1
Die Sonne brannte warm auf meinen Nacken, als ich mich durch die Menge drängte. Stimmen schwirrten um mich herum, Händler priesen ihre Waren an, Kinder lachten, und irgendwo spielte jemand auf einer Flöte eine fröhliche Melodie. Mein Magen knurrte leise, ein ständiger Begleiter in den letzten Wochen. Ich zog den Schal enger um mein Gesicht, ließ meinen Blick über die Marktstände wandern. Gemüse, Brot, ein paar getrocknete Fische – genug, um Lia und mich für ein paar Tage zu ernähren, wenn ich es schaffte, etwas mitzunehmen, ohne erwischt zu werden.
Lia wusste nichts davon. Sie glaubte, ich hätte einen Weg gefunden, ehrlich an Essen zu kommen. Ich hatte sie nicht vom Gegenteil überzeugt, weil sie das letzte Stück Hoffnung war, das ich noch hatte. Ihre Welt sollte nicht so dunkel werden wie meine.
Ich ging langsam an einem Stand vorbei, der voller Äpfel war, das Rot der Früchte leuchtete im Sonnenlicht. Mein Herz schlug schneller. Der Händler war abgelenkt, unterhielt sich mit einer Kundin, die über die Preise schimpfte. Meine Hand zuckte, meine Finger kribbelten. Ich wartete, atmete tief durch.
„Jetzt", flüsterte ich mir selbst zu und ließ meine Hand in Richtung der Kiste gleiten. Die raue Haut des Apfels fühlte sich kühl an, als ich ihn schnell unter meinen Schal schob. Ich drehte mich um und ging langsam davon, zwang mich, ruhig zu bleiben, auch wenn mein Herz wie verrückt pochte. Doch kaum hatte ich den nächsten Stand erreicht, hörte ich eine Stimme hinter mir:
„Hey! Du da! Bleib stehen!"
Mein Körper spannte sich an. Ich widerstand dem Drang, mich umzusehen, und zwang mich stattdessen, schneller zu gehen. Die Schritte hinter mir wurden lauter, aber die Menge war dicht, und ich war flink. Ich schlängelte mich durch eine Gruppe von Menschen, duckte mich unter ein Seil mit aufgehängten Stoffbahnen und rannte dann los.
Ein paar Gassen weiter hielt ich inne, presste mich in den Schatten einer Hauswand und lauschte. Nichts. Nur das Summen der Menschen auf dem Markt in der Ferne. Mein Atem ging schnell, mein Herz hämmerte noch immer in meiner Brust.
Ich zog den Apfel unter meinem Schal hervor und betrachtete ihn. Er war makellos, ein kleines Stück Luxus in einer Welt voller Entbehrungen. Die Wärme der Sonne auf meiner Haut war trügerisch, fast wie eine zärtliche Lüge, die mir einreden wollte, dass alles in Ordnung war. Doch die knurrenden Geräusche in meinem Bauch und das Gewicht des Apfels unter meinem Schal erinnerten mich daran, dass nichts in Ordnung war.
Unser Haus lag am Rand des Dorfes, halb eingestürzt und verlassen genug, dass niemand es für wertvoll hielt. Lia wartete dort. Ich hoffte, dass sie das Feuer nicht zu groß gemacht hatte. Rauch zog Aufmerksamkeit auf sich, und Aufmerksamkeit war das Letzte, was wir brauchten.
Als ich das schiefe Dach endlich zwischen den Bäumen erkannte, ließ ich meinen Schritt langsamer werden. Der vertraute Anblick brachte eine kleine Welle der Erleichterung, aber sie hielt nicht lange an. Ich hatte zu oft erlebt, wie schnell sich alles ändern konnte.
„Lia?" rief ich leise, als ich die knarzende Tür öffnete.
„Hier", kam ihre Antwort, und ich hörte das Klappern von Schalen.
Ich trat in den Raum, der einmal eine Küche gewesen war, und sah sie am Boden sitzen, die Beine unter sich verschränkt. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie mich sah.
„Du hast etwas gefunden, oder?" Ihre Stimme war hoffnungsvoll, und ich konnte nicht anders, als zu lächeln.
„Ja", sagte ich und zog den Apfel hervor. Ihre Augen wurden groß, und sie griff danach, hielt sich aber im letzten Moment zurück. „Teilen wir ihn?"
„Natürlich", sagte ich und setzte mich neben sie. Mit meinem Messer schnitt ich den Apfel in zwei ungleiche Hälften und reichte ihr die größere. Sie wollte protestieren, ich konnte es an ihrem Blick sehen, aber ich schüttelte nur den Kopf. „Iss, Lia. Du brauchst es mehr als ich."
Ihr dunkler Haarschopf glich meinem, das Gesicht hatte sie allerdings von unserer Mutter geerbt. Große, braune Rehaugen, eine Stupsnase und kleine Grübchen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie liebevoll unsere Mutter und jede Nacht das Lied vom goldenen Mond vorgesungen hat. Als sie noch gelebt hatte, schien alles so viel einfacher. Eine schwere Krankheit hatte sie von uns genommen. Unser Vater hatte uns damals noch vor Lias Geburt verlassen, als ich gerade einmal fünf Jahre alt . Er war wie viele Männer Soldat in der Armee, aber für uns wäre er nicht einen Tag länger in den Krieg gezogen. Er war ein Feigling. Ich wusste nicht einmal, ob er heute noch am leben war. Leider hatte ich meine Gesichtszüge von ihm geerbt. Grüne Augen, eine gerade Nase, hohe Wangenknochen und leichte Sommersprossen anstelle der Grübchen meiner Mutter.
Wir aßen schweigend, und für einen Moment fühlte sich die Welt fast friedlich an. Der Apfel war saftig und süß, ein Geschmack, den ich schon fast vergessen hatte. Lia lächelte, und in diesem Augenblick war alles, was ich getan hatte, es wert. Doch tief in mir wusste ich, dass diese Art von Leben nicht ewig funktionieren würde. Jeder Tag auf dem Markt brachte mehr Risiko. Die Händler wurden wachsamer, und ich war sicher, dass mein Gesicht mittlerweile bekannt war. Mein Kopf schmerzte von den ganzen Gedanken.
"Ich schnappe mal etwas frische Luft" sagte ich zu Lia, stand auf und ging durch die Tür nach draußen. Ich lehnte mich gegen die bröckelnde Wand, schloss die Augen und atmete tief durch.
Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf ein Plakat, das jemand an die gegenüberliegende Wand geklebt hatte. Die kräftigen Buchstaben waren verblasst, aber die Botschaft war klar:
„Dein Land braucht dich! Werde ein Held! Nahrung, Unterkunft und Sold für unsere tapferen Kämpfer!"
Mein Herz zog sich zusammen. Nahrung. Unterkunft. Es klang wie ein Versprechen, das zu gut war, um wahr zu sein. Ich wusste, was hinter solchen Versprechungen steckte – der Krieg forderte immer einen Preis. Aber der Gedanke, Lia nicht mehr hungrig sehen zu müssen, ließ mich länger auf das Plakat starren, als ich sollte.
„Du denkst darüber nach, nicht wahr?"
Ich fuhr herum und sah Reya, die ältere Frau aus dem Nachbargebäude. Sie hatte ein Tuch locker um ihre grauen Haare gebunden und hielt einen alten Korb in der Hand, der so leer war wie ihr Blick müde.
„Ich..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sah ich wieder auf das Plakat.
„Das tun viele", sagte sie und trat näher. Ihre Stimme war ruhig, aber es lag etwas in ihrem Ton, das mich innehalten ließ. „Ich habe gesehen, wie viele junge Leute von hier gegangen sind. Manche kommen zurück. Manche nicht."
„Ich will nicht gehen", sagte ich schließlich. Meine Stimme klang klein, fast wie die eines Kindes. „Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Lia... sie braucht mich."
Reya stellte ihren Korb ab und legte eine Hand auf meine Schulter. Ihre Berührung war leicht, aber es fühlte sich an, als könnte sie all die Last von mir abnehmen – nur für einen Moment.
"Du wirst deinen Weg finden. Diejenigen, die etwas haben, wofür es sich zu kämpfen lohnt, können jede Hürde nehmen." ihr Blick strahlte eine großmütterliche Wärme aus.
Ich nickte, aber die Worte des Plakats hatten sich bereits in meinen Kopf eingebrannt. Nahrung, Unterkunft, Sold. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit. Vielleicht war es der einzige Weg, Lia eine Chance zu geben.
Ich atmete tief ein und sah Reya noch einmal an. „Danke, Reya."
Sie lächelte schwach, dann hob sie ihren Korb und ging langsam davon, ihre Schritte leise auf dem staubigen Boden. Ich blieb zurück und starrte weiter auf das Plakat.
Ich würde eine Entscheidung treffen müssen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro