~7~
Petunia hatte die Nacht nach Vernons Auftauchen nicht gut geschlafen.
Sie hatte sich in ihrem Bett hin und her geschmissen, immerzu in Gedanken an ihren Ehemann, den sie einmal geliebt hatte und für den sie nun nichts anderes mehr als Abscheu empfinden konnte.
Entsprechend müde und ausgelaugt war sie, als sie am Montag Morgen die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg, den munteren Dudley in ihren Armen. Lily und James saßen bereits am Frühstückstisch, Lily las in einer Zeitung, mit sich Bewegenden Bildern und James versuchte das Kreuzworträtsel zu lösen.
"Ein Art der Lilie mit acht Buchstaben.", murmelte er gerade, als Petunia eintrat. Lily sah kurz auf, lächelte und zog den Hochstuhl für Dudley zurecht, damit Petunia ihn absetzen konnte.
"Mommy.", rief Harry freudig und drückte seinem Vater eine Handvoll Apfelmus an die Wange. Dudley hatte das auch einmal bei Vernon gemacht, der danach laut geworden war und Petunia aufgetragen hatte, Dudley in sein Kinderzimmer zu bringen. James allerdings lachte laut und gab Harry einen Kuss auf den Kopf.
"Nein, 'Mommy' hat keine acht Buchstaben. 'Mommy' hat nur fünf Buchstaben." James lachte wieder und klickte mit seinem Kugelschreiber. "Aber wirklich, Mommy. Was ist ein Liliengewächs mit acht Buchstaben." Lily seufzte, tief und lange und legte ihre Zeitung beiseite.
"Es ist Affodill, James. Solltest du das nicht wissen? Sechste Klasse, Zaubertrankunterricht. Der Trank der lebenden Toten."
"Ich war nie gut in Zaubertränke, Lils und das weißt du auch.", erklärte sich James und trug kleinlaut 'Affodill' in sein Kreuzworträtsel ein. "Außerdem hast du in der sechsten Klasse im Zaubertrankunterricht vor mir gesessen, neben Remus. Sirius und ich waren also ziemlich abgelenkt und haben uns nicht wirklich auf die Zaubertränke konzentriert, die wir gebraut haben."
"Es wundert mich wirklich, wie du deine OWLs geschafft hast, James.", grummelte Lily, aber Petunia sah den hellen rosa Schimmer auf ihren Wangen. Es tat weh, es zuzugeben, aber Vernon hatte sie nie auf so einfache Art zum Erröten gebracht.
Ganz zu Anfang ihrer Beziehung, erinnerte sich Petunia, hatte Vernon ihr auch immer Komplimente gemacht. Er hat ihr Blumen gebracht und Ohrringe, die, wie er gesagt hatte, zu ihren Augen passten. Er hatte sie lange Angeschaut, wenn sie gemeinsam zu Abend gegessen haben und ihr gesagt, wie schön sie doch sei.
Aber all das hatte schnell aufgehört und Vernons Geschenke waren viel eher ein Ausgleich, zu seinen Schlägen und die Blumen nur eine Erinnerung, dass sie die Pflanzen im Haus wässern musste oder die Fliesen in der Küche abschrubben sollte.
"Übrigens, Tuney, ich habe heute nichts weiter zu tun.", wandte sich Lily an sie und schenkte ihr eine Tasse Früchtetee ein. Lily und James tranken beide lieber Kräutertee, hatte sie herausgefunden, aber dennoch stand auch immer eine Kanne frischer Fruchttee auf dem Tisch, denn Petunia so gerne trank. "Wenn du Lust hast, zeige ich dir Godric's Hollow und wir machen uns einen schönen Tag? Nur wir beide?" Sie wollte gerne zustimmen, Petunia konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen Tag nur für sich selbst beansprucht hatte, geschweige denn, wann sie das letzte Mal mit ihrer Schwester unterwegs gewesen war. Allerdings saß auch ihr Sohn neben ihr, quietschend und in seinem Frühstück panschend, um den sie sich kümmern musste.
"Das wäre toll, aber Dudley-"
"Ich besuche heute mit Harry meine Eltern." James legte das Kreuzworträtsel beiseite und nippte an seinem Tee. "Wenn du möchtest, nehme ich Dudley mit? Dann hättest du endlich einen freien Tag?"
Vernon hatte es nie gemocht, wenn jemand anderes als Petunia auf Dudley aufgepasst hatte.
Sie könnte nicht einfach ihre Verantwortung abgeben, hatte er immer gesagt, schließlich sei sie Dudley Mutter. Warum er als Dudleys Vater scheinbar nicht den gleichen Anteil der Verantwortung übernehmen wollte, das erklärte er nie.
Petunia musterte Dudley, in mit seinem Finger im Apfelbrei rührte und strich ihm fürsorglich über den Kopf.
Sie wollte keine schlechte Mutter sein, die bei der ersten Gelegenheit ihren Sohn in eine andere Obhut übergab, aber auf der anderen Seite wusste sie nicht, wie lange sie noch durchhalten könnte, ohne sich eine Pause zu nehmen.
"Es macht dir wirklich nichts aus, Dudley mitzunehmen?", fragte sie nach und James schüttelte seinen Kopf.
"Vermutlich wird Mum mir die Jungs ohnehin aus den Armen reißen, kaum bin ich durch die Tür getreten." Er lachte und auch Lily schmunzelte leicht, während sie in ihrer Zeitung blätterte. "Es ist also nicht so, dass wirklich ich auf sie aufpassen werde, sondern viel eher Mum und Dad während Sirius und ich ihnen dabei zuschauen dürfen."
Petunias Schwiegermutter hatte ein ähnliches Verständnis von Verantwortung und Erziehung wie Vernon und wann immer sie sie besuchten, hielt sie Dudley fünf Minuten im Arm, bevor sie ihn wieder an Petunia abgab, um dann über die schlechte Jugend in der Nachbarschaft zu sprechen. Petunias Schwiegermutter wollte nie mit ihrem Enkel spielen oder Zeit mit ihm verbringen.
"Effie wünscht sich noch ein Enkelkind.", erklärte Lily und legte ihre Zeitung beiseite. Dudley gluckste, als er die sich bewegenden Bilder von ulkigen Gestalten vor schrägen Häuserreihen begutachtete. "Auch wenn sie versucht, uns nicht unter Druck zu setzen." Petunia dachte an das extra Zimmer im Ligusterweg, das sie so gerne in ein weiteres Kinderzimmer verwandelt hatte und fragte sich, ob Lily ähnliche Pläne mit dem Gästezimmer hatte, in dem sie übernachtete.
"Wollt ihr denn noch Kinder?", fragte sie leise und musterte Harry, der leise vor sich hin blubberte und nach allem Griff, was in seiner Reichweite stand.
"Ich wäre bescheuert, mit dieser Frau keine Kinder mehr zu wollen." James lachte laut, hörte aber auf, als er Lilys hochrote Wangen bemerkte. "Ich meine, ich liebe Harry und ein oder zwei weitere Bohnen hier durchs Haus laufen zu haben wäre toll."
"Ich weiß, was du meinst." Vorsichtig fuhr Petunia mit ihrer Hand über Dudleys blonden Haarschopf. "Sie werden so schnell groß. Du blinzelst einmal zu viel und schon gehen sie in die Schule und schließen sich in ihren Zimmern ein." Sie seufzte tief, als sie daran dachte, dass Dudley sie irgendwann nicht mehr brauchen würde. Irgendwann würde er nicht mehr weinend in der Nacht aufwachen und nach ihr Fragen. Irgendwann würde er nicht mehr an ihrem Rockzipfel hängen und irgendwann würde er sein eigenes Leben fortführen, ausziehen und heiraten, so wie Petunia es getan hatte.
Das Einzige, was sie tun konnte, bevor das passierte, war Dudley zu einem Mann heranzuziehen, der nicht war wie sein Vater. Aber auch das würde sie schaffen, dachte sie stumm, als sie James beobachtete, der Grimassen zog und Lily, die ihn dafür mit Brotkrümeln bewarf.
James machte sich kurz nach dem Frühstück auf den Weg zu seinen Eltern, Harry in einer Tragetasche vor der Brust und Dudley im Kinderwagen. Es sah ulkig aus, wie der 21-Jährige versuchte zwei Kinder zu balancieren und gleichzeitig den Rucksack voller Spielsachen aufsetzte.
Ob es ihm auch wirklich nicht zu viel sei, hatte Petunia nachgefragt, aber James hatte nur abgewunken und den Schwestern einen schönen Tag gewünscht.
Es war seltsam für Petunia, gemeinsam mit Lily das Haus zu verlassen, und dabei keinen Kinderwagen vor sich herzuschieben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen ganzen Tag ohne Dudley verbracht hatte. Oder viel eher, ob es jemals vorgekommen war.
Lily führte sie durch Godric's Hollow, zeigte ihr Denkmäler, mit denen sie nur wenig anfangen konnte und erzählte ihr von der Geschichte der Stadt - Der magischen und nicht-magischen. Petunia versuchte ihr bestes, mit ihrer Schwester Schritt zu halten und alle Neuigkeiten, die sie ihr erzählte zu verstehen, aber der Großteil war ihr völlig unbekannt und verschwamm in ihrem Hirn zu einem riesigen Strudel voller nutzloser Informationen.
"Tut mir leid, ich plappere, richtig?", rief Lily schließlich aus, als sie alle großen Straßen des Ortes abgelaufen waren. "Mum und Dad waren hier, kurz nach unserem Einzug und ich habe ihnen den selben Vortrag gehalten. Dabei könnt ihr leider noch nicht einmal den Großteil der Andenken sehen."
"Ist okay.", antwortete Petunia und verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken. "Es ist schön, dich so vertieft in etwas zu sehen. Es ist lange her für mich."
"Du hast es gehasst als wir Kinder waren.", lachte Lily und zog zog Petunia zu einem kleinen Café an der Straßenecke. Erst dachte sie es sei ein normales, nicht-magisches Café, aber als sie durch die Schaufenster blinzelte, sah sie die Stühle, die sich wie von selbst auf die Tische hoben und die Besen, die selbstständig die Böden fegten. Sie sollte eingeschüchtert sein, bei dem Gedanken in einem magischen Bistro zu sitzen und Tee zu trinken, aber der Gastraum sah warm und gemütlich aus und kein bisschen Gefährlich.
"Ich habe es nicht gehasst.", gab Petunia zurück und strich sich über ihre hellrosa Wangen. "Ich mochte es nur nicht, dass du so viel mehr weist als ich. Ich mochte es nicht, dass du die Schlaue warst, weil ich nicht wusste, was das aus mir machen würde."
"Tut mir leid." Lilys Stimme war leise, und Petunia hatte Probleme sie zu hören, nun da sie in dem Café saßen und die anderen Gäste laut um sie herum redeten. "Ich habe nie darüber nachgedacht, denke ich. Weißt du, in Hogwarts, da war mein Wissen meine einzige Möglichkeit mit den anderen mitzuhalten. Niemand traut einer Muggelgeborenen zu, eine wirkliche Hexe zu sein. Sie haben die Vorstellung, dass wir durch unsere Eltern weniger Magie besitzen, als jemand aus einer Reinblutfamilie. Also war Lernen und Wissen immer nur die einzige Möglichkeit zu zeigen, dass ich mit jemandem wie James oder Sirius auf einem Level stehe. Unabhängig unserer Vorfahren. Ich schätze, ich habe wohl auch in den Ferien nie mit dem Wetteifern aufgehört."
Petunia schwieg einen Moment.
Für sie war die magische Begabung ihrer Schwester immer etwas Unglaubliches, wenn auch nichts Erfreuliches, gewesen. Nie hätte sie daran gedacht, dass Lily von anderen Hexen oder Zauberern anders gesehen wurde, nur weil sie nicht-magische Eltern hatte.
Petunia hatte schlichtweg geglaubt, dass es die zwei Welten gab. Magisch und nicht-magisch- Und jede magische Person gehörte nicht in die Welt der Muggle und jeder Muggle gehörte nicht in die magische Welt. Und nun saß sie hier, ein Muggle in einem magischen Café und trank Tee mit ihrer Hexen-Schwester.
"Es tut mir leid.", stieß sie endlich aus, eine Weile nachdem die Kellnerin einen Teller mit Gebäck vor ihnen abgestellt hatte. "Alles, was passiert ist. Ich war unfair und wirklich furchtbar." Lily seufzte und griff nach ihren Händen.
"Tuney.", murmelte sie sanft, aber Petunia schüttelte ihren Kopf. All die Dinge, die sie zu ihrer Schwester gesagt hatte, lasteten auf ihr, seit sie in Godric's Hollow aufgetaucht war und es wurde Zeit für sie, sich zu Entschuldigen.
"Nein. Ich war ein schrecklicher Mensch, zu James, aber vor allem zu dir." Petunia schluckte und versuchte die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, zu unterdrücken. Sie hatte schon so viel geweint in den letzten Wochen. "Es gibt keinen Weg für mich, all das wieder gut zu machen. Alles was ich gesagt habe, wie ich mit euch umgegangen bin- Lily, es tut mir leid." Einen Moment lang Schwieg Lily, nippte an ihrem Tee und brach einen der Kekse in vier ungleiche Stücke.
"Petunia, ich war wirklich verletzt.", flüsterte sie schließlich und Petunia konnte hören, dass auch Lily ihre Tränen zurück hielt. "Das bin ich noch immer. Und ich kann dir nicht einfach alles vergeben und vergessen." Petunia nickte.
Selbstverständlich war ihr das klar gewesen. Sie erwartete nicht von Lily, über alles, was sie getan hatte, hinweg zu sehen. Auch wenn Petunia am liebsten jeden Streit hinter sich lassen und nie wieder daran denken wollte, schuldete sie Lily ehrliche Gespräche und Entschuldigungen.
"Ich weiß, Lily." Petunia griff über den Tisch und Lily legte ihre Hände, mit denen sie die Keksstücke weiter zerbröselt hatte, in ihre. Die trockenen Teigbrösel verfingen sich im Ärmel ihres Kleides, aber sie versuchte nicht darüber nachzudenken.
"Aber ich bin bereit, mit dir daran zu Arbeiten, wenn du das auch möchtest." Lily lächelte sanft um umfasste Petunias Hände ein wenig fester. "Außerdem war ich auch nicht immer fair zu dir, vor allem in unserer Jugend. Ich habe mich über dich lustig gemacht und deine Entscheidungen nicht ernst genommen. Vor allem nicht deine Ehe mit Vernon."
"Und du hattest Recht, wie sich herausstellt." Petunia zog ihre Hände wieder zu sich zurück und strich sich die Gebäckkrümel von den Ärmeln.
"Aber damals warst du Glücklich. Und ich habe dich nicht ernst genommen.", seufzte Lily und zerbröselte einen weiteren Keks. Petunia fragte sich, ob sie damals wirklich glücklich gewesen war oder sich einfach viel zu tief in ihre Vorstellung eines richtigen, guten Lebens verstrickt hatte.
"Du warst auch Glücklich. Glücklich eine Hexe zu sein und auf diese Schule zu gehen. Du warst Glücklich, als du James mit nach Hause gebracht hast und als du ihn geheiratet hast. Und ich habe dich dafür gehasst, schätze ich. Ich habe James gehasst, obwohl ich ihn nicht kannte und ich habe Harry gehasst, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte." Petunias Wangen glühten vor Aufregung und Scharm, aber es tat gut, ehrlich zu sein. Mit Vernon hatte sie nie über Lily sprechen wollen und selbst wenn, hätte er ihr vermutlich nicht einmal zugehört.
Einen Moment verfielen die Schwestern wieder ins Schweigen und Petunia sprach erst weiter, als sie die Teeblätter an ihrem Tassenboden erreicht hatte.
"Weißt du, als ich zu dir gefahren bin, da hatte ich Angst, du würdest mich wieder weg schicken." Sie musste an Cilia denken, die sie nicht hatte aufnehmen wollen, trotz ihrer Freundschaft. Endlich brach aus Petunias Kehle ein lautes Schluchzen aus, auf das sie unterbewusst schon die ganze Zeit gewartet hatte. Ihre Finger krallten sich in die Tischdecke, als sie an den Abend zurückdachte, an dem sie Vernon verlassen hatte. Sie war so hilflos gewesen, so orientierungslos. Hätte Lily sie nicht aufgenommen, wäre sie vermutlich doch wieder zurück zu Vernon gegangen, wo hätte sie schließlich sonst hingekonnt? "Du hättest jedes Recht dazu gehabt, mich abzuweisen. Aber du hast mich aufgenommen und mir geholfen, ohne auch nur eine Entschuldigung von mir zu erwarten."
"Tuney, dafür ist Familie da.", sagte Lily in einer solchen Selbstverständlichkeit, dass Petunia noch einmal lauter aufschluchzte. Die anderen Café-Besucher starrten sie irritiert an, aber sie versuchte, sich nicht darum zu kümmern.
"Das sagt ihr alle immer wieder.", weinte Petunia und fuhr sich mit ihren kalten Fingern über die erhitzten Wangen. "Du und James und Sirius und Remus. Wie seid ihr euch da so sicher?"
