Fünfzehn
Von meiner Perspektive aus gesehen, hätte die Welt nichts Schönes mehr haben sollen, doch ich hatte einen wichtigen Schritt getan.
Ich hatte mich vor zwei Wochen, an jenem Abend an welchem ich beinahe mich selbst verloren hatte, meinem Jemanden anvertraut und sie rettete mich. Anstatt mich einzuigeln und die Fehler meines siebzehnjährigen Ichs zu wiederholen, entschied ich mich für einen anderen Weg. Ich entschied mich dazu, die Abstände zwischen meinen Heulkrämpfen zu nutzen und zu versuchen, das Leben in seiner Blüte zu erkennen.
Ich wurde vergewaltigt. Diese Sache akzeptierte ich. Vor zwei Wochen hatte mir ein Mann, der immer noch nicht gefunden werden konnte, in der Kabine einer ekelhaften Herrentoilette ein Stück meiner Seele rausgeschnitten. Er zerdrückte es in seinen widerwärtigen Pranken. Er zerquetschte es und ließ mich weinend und zitternd zurück, bevor ich wie ferngesteuert diese Bar verließ und in Richtung Heimat marschierte.
Normalerweise sollte ich mich, genauso wie damals, einigeln und mich selbst bemitleiden, doch aus irgendeinem Grund tat ich das nicht. Klar, ich hatte mein Zimmer seit zwei Wochen nur zu den notwendigsten Terminen, wie Frühstück, Mittag und Abendbrot verlassen, aber ich hatte nicht ein einziges Mal den Gedanken daran verschwendet, mit dem Steakmesser etwas Anderes zu schneiden als das Stück Fleisch auf meinen Teller.
Ich aß, ich trank, ok hauptsächlich den Scotch meines Dads, aber ich mischte ihn mit Diät-Cola und das Kiffen hatte ich auf ein minimales Pensum reduziert. Mein liebstes Nüsschen murrte schließlich heftig rum, wenn ich ihr befahl, mir zehn Gramm täglich zu organisieren, also musste ich mich mit zwei Gramm zufrieden geben.
Und das tat ich. Ich gab mich damit zufrieden, zwei Gramm Weed am Tag in meinem Badezimmer zu rauchen, meiner Familie drei Mal täglich ein zartes Lächeln zu schenken und mich dann wieder den unfassbar guten Dokumentationen auf National Geographic zu widmen. Auch wenn dieser Tagesablauf nicht unbedingt gesund war, hatte ich doch einen großen Fortschritt zu meinem siebzehnjährigen Ich. Ich hatte einen Tagesablauf.
Doch irgendwie schien das dem Herren im Hause nicht zu passen. Generell schien ihm, seit der Nacht vor zwei Wochen, gar nichts mehr an mir zu passen. Er konnte mir kaum in die Augen blicken. Immer wenn ich versuchte, mit ihm zu sprechen, blockte er ab und Naomi, nun meine Stiefmutter schien das Verhalten meines Vaters nachvollziehen zu können. Ich für meinen Teil war an jenem Nachmittag mehr als nur wütend.
Rücklings lag ich auf meinem Bett und starrte wild gegen die Decke, während ich versuchte, die Gedankengänge des Vatertiers nachvollziehen zu können. An jenem Tag veranstaltete die Military Base einen dieser Familiennachmittage.
Nette Getränke, süßes Gebäck, leckeres Barbecue gepaart mit der unfassbar charmanten Scheinheiligkeit der Häuptlinge der US-Army und ihren freundlich grinsenden Weibchen. God bless America.
Normalerweise hätte mich mein Daddy gefragt, ob ich an seiner Seite sein wollte, denn das war unser Ding. Auf diesem dämlichen Fest voller Ringelpiez mit Anfassen, gab es traditionshalber ein Schießturnier. Ein Turnier welches ich hasste und es dennoch jedes Jahr mit meinem Daddy gewann. Wir waren perfekt. Ich war super im Schießen, hatte es mein Dad mir doch bereits mit fünf Jahren beigebracht. Ich konnte diesem Klamauks nichts abgewinnen, aber das Lächeln meines Vaters, welcher stolz triumphierte, war jedes Jahr ein Highlight, dicht gefolgt von den Blicken der anderen Väter, welche ihre Söhne ausschimpften, weil sie von einem Mädchen verprügelt wurden, doch dieses Jahr war ich ganz offensichtlich unerwünscht.
Gegen dreizehn Uhr klopfte es nur an meiner verschlossenen Zimmertür und das Einzige was ich bekam, war ein kurzes "Wir machen los, Spatz. Bis dann." seitens meiner Stiefmutter.
