, dass ich es nicht kann." Ihre Stimme war plötzlich kühler als beabsichtigt.

Ihre Mom tätschelte ihre Hand. „Ich weiß, dass du Angst hast, mein Schatz."

„Ich habe keine Angst. Es... es geht einfach nicht! Mom, ich-" Wut und Unglaube durchströmten ihren Körper, als sie ihrer Mom fest in die Augen sah. „Mein Rücken u-und mein Becken sind durch den letzten Unfall nicht mehr kräftig genug. Bein Körper ist völlig kaputt. Viel zu instabil. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn mich meine erste Schwangerschaft nicht in den Rollstuhl befördert."

„Das wird wieder", sagte ihre Mom zuversichtlich und die Wut brodelte unaufhörlich in ihr, weil ihre Mom sich weigerte zu akzeptieren, was Realität war. Weil ihre Mom ihren Unfall mit einem Schulterzucken abtat und fand, dass es nur eine Kleinigkeit war, die sich irgendwann in Luft auflösen würde. „Irgendwann wirst du wieder eislaufen. Alles andere wäre Verschwendung deines Potentials. Ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter durchschnittlich wird."

Ihre Mom meinte es nur gut, das wusste sie, aber als sie damals im Krankenhaus gelegen hatte, hatte ihre Mom sie nur drei Mal besucht und gemeint, dass sie keine Zeit hatte, weil sie Doppelschichten halten musste, um die Krankenhausrechnungen zu begleichen. Dass sie vielleicht einen Kredit würde aufnehmen müssen, aber die Bank hatte ihr keinen gegeben, weil sie zu häufig arbeitslos war. Ihre Mom hatte sich von irgendjemandem Geld geborgt, aber vermutlich noch immer nicht zurückgezahlt.

Izzy war fast die ganze Zeit bei ihr gewesen. Zumindest konnte sie sich daran erinnern, dass Izzy dagewesen war, als sie nach den beiden Operationen aufgewacht war und sie wusste noch, dass sie Izzy immer hatte nach Hause und in die Schule schicken müssen, weil sie sonst rund um die Uhr an ihrem Bett gesessen und mit ihr geredet, ihr vorgelesen oder mit ihr über Mom gelästert hätte.

Lauren und Benny waren auch hin und wieder vorbeigekommen, ihr Eislauftrainer auch. Cole war auch zwei Mal da gewesen.

„Du willst doch, dass es dir besser geht, oder?", fragte sie ihre Mom plötzlich und war sich nicht einmal sicher, woher diese Frage genau kam. „Ich meine... du gibst dir doch Mühe, oder? Du willst diese Krankheit unter Kontrolle bringen, richtig?"

„Natürlich, Hannah, Schatz." Ihre Mom sah beinahe entrüstet aus. „Es ist nur nicht so leicht, wie du denkst. Es ist sogar sehr, sehr schwierig. Du hast Glück, wenn ich vor deinem achtzehnten Geburtstag wieder in der Lage bin, nach Hause zu gehen. Weißt du, wie schwer es ist? Sich selbst zusammenzuhalten?" Ihre Mom lachte verächtlich auf. „Du bist noch zu jung, um es zu verstehen. Aber du solltest dich zumindest freuen, dass es mir hier besser geht!"

Sie nickte nur stumm und mied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. „Tut mir leid."

Nach diesem ernüchternden Gespräch blieb sie nicht mehr sonderlich lange. Mit ihrer Mom zu reden, war, als würde man sich ständig auf einer dünnen Eisschicht bewegen, die bei einem falschen Schritt einbrechen würde. Es war schlicht anstrengend. Und so sehr sie ihre Mom auch liebte, das ewige hin und her, die Schwankungen zwischen den depressiven und manischen Episoden waren so auslaugend, zermürbend und schrecklich, dass sie sich wünschte, ihre Mom würde für immer in der Klinik bleiben.

Doch gleichzeitig fühlte sie sich für diese Gedanken absolut miserabel, denn ihre Mom konnte nichts für diese schreckliche Krankheit. Aber sie hätte zumindest ihre Medikamente nehmen können.

Die Lithiumtherapie half, aber ihre Mom war stur und glaubte jedes Mal, es ohne Medikamente zu schaffen und genau dann war es immer am schlimmsten, denn sie selbst sah nicht, wie sie sich benahm, was sie tat und was sie sagte. Sie bemerkte den Unterschied nicht und wenn sie ihr sagte, sie müsse ihre Medikamente wieder nehmen, wurde sie wütend. Wütend war kein Ausdruck für das, was sie wurde. Sie konnte ganz und gar angsteinflößend werden.

Sie wusste noch, als ihre Mutter nach Jerusalem fliegen wollte, weil sie geglaubt hatte, Gott würde dort auf sie warten. Sie war acht Jahre alt gewesen und es war das erste Mal gewesen, dass sie mit Izzy ganz alleine gewesen war.