"James hat keine Geschwister, jedenfalls wenn man Sirius nicht dazuzählt." Lily nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee und legte ihre Finger um die vermutlich ausgekühlte Tasse. "Monty und Effie waren schon älter, als sie ihn bekommen haben. Sirius Eltern waren furchtbare Menschen und haben ihn und seinen Bruder misshandelt. Remus Mutter ist in unserem letzten Schuljahr in Hogwarts gestorben und sein Vater ist ein komplizierter Mann." Sie seufzte tief, vermutlich dachte sie an ihre Schulzeit zurück. Petunia fragte sich, ob Lily vielleicht bereit war, ihr ein Paar Fotografien zu zeigen, aus der Zeit, als sie noch in das Internat gegangen war. "Aber in Hogwarts hatten wir immer einander, als Familie. Wir haben uns geschworen, füreinander da zu sein, egal was passiert. Wir streiten uns wegen Nichtigkeiten und spätestens beim Abendessen ist alles wieder geklärt. So funktioniert Familie." Lily war sich so sicher, in dem, was sie sagte, dass es Petunia noch ein wenig mehr zum Weinen brachte.
"Nicht meine Familie, nein." Am liebsten wollte sie auch von ihrem Tee trinken, um mit ihren Händen etwas zu tun zu haben, aber ihre Tasse war leer, bis auf die Blätterreste, die am Boden klebten. Stattdessen nahm sie sich also einen Keks und biss eine kleine Ecke ab, um darauf herum zu kauen.
"Vernon funktioniert so nicht.", erklärte Lily und griff nach Petunias Händen, die noch immer in der Tischdecke krallten. "Aber er ist nicht deine Familie. Ich bin deine Familie, genauso wie Dudley und Harry und James. Sirius und Remus. Mum und Dad."
Petunia dachte an ihre Eltern, mit denen sie noch nicht gesprochen hatte und die vermutlich noch dachten, dass sie glücklich und verliebt in Little Whinging lebte, mit ihren Mann und ihrem Sohn.
"Lily-", fing sie an aber, aber ihre Schwester schüttelte sanft ihren Kopf und drückte ihr einen leichten Kuss auf ihre Fingerknöchel.
"Familien halten zusammen, Tuney. Und ich bin deine Schwester, glaub also nicht, dass du mich so einfach los wirst."
"Ich möchte mir einen Job suchen.", sagte Petunia, nachdem sie gemeinsam mit Lily in dem kleinen Gemüseladen in der Nähe des Hauses eingekauft hatte. "Ich möchte mir einen Job suchen und mit Dudley in eine eigene Wohnung ziehen. Am liebsten nicht weit von hier, damit ich euch immer Besuchen kann."
Die Idee hatte schon eine Weile in Petunia geschlummert. Selbstverständlich hatte sie gewusst, dass sie irgendwann, nun wo sie sich nicht mehr auf Vernon verlassen konnte, wieder arbeiten musste oder eine eigene Wohnung brauchte, aber bisher hatte sie sich noch nicht erlaubt, wirklich darüber nachzudenken.
"Das ist eine tolle Idee, Tuney." Lily lächelte breit und legte ihren Arm um ihre Schultern. "Aber du weißt, du kannst so lange bei uns bleiben, wie du möchtest, ja?"
Petunia nickte. Weder Lily noch James hatten in der letzten Woche einen möglichen Auszug auch nur erwähnt, aber sie fühlte sich dennoch so, als würde sie konstant in die Privatsphäre ihrer kleinen Familie eindringen.
"Ich weiß. Und das ist unglaublich großzügig von euch. Aber ich möchte Vernon verlassen und mir mit Dudley ein eigenes Leben aufbauen. Ich möchte eine gute Mutter und ein noch besseres Vorbild für ihn sein. Ich will es ohne Vernon schaffen."
"In Ordnung." Lilys lächeln wurde ein wenig breiter und, wenn Petunia es richtig interpretierte auch stolzer. "Du hast eine Ausbildung, richtig? Willst du wieder zurück ins Büro?"
Einen Moment dachte Petunia darüber nach.
Sie hatte ihren Sekretärinnen Job geliebt, damals, als sie noch nach einem normalen Leben trachtete und versuchte jeder Magie zu entkommen.