Verständnislos rümpfte ich die Nase und hievte mich hoch. Ich fühlte mich nicht wie ein Spatz. Ich fühlte mich wie ein verdammtes Moorhuhn und wurde geradewegs von der ungerechtfertigten Ignoranz meines Vaters erschossen. Selbstverständlich verletzte er damit meine Gefühle, doch er verletzte damit auch etwas viel Unangenehmeres. Meinen Stolz.
Denn wenn er nicht mit mir an diesem dämlichen Turnier teilnahm, bedeutete es, dass er sein Glück mit Kyle versuchte und Himmel Herr Gott, Glück brauchten dort dann alle Beteiligten. Kyle war nicht nur ein beschissener Schütze, nein, Kyle war zudem auch unfassbar tollpatschig im Umgang mit Waffen und dass mein Vater lieber mit ihm am Turnier teilnahm als mit mir, fixte meine Racheinstinkte auf das Schärfste.
Das zerstörte Moorhuhn saß also auf dem Bett und schmiedete wirre Rachepläne, während der Moderator auf National Geographic die Shark Week einläutete. Bemitleidenswert, armselig, traurig, all diese Adjektive passten perfekt zu mir, hatte ich in diesem Moment doch tatsächlich die Idee, dass ich meinen Vater damit ärgern würde, indem ich den Rest seines Scotch's leer trank.
In diesem Augenblick fielen mir jedoch wieder Naomi's Worte wieder ein: "Wir Miller's verlieren nie."
Das Austrinken des Scotch's meines Dad's hatte null Komma gar nichts mit gewinnen zu tun. Ich brauchte eine Aktion, einen Auftritt, eine Show. Ähnlich wie damals nur weniger verletzend. Ich musste die Scham aus dem Gesicht meines Vaters prügeln, indem ich ihn bloßstellte. Ich kannte diesen Mann verdammte zwanzig Jahre. Ich wusste, dass Gespräche ihn nicht sonderlich catchten und höchstwahrscheinlich konnte er mir nur nicht ins Gesicht schauen, weil er sonst Amok gelaufen wäre. Dennoch meinen Stammplatz durch Kyle zu ersetzen, war nicht die feine englische Art und diesen Magenschlag hätte er stecken lassen.
"Let the show begin!", platzte es selbstbewusst aus mir heraus, während ich vom Bett aufsprang und in mein Badezimmer rannte, um mein Sommerfell gegen ein feminines Äußeres zu tauschen und meinem Daddy zu zeigen, dass er nicht versuchen sollte, mit mir zu spielen, denn ich gewann immer.
Ich hatte mich durch den Urwald auf meinem Beinen gekämpft, das Fett aus meinen Haaren gewaschen und mich festlich schlicht angemalt. Seit zwei Wochen hatte ich mich nicht mehr so gefühlt und dennoch konnte ich mir nicht so recht in die Augen sehen. Ich sah nett aus. Hübsch hätte vielleicht jemand gesagt, doch das Einzige das ich sah, war die Hure, deren Selbstbewusstsein noch in den Fugen dieser Männertoilette klebte. Sofort brach ich den Blickkontakt mit mir selbst ab und stiefelte zum Kleiderschrank.
Ich schmiss mir ein schwarzes Tank-Top über, quetschte mich in eine dunkelblaue Röhrenjeans und versteckte meine angsterfüllten Augen unter meiner fetten Pilotenbrille. Ich würde es tatsächlich tun. Nach zwei Wochen würde ich in jenem Moment mein selbst erbautes Doku-Gefängnis verlassen und mich wieder allein in die garstige Welt stürzen.
Ob ich bereit war? Keine Ahnung, offensichtlich nicht, verglich ich mich doch immer noch mit dem Federvieh eines Computerspiels der jungen 2000er und dennoch tat ich etwas, wovor ich mich unbewusst die letzten vierzehn Tage gedrückt hatte.
Ich verließ das Haus.
Mein Puls stieg ins Unermessliche, während ich mit heftigen Atem auf meinen BMW zu rannte. So schnell ich konnte, sprang ich hinein und startete den Wagen, um zur Army Base zu rasen.
Wie gesagt mein Selbstbewusstsein klebte noch an den Kacheln dieser ekelhaften Toilette, doch ich hatte eine Fertigkeit, welche mir schon oft aus der Patsche geholfen hatte. Wenn ich schon kein Selbstbewusstsein mehr besaß, konnte ich doch zumindest so tun, als würde ich mich selbst attraktiv finden.
Ich aktivierte also meine Schauspielkünste, festentschlossen meinem Dad auf unsere Art die Leviten zu lesen, als ich den Parkplatz des dämlichen Militärgeländes erreichte und zündete mir eine Mut-Zigarette an, bevor ich die Tür meines schwarzen Babys zuschmiss und mit meinem neu-gespielten Selbstbewusstsein über den Parkplatz stiefelte.
Mit jedem Schritt sammelte ich mehr Mut vom heißen Asphalt auf. Als ich das Spektakel erreichte, spürte ich die dutzenden Blicke auf mir kleben.
Ich gab mir keine Mühe zu verstecken, dass mein linker Unterarm ekelhaft aussah und einen Teufel hätte ich getan, meine Zigarette wegzuschmeißen. Alle sollten sehen, dass John Miller sein Töchterchen ein Stück zu weit provoziert hatte.
Eigentlich parkten hier die unzähligen Fahrzeuge der Base. In dem großen Hanger wurden stattdessen die Sitzgelegenheiten aufgebaut, auf welchen sich die Schwangeren und älteren Herrschaften bei diesen Temperaturen nur zu gern aufhielten. Neben dem Hanger lag eine kleine Grünfläche, das einzige Fleckchen Frieden auf diesem Höllengelände, dessen Ruhe durch die dutzenden Smokergrills gestört wurde. Den Mittelpunkt des Spektakels bildete allerdings der Schießstand.
Dieser hatte fünf Stationen. Erste Station, eine AR-15, das klassische Sturmgewehr des Feldheeres der US-Army. Ziel war es, zehn Schüsse so nah wie möglich in der Mitte der zwanzig Meter entfernten Zielscheibe zu platzieren. Die Regeln waren nicht sehr kreativ, denn eigentlich war es bei jeder Station das Ziel, die Scheibe so zentriert wie möglich zu treffen. Also versuchte man sein Glück nach der AR-15 mit der M16, ebenfalls ein Sturmgewehr. Es folgten noch zwei Pistolen und der Schuss mit einem Scharfschützengewehr, dessen Ziel in rund einhundert Meter Entfernung stand.
Ganz offensichtlich glich mein Timing mal wieder meiner schauspielerischen Arbeit. Beides eine Glanzleistung, denn das Brüderchen versuchte soeben vergeblich, die AR-15 zu laden und hielt die Waffe dabei derart ungünstig, dass er sich vermutlich selbst in den Kopf geschossen hätte, hätte er die Waffe denn tatsächlich geladen.
„Hey, Lieblingskind! Sei ein guter Welpe und hol mir ein Bier, anstatt dich lächerlich zu machen!", rief ich, laut genug damit er mich hörte und stiefelte auf meinen Bruder zu.
Der Mix aus Verachtung und purer Dankbarkeit in seinen Augen brachte mich zum Lachen. Mein Vater stand ein paar Meter neben Kyle und hatte sich wohl bis eben noch mit einem Kollegen unterhalten, doch nun fand ich seine Kinnlade auf dem harten Asphalt der Army Base.
Großartige Beachtung schenkte ich ihm nicht. Wofür auch, strafte er mich doch sinnloserweise mit Ignoranz. Ich schnipste ihm also gleichgültig meine Zigarette vor die Füße und riss meinem Bruder das Gewehr aus der Hand, bevor ich das Teil tatsächlich lud und mir den Schaft, so stark ich konnte, in die Schulter presste. Ich schloss mein linkes Auge, um perfekt durch das Zielrohr blicken zu können.
Kimme und Korn waren Eins, das Ziel im Visier, den Schaft fest in der Schulter, damit der Rückschlag nicht zu sehr wehtat, bevor ich den Abzug mit einer Portion Liebe und einer weiteren Portion Rache-Moods drückte.
Wie zu erwarten eine Punktlandung.
Ohne großartig darauf zu achten, ob und wie mir jemand zuschaute arbeitete ich mich Waffe für Waffe vor, bis ich das Scharfschützengewehr erreich hatte. Dieses Teil war höllisch Schwer. Ein Glück wollten die weniger strengen Schiedsrichter lediglich einen Schuss sehen.
Ich drehte mich also zur Hilfskraft, welcher mir die Munition reichte, bevor ich mich auf den Beistelltisch lehnte und mir die Waffe wie gewohnt gegen die Schulter presste.
Ich legte meine Wange auf den Schaft und visierte das Ziel über das Zielrohr an. Einmal atmete ich tief durch, bevor ich den Abzug drückte und direkt in die schwarze Mitte der Zielscheibe schoss.
Mit einem fetten Grinsen im Gesicht legte ich das Teil wieder ab und drehte mich arrogant um, damit ich meinem Daddy nun auch verbal die Leviten lesen konnte.
Wütend und mit einer ordentlichen Portion Selbstgefälligkeit im Gepäck stiefelte ich zu meinem Vater, welcher den Schock in seinem Gesicht mittlerweile durch sein Augenrollen ersetzt hatte. Die Arme verschränkt, den Kