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Die Nacht brachte keine Ruhe. Lia schlief eingerollt unter der dünnen Decke, ihr Atem ruhig und gleichmäßig, aber ich lag wach, die Augen auf das flackernde Licht des kleinen Feuers gerichtet. Meine Gedanken kreisten immer wieder um das Plakat und Reyas Worte. „Manche kommen zurück. Manche nicht."
Was, wenn ich nicht zurückkäme? Was würde dann aus Lia werden?
Ich rollte mich auf die Seite und betrachtete sie. Ihr Gesicht war im Schlaf entspannt, fast kindlich. Dabei war sie mittlerweile schon fünfzehn Jahre alt. Für einen Moment konnte ich mir einreden, dass die Welt außerhalb unserer vier Wände nicht existierte, dass sie sicher war und bleiben würde. Doch der Hunger war echt, die Kälte war echt, und der Krieg war es auch. Schlussendlich schaffte ich es doch noch einmal einzuschlafen.
Ich wachte wieder auf als die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Ritzen der Holzwände krochen. Ich schwang meine Füße aus dem Bett und stand auf.
„Ava?" Lia's Stimme war verschlafen, als sie sich aufrichtete und die Augen rieb. „Wohin gehst du?"
Ich zog meine Jacke über, versuchte ein Lächeln, das meine Unsicherheit verbarg. „Ich gehe nur kurz raus. Bleib hier und warte auf mich, okay?"
"okay" murmelte sie und lies sich wieder ins Bett fallen. Ich schlich mich aus dem Haus, bevor sie weitere Fragen stellen konnte. Der Morgen war kühl, der Tau glänzte auf den verlassenen Wegen. Ich zog den Schal enger um mein Gesicht, nicht nur wegen der Kälte, sondern auch, um die Leute auf dem Markt nicht zu erkennen. Oder, schlimmer noch, von ihnen erkannt zu werden.
Zu der frühen Stunde war noch nicht so viel los auf dem Markt. Ein schlechter Zeitpunkt um etwas zu Essen zu stehlen. Die Stände waren überseht mit Köstlichkeiten und mein Magen knurrte hörbar. An einer Bäckerei blieb ich stehen. Der Duft von frischen Backwaren und Zimt stieg mir in die Nase und trieb mir beinahe Tränen in die Augen. Als Mutter noch lebte hatte sie uns immer zu unseren Geburtstagen eine Zimtschnecke gekauft. Ich lächelte bei der Erinnerung, wie wir gemeinsam mit einer Decke auf der Wiese saßen, uns die Zimtschnecke teilten und den Sonnenuntergang beobachteten. Sie fehlte mir sehr und ich wusste, dass Lia mehr unter ihrem Verlust litt, als sie vor mir zugeben wollte, obwohl es nun schon einige Jahre her war.
Auf der Theke konnte ich einen Teller mit frisch gebackenen Zimtschnecken entdecken. Heute war kein Geburtstag, aber die Erinnerung stach trotzdem wie ein Dorn in mein Herz. Ich schluckte schwer und sah mich um. Der Verkäufer, ein großer, schwerfälliger Mann mit schmutziger Schürze, war abgelenkt und sprach mit einem anderen Kunden. Die Theke war breit, aber nicht so hoch, dass ich sie nicht erreichen könnte.
Es ist nur eine Zimtschnecke, dachte ich. Nur eine.
Ich wartete, bis er sich halb abwandte, sein Gesicht zur hinteren Backstube gerichtet. Meine Finger zitterten, als ich sie über den Rand der Theke hob und nach der nächsten Zimtschnecke griff. Die Glasur klebte an meinen Fingern, als ich sie anhob, und für einen Moment hatte ich sie. Der Duft war so nah, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief.
Doch genau in diesem Moment drehte sich der Verkäufer um.
„Hey!" Seine Stimme war laut und schneidend wie ein Peitschenhieb.
Ich erstarrte. Die Zimtschnecke rutschte aus meinen Fingern und fiel zurück auf die Platte. Mein Blick zuckte zu ihm, dann zu den anderen Kunden, die sich jetzt zu mir umdrehten. Die Welt schien stillzustehen, nur mein Herz hämmerte wie verrückt.
„Was glaubst du, was du da machst?" Er kam um die Theke herum, seine massigen Schritte schwer auf den Dielen.
Ich wich zurück, wollte wegrennen, aber er war schneller. Seine Hand griff nach meinem Arm, fest wie ein Schraubstock.
„Lass mich los!" zischte ich und zerrte, doch er hielt mich fest.
„Glaubst du, du kannst einfach herkommen und stehlen?" Sein Gesicht war rot vor Wut, und seine Stimme dröhnte durch die Bäckerei. Die Kunden flüsterten, einige starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an, andere mit kaltem Desinteresse.
„Bitte", sagte ich, meine Stimme brach. „Es war ein Fehler. Ich wollte nur..."
„Nur stehlen?" Er schüttelte den Kopf. „Leute wie du denken, sie könnten machen, was sie wollen."
„Sie hat sicher ihre Gründe."
Die Stimme kam plötzlich und ließ uns beide innehalten. Ich sah auf und erkannte Reya, die aus der Menge trat. Ihr Gesicht war ruhig, aber ihre Augen blitzten scharf.
„Was hat sie denn genommen? Eine Zimtschnecke? Als ob das irgendwen ruiniert. Sehen Sie sich das Mädchen doch mal an, es hat kaum Fleisch an den Knochen"
„Das geht Sie nichts an", fauchte der Verkäufer, ließ aber meinen Arm los.
Reya trat näher, zog ein paar Münzen aus ihrer Tasche und legte sie auf die Theke. „Hier. Das sollte reichen. Und jetzt lassen Sie das Mädchen in Ruhe."
Der Verkäufer murmelte etwas Unverständliches, hob die Münzen auf und ging zurück hinter die Theke. Reya packte meinen Arm, diesmal sanft, und zog mich aus der Bäckerei.
Draußen ließ sie mich los und sah mich lange an.
„Was hast du dir dabei gedacht?" fragte sie, ihre Stimme leise, aber mit einem Hauch von Enttäuschung.
„Ich... ich weiß es nicht", stammelte ich. Die Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich wischte sie hastig weg.
Reya seufzte. „Komm. Du kannst mir auf dem Rückweg helfen, meinen Korb zu tragen."
Ich folgte ihr schweigend, den Kopf gesenkt. Der Duft von Zimt und Zucker blieb noch lange in meiner Nase, und die Scham brannte heißer als die Sonne auf meiner Haut.
Ich hatte es vermasselt. Alles. Auf dem Markt konnte ich mich nicht noch einmal Blicken lassen, oder zumindest nichts unbemerkt stehlen. Wenn die Menschen hier mich nicht schon vorher auf dem Schirm hatten, dann hatten sie es spätestens jetzt. Frustration und Verzweiflung krallten sich in meinen Magen.
"Ich werde dir jede Münze zurück zahlen Reya, versprochen" sagte ich mit hängenden Schultern und blickte sie Reuevoll an.
"Das weiß ich, mein Kind. Alles zu seiner Zeit" sie strich mir besänftigend über den Arm.
Ich half Reya noch dabei ihren Korb nach drinnen zu tragen. Sie nahm ihn mir ab, nahm die Zimtschnecke heraus und hielt sie mir hin. Beschämt aber dankbar nahm ich sie an und verabschiedete mich von ihr.
Leise schlich ich zurück in unser Haus. Lia schlief noch tief und fest, sie war immer schon ein Langschläfer gewesen. Ich lächelte und legte die Zimtschnecke neben ihr auf den aus alten Paletten improvisierten Beistelltisch.
Ich schlich mich wieder aus dem Haus, da es mich an einen besonderen Ort zog. Die Wiese lag am Rand des Dorfes, hinter den letzten schiefen Hütten und dem staubigen Pfad, der zu den Feldern führte. Hierher kam ich immer, wenn mir alles zu viel wurde. Es war ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien, wo der Krieg, der Hunger und die Sorgen für einen Moment verblassten.
Als ich das Gras unter meinen Füßen spürte, spürte ich einen Hauch von Ruhe, obwohl mein Inneres immer noch tobte. Die Bäume am Rand der Wiese warfen lange Schatten, und die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Welt in warmes Gold. Ich ließ mich ins Gras sinken, zog die Knie an meine Brust und schloss die Augen. Hier hatten wir früher gesessen, meine Mutter, Lia und ich. Meine Mutter hatte oft ein Tuch mitgebracht, auf dem wir saßen, während sie uns Geschichten erzählte. Geschichten von Heldinnen, die über alle Widrigkeiten triumphierten, von Abenteuern und mutigen Entscheidungen. Lia und ich hatten uns oft vorgestellt, dass wir selbst die Heldinnen dieser Geschichten waren. Damals fühlte sich die Welt so groß und voller Möglichkeiten an.
Ich öffnete die Augen und blickte zum Himmel, der sich langsam in ein sanftes Rosa verwandelte. Es war schwer, sich diese glücklichen Tage vorzustellen, jetzt, wo alles so anders war. Meine Mutter hätte gewusst, was ich tun sollte. Sie hätte gewusst, wie ich uns beide sicher durchbringen könnte.
„Ich wünschte, du wärst noch hier", flüsterte ich.
Der Wind raschelte sanft durch das Gras, als ob die Welt mir antworten wollte. Aber die Antworten, die ich suchte, kamen nicht.
Ich dachte an die Bäckerei, an Reyas Gesicht und ihre Worte. Und ich dachte an das Plakat. Es war, als ob alles um mich herum mich in eine Richtung schob, auf einen Weg, den ich nicht wollte.
Aber hatte ich eine Wahl?
Ich griff nach einem Grashalm, zerrte ihn aus der Erde und drehte ihn zwischen meinen Fingern. Der Gedanke, diese Wiese zu verlassen, schnürte mir die Kehle zu. Das war mein letzter Zufluchtsort. Wenn ich ihn aufgab, was blieb dann noch?
Doch gleichzeitig wusste ich, dass ich Lia mehr geben wollte als Erinnerungen an eine Wiese und die Geschichten, die wir uns hier ausgedacht hatten. Ich wollte, dass sie echte Geschichten erleben konnte – Geschichten ohne Hunger, ohne Angst.
So verbrachte ich einige Stunden auf der Wiese. Aufgrund der späten Jahreszeit begann es hier schon früh dunkel zu werden. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen, und die Kälte kroch über die Wiese. Ich zog meine Jacke enger um mich und blieb noch einen Moment sitzen, während der Himmel dunkel wurde.
„Vielleicht", murmelte ich, „ist das der einzige Weg, ein neues Kapitel zu beginnen."
Aber tief in mir wusste ich, dass es keine Heldengeschichte sein würde.
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