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Die Dunkelheit hatte die Wiese vollständig eingehüllt, als ich mich schließlich erhob. Der Wind war kälter geworden, und die Sterne begannen am Himmel zu funkeln, als ich den schmalen Pfad zurück ins Dorf nahm. Die Geräusche des Abends umgaben mich: das Zirpen der Grillen, das entfernte Bellen eines Hundes, das leise Knarren eines Fensters, das jemand schloss.
Die Häuser wirkten wie stumme Zeugen des täglichen Kampfes, der in ihren Wänden stattfand. Ihre Dächer waren schief, die Fenster mit Brettern vernagelt, doch sie boten Schutz – zumindest vor der Nacht.
Ich erreichte unsere Tür, zog sie leise auf und trat ein.
"Du bist wieder da" Lia stand lässig am Türrahmen gelehnt da und grinste mich an.
"Entschuldige dass ich so lange fort war" ich hing meinen Mantel auf und seufzte erleichtert auf als ich aus den Stiefeln schlüpfte.
"Jetzt musst du mir unbedingt erzählen woher du die Zimtschnecke hast. Ich dachte ich träume noch als ich aufgewacht bin" sagte Lia mit leuchtenden Augen. Was sollte ich ihr nur antworten? Ich wollte ihr nicht die Wahrheit sagen, sie würde sich nur Sorgen machen. Ich entschied mich für eine Halbwahrheit.
"Sie ist ein Geschenk von Reya gewesen. Ihre Körbe haben sich auf dem Markt besonders gut verkauft diese Woche" Ich lächelte Lia an, aber in meinem Herzen schmerzte die Lüge.
"Oh das ist aber lieb von ihr, erinnere mich dass ich ihr beim nächsten mal Danke" antwortete Lia und ging in Richtung Bett. Die Zimtschnecke lag noch genau da, wo ich sie abgelegt hatte.
"Dachtest du die esse ich ohne dich?" fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Das wäre in Ordnung gewesen, ich bin sowieso noch satt" wieder eine Lüge und mein knurrender Magen verriet mich.
"Du bist eine Lügnerin" Lia blickte mich streng an, lächelte dann aber. Wenn sie wüsste... Sie nahm die Zimtschnecke und schnitt sie mit einem stumpfen Messer in der Mitte durch, dann reichte sie mir eine hälfte.
"Lass es dir schmecken" sagte ich und stoß spielerisch mit meiner Zimtschneckenhälfte bei ihr an, als wäre es ein Glas edler Champagner. Ich hob sie an meine Nase und atmete den süßen Duft ein. Es war der Duft von früher, von Geburtstagen, an denen meine Mutter sie mit einem Lächeln überreicht hatte, als wäre sie ein kostbarer Schatz.
Meine Hände zitterten, als ich vorsichtig hineinbiss. Der weiche Teig zerfiel auf meiner Zunge, der Zucker war klebrig und süß, und der Zimt hinterließ eine angenehme Wärme in meinem Mund. Für einen Moment schloss ich die Augen.
Und plötzlich war ich wieder ein kleines Mädchen, saß auf der Wiese mit meiner Mutter und Lia. Wir hatten eine Decke ausgebreitet, und die Sonne schien warm auf unser Gesicht. Meine Mutter hatte die Zimtschnecken aus einer braunen Papiertüte geholt, und wir hatten gelacht, während Lia versuchte, die Glasur von ihren Fingern zu lecken, ohne sich schmutzig zu machen.
Ich öffnete die Augen wieder und schluckte. Die Wiese war verschwunden. Der süße Geschmack war echt, aber die Wärme, die Sicherheit – die gehörten der Vergangenheit an.
"Ava?" Lias Stimme war leise, fast ein Flüstern.
"Ja?"
"Wird es jemals besser?"
Ich sah sie an, und für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Die Wahrheit? Oder das, was sie hören wollte?
"Ja" sagte ich schließlich. "Es wird besser. Irgendwann."
Sie schien mir zu glauben, oder sie wollte es zumindest. Sie lächelte schwach und leckte sich die Reste der Zimtschnecke von den Fingern. Auch ich hatte bereits den letzten Bissen hinuntergeschluckt. Ich werde einen Weg finden um uns hier raus zu holen, ich muss es tun.
Der Rest des Abends verging wie im Flug. Ich schaffte im Haus gemeinsam mit Lia etwas Ordnung und wir aßen noch etwas vom übrig gebliebenen Brot. Bis vor ein paar Wochen hatte ich zumindest das Gefühl gehabt, einen kleinen Beitrag zu leisten. Die Arbeit bei der alten Tuchfärberei im Dorf war nicht viel, aber sie hatte uns über Wasser gehalten. Es waren keine Münzen, die man zählte und stolz in einen Beutel legte – es war eher ein mühsam zusammengesuchtes Kleingeld, das oft nicht einmal für ein ganzes Brot reichte. Aber es war etwas.
Ich hatte Stunden über der dampfenden Farbwanne verbracht, meine Hände rau und fleckig von den Chemikalien, die in die Haut krochen und sie verbrannten. Es war harte Arbeit, und die Bezahlung spottete jeder Beschreibung. Aber ich hatte es getan, weil ich keine andere Wahl hatte.
Doch dann war die Lieferung von Stoffen ausgeblieben, die Werkstatt hatte schließen müssen, und ich war wieder am Anfang gewesen. Die letzten Münzen aus dieser Zeit waren längst aufgebraucht, und der Druck, etwas Neues zu finden, lastete schwer auf mir. Die Zeiten waren für alle schwer, der Krieg hatte die damals einmal starke Wirtschaft beinahe zerstört, die meisten Menschen kämpften um sich über Wasser zu halten.
Als es langsam spät wurde legten wir uns ins Bett und kuschelten uns unter die Decke. Ich wartete, bis ihr Atem wieder ruhig wurde, bevor ich mich erhob und zum Fenster trat. Draußen war die Nacht still, nur der Wind raschelte durch die Blätter. Ich legte die Stirn gegen die kalte Scheibe und dachte an das Plakat, an Reyas Worte, an die Zimtschnecke, die ich nicht hatte stehlen können.
"Gute Nacht kleine Lia" flüsterte ich und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ich drehte mich herum um ebenfalls etwas Schlaf zu finden. Doch in meinem Kopf hallten die Gedanken. Ich wusste, dass wir nicht lange so weitermachen konnten. Und das Plakat, das ich gesehen hatte, kehrte in meine Gedanken zurück. Aber der Preis? Ich schloss die Augen und versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Die Armee war kein Zufluchtsort, kein Ort der Hoffnung. Sie war eine Maschine, die Menschen verschlang, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Ich hatte Geschichten gehört – von Männern und Frauen, die voller Stolz gegangen waren und als Fremde zurückkamen, wenn sie überhaupt zurückkamen.
Und doch ... das Versprechen. Nahrung. Sicherheit. Eine Zukunft. Ich stellte mir Lia vor, wie sie sich an einem Tisch voller Essen die Hände rieb, die Wärme eines Kamins im Rücken. Keine hohlen Wangen mehr, keine traurigen Augen, die mich stumm fragten, warum ich nicht mehr tun konnte.
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