Sie war mit ihr zu Ms Davis gegangen und sie hatte auf die beiden aufgepasst, bis ihre Mom zurückgekommen war und sich daraufhin fünf Tage in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte. Sie hatte in der Zeit Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mom genommen, und war immer brav nach der Schule im Supermarkt gewesen und hatte Lasagne oder Risotto aus dem Kühlregal gekauft, das Billigste, was sie gefunden hatte. Sie hatte sich um Izzy gekümmert und als ihre Mom am sechsten Tag zum ersten Mal wieder aus ihrem Zimmer gekommen war und sich geduscht hatte, hatte sie gedacht, es würde bergauf gehen. Bis ihre Mom einen Blick in ihre Geldbörse geworfen und sie angeschrien hatte, was für eine undankbare Hure sie war, ihre eigene Mutter zu bestehlen.

Es war die erste, aber nicht die letzte Ohrfeige gewesen, die ihre Mutter ihr verpasst hatte, bevor sie sie und Izzy in ihr Zimmer gezerrt und eingesperrt hatte. Izzy hatte geweint und sie hatte ihre kleine, sechsjährige Schwester in den Armen gehalten. Sie hatte Izzy zu beruhigen versucht, die nicht verstanden hatte, was los gewesen war. Sie hatte es selbst auch nicht verstanden.

Sie wusste nicht, wie lange sie mit Izzy in dem Zimmer eingesperrt gewesen war, bestimmt ein paar Stunden und als ihre Mom die Türe wieder aufgeschlossen hatte, hatte sie vor Angst zu weinen begonnen.

Aber ihre Mom war nicht wütend gewesen. Ihre Mom hatte gelächelt. Liebevoll und freundlich und hatte die beiden gebückt zu sich gewinkt, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein.

„Kommt mit. Kommt in die Küche. Kommt, kommt, ich habe eine Überraschung!" Ihre Mom hatte so aufgeregt gestrahlt, aber trotzdem hatte sie noch einen Augenblick gebraucht, bevor sie sich aus dem Zimmer getraut hatte und Izzy hatte ihre Hand gehalten und war dicht hinter ihr geblieben.

Das ganze Wohnzimmer war aufgeräumt worden und der Esstisch war gedeckt gewesen. Ein riesiger Stapel mit Pfannkuchen, Ahornsirup, Früchten in kleinen Schälchen und Kerzen hatten ihn geziert.

„Setzt euch, Kinder, setzt euch!", hatte ihre Mom aufgeregt gemeint und die Mädchen hatten sich auf dem Tisch niedergelassen und die Anspannung war von ihr abgefallen, als sie sich sicher gewesen war, dass ihre Mom wieder normal war. Vielleicht hatte sie sich ihren Wutausbruch und die Ohrfeige ja auch einfach nur eingebildet?

Von da an hatte es jeden Tag ein üppiges Frühstück gegeben. Jeden Tag hatten sie sich am Abend einen Film angesehen. Ihre Mom hatte sie und Izzy mit Spielsachen und Geschenken überhäuft, die sie sich eigentlich nicht hatte leisten können. Sie hatte einen neuen Job bekommen. Jeden Abend hatte sie den beiden vorgelesen. Jeden Tag hatte ihre Mom sie und Izzy zur Schule gebracht und wieder abgeholt...

Bis ihre Mom es nach knappen zwei Wochen nicht mehr getan hatte. Sie hatte gewusst, dass diese glückliche Phase vorbei gewesen war, als ihre Mom sie und Izzy plötzlich nicht mehr von der Schule abgeholt hatte. Gut, sie hatte es noch nicht gewusst, ihre Mom hätte auch bei der Arbeit aufgehalten worden sein können, aber sie hatte es schon zu oft mitgemacht, zu oft erlebt und hatte gewusst, wie es mit ihrer Mom lief. Sie hatte mit Izzy zusammen den Bus genommen und ihre Mom Zuhause in ihrem Bett vorgefunden. Mom hatte nicht einmal reagiert, als sie mit ihr gesprochen hatte.

Und so war alles wieder von vorne losgegangen. Ein ewiger Kreis der manischen und depressiven Episoden, die sich mit einem handabklatschen abgewechselt und das Steuer übernommen hatten, wann immer es ihnen gepasst hatte.

In den letzten Jahren hatte sie die Vorboten der Umschwünge zu erkennen gelernt, aber das hatte es nicht weniger schwierig gemacht. Das schlimmste war, dass sie ihrer Mom jedes Mal geglaubt hatte, wenn sie versprochen hatte, dass es diesmal anders sein würde. Dass sie sich unter Kontrolle hatte und die Medikamente nehmen und in eine Therapie gehen würde. Dass sie ihren Job ernst nahm und ihre Pflichten als Mutter und ihre Tochter liebte. Zumindest hatte ihre Mom all das getan, bis die nächste Episode nach ihr geangelt und sie wieder in den Abgrund gezogen hatte.

Wenn das passierte, waren sie und Izzy dafür verantwortlich, dass ihre Mom keine Jugend gehabt hatte, dass sie keinen Job behalten konnte und fast ohne Unterbrechung pleite war.

Als sie im Bus auf dem Weg nach Hause war, überlegte sie, welche der drei Mütter, die sie kannte, die echte war. Die manische, die depressive, oder die, die Medikamente nahm, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Nicht, dass sie sich diese Frage nicht schon hunderte Male zuvor gestellt hätte, aber ein Teil von ihr hoffte jedes Mal auf eine Erkenntnis, die nicht kommen wollte.

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