Aber mittlerweile hatte sich ihre Vorstellung von einem normalen Leben geändert und in einem kleinen Büroraum zu sitzen und den ganzen Tag Anordnungen von Männern zu verfolgen, die auf sie herunter blickten, passte nicht mehr in das Leben, dass sie gerne führen würde.
"Ich weiß nicht.", antwortete Petunia ehrlich und begutachtete die Schaufenster, an denen sie vorbeispazierten. "Ich denke, ich werde jeden Job nehmen, der sich mir bietet. Erstmal. Und wenn alles einfacher ist, gehe ich vielleicht zurück an die Schule und mache eine andere Ausbildung. Ich habe schon immer gerne genäht, vielleicht wäre das etwas für mich." Petunia konnte sich gut vorstellen in einer Schneiderei zu arbeiten und wunderschöne Kleider für nette Menschen zu nähen. "Außerdem, wenn ich zurück denke, an meine Zeit im Büro, dann waren da viele Männer wie Vernon. Männer, die über uns befehlen wollen und oft laut werden, wenn nicht jeder ihren Vorgaben folgt. Und von solchen Männern habe ich genug."
"Ich verstehe." Lily nickte und schulterte die Einkaufstasche mit dem Gemüse neu. "Denk nur daran, du musst nicht den ersten Job annehmen, der dir geboten wird. Du bist sicher bei mir und James."
"Ich weiß."
Petunia schwieg einen Moment und beobachtete das leichte Treiben in einem Restaurant, das bereits geöffnet hatte. Vielleicht wäre ja Kellnerin etwas für sie, dachte sie sich. Es war etwas neues, etwas, dass sie noch nie ausprobiert hatte.
"Ich habe dich nie gefragt, was du nach der Schule eigentlich gemacht hast.", fiel Petunia auf und ihre Wangen färbten sich leicht rot. Es gab so viel, dass sie noch nicht über ihre Schwester wusste. Lily aber lachte nur und nickte.
"Das erste Jahr nach meinem Abschluss habe ich eine Weile in einer Zaubertrankapotheke gearbeitet und dann wurde ich Schwanger. Jetzt, wo Harry langsam älter wird, versuche ich mich daran, Zaubertränke nach Auftrag zu brauen, besonders solche, die man nicht einfach in einer Apotheke kaufen kann."
"Willst du nicht zurück zu einem festen Arbeitsplatz?", fragte Petunia und schämte sich für diese Frage. Eigentlich fand sie es bewundernswert, dass Lily vorhatte, sich etwas eigenes Aufzubauen. Es passte gut zu Lily, ihr eigener Boss zu sein. Vor allem besser, als die Vorstellung, dass Lily unter jemand anderem Arbeiten musste.
"Ich möchte noch warten.", gab Lily leise zu und ihr Lächeln verschwand von ihren Lippen. "Weißt du, James und ich, wir hätten wirklich gerne noch weitere Kinder. Mindestens noch ein weiteres, wenn nicht noch mehr."
Petunia dachte an das Kinderzimmer im Ligusterweg, dass sie seit ihrem Einzug als Nähzimmer genutzt hatte. Ein weiteres Kind hatte nie gepasst und mittlerweile, mit ihrer neuen Sicht auf ihr altes Leben und auf Vernon, war Petunia froh darum.
"Ich verstehe. Hätte ich jemanden wie James, würde ich nie aufhören Kinder zu bekommen." Ihr Kopf wurde hochrot, als sie realisierte, was sie gerade gesagt hatte. "Ich meine- Nicht, dass- Oh, Gott, ich höre auf zu reden." Peinlich berührt legte sie ihr Gesicht in ihre Hände, aber Lily lachte nur laut.
"James ist fantastisch. Er ist ein toller Vater und mit jemandem wie ihn kann man gar nicht genug Kinder auf die Welt setzen." Lily seufzte tief und strich sich ihre Haare hinter die Ohren. "Aber es klappt nicht. Wir versuchen es, aber bisher hat es nicht funktioniert. Es ist bescheuert. Ich weiß, dass ich mir zu viele Gedanken mache. Harry ist vor wenigen Monaten erst ein Jahr alt geworden und ich bin noch Jung. Ich habe alle Zeit der Welt, richtig?" Wieder seufzte sie tief und blinzelte zu einer jungen Familie, die am Straßenrand standen. Die Mutter schob einen Kinderwagen vor sich her und strich ihren Kugelbauch und der Vater hielt einen kleinen Jungen an der Hand, der ihm mit leuchtenden Augen eine Geschichte erzählte.
"Aber ich habe Angst, dass, wenn es jetzt nicht klappt, wo ich einundzwanzig Jahre alt bin, warum sollte es in zwei oder drei Jahren klappen?"
Petunia wusste genau, wovon Lily sprach. Sie hatte schon mit vielen ihrer Freundinnen darüber gesprochen. Die Angst, nicht richtig zu funktionieren, kaputt zu sein.
"Weißt du noch, als Mum mir meinen ersten BH gekauft hat?", fragte sie leise und löste ihren Blick von der kleinen Familie am Straßenrand. "Du wolltest auch einen, so dingend, und konntest nicht akzeptieren, das dein Körper seine Zeit braucht und du früh genug in die Pubertät kommen wirst." Lily hatte damals geschrien und getobt, war ins Badezimmer gerannt und hatte sich dann in ihrem Bett die Augen ausgeweint. Die ersten Mädchen in ihrem Jahrgang in Hogwarts würden auch schon BHs tragen, hatte sie gesagt. Was wenn ihr Körper nicht richtig funktionierte und sie niemals einen BH brauchen würde?
"Ich denke, das ist ist wieder so ein Fall. Du willst so sehr schwanger sein, dass du vergisst, dass es kein Wettrennen ist. Nimm dir Zeit, lass deinen Körper sich entspannen. Fahrt in den Urlaub und lass es auf dich zukommen. Lily, du bist einundzwanzig Jahre, du hast Zeit." Lily schluckte schwer und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, die stumm über ihre Wangen gewandert waren.
"James sagt das auch immer.", gab sie zu ließ sich von Petunia in eine feste Umarmung ziehen. "Und er sagt, selbst wenn es nicht klappt, sind wir perfekt, wie wir sind." Lily schluchzte gegen ihre Schulter, aber das machte ihr nichts aus. Viel wichtiger schien ihr in dem Moment, dass sie endlich wieder Lilys große Schwester sein konnte. Dass sie sie trösten durfte und ihr über die Haare streichen durfte, während Lily in ihr Kleid weinte und nicht auf all die anderen Menschen in der Straße achtete, die die beiden Schwestern beäugten.
"Willst du noch Kinder?", fragte Lily schnäuzend, einige Momente nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. Ihre Augen waren etwas rot und geschwollen, aber sie weinte nicht mehr.
"Ja. Wir hatten noch ein Zimmer im Haus. Für ein weiteres Kind, dachte ich. Aber Dudley und meine Pflichten und Vernon - Das war alles so viel, da habe ich mir nie erlaubt, ein weiteres Kind wirklich einzuplanen."
"Du bist auch noch jung. Vielleicht verliebst du dich neu? In einen netten Mann, der dich auch liebt?"
Petunia dachte an all die netten Männer, mit denen Lily umgeben war. James, Remus, Sirius. Kein Wunder, dass Lily daran glauben konnte, dass Petunia jemanden finden würde. Petunia war sich nur nicht sicher, ob sie das wollte.
"Ich denke, ich möchte mich erstmal auf mich konzentrieren und die Scheidung hinter mich bringen.", murmelte sie leise und Lily nickte. "Ich habe nicht die Energie, einen weiteren Mann in mein Leben zu lassen."
"Also willst du dich nie wieder verlieben?" Lily klang besorgt und traurig, aber für Petunia fühlte sich die Aussicht auf ein Leben alleine nicht nach etwas schlechten an. Sie hatte schließlich Dudley und nun auch Lily und James und Harry.
"Wer weiß das schon? Aber nach all dem mit Vernon scheint die Liebe nicht mehr an oberster Stelle meiner Prioritätenliste zu stehen."
"Das ist auch etwas Gutes, richtig?", fragte Lily und stieß das kleine Gartentor zu ihrem Haus auf. Es war bereits später Nachmittag und es wurde kühl um sie herum, aber Petunia genoss das Gefühl, dass sie hatte, als sie gemeinsam mit Lily durch den unordentlichen Vorgarten spazierte. Es war warm und liebevoll, etwas was sie noch nie gefühlt hatte, wenn sie den Ligusterweg Nr. 4 betrat.
"Es fühlt sich so an."
Einen Traum aufzugeben war nicht so schlimm, wie Petunia immer befürchtet hatte. Einen Traum aufzugeben bedeutete viel eher, weiterzuziehen und Platz für neue Träume zu schaffen.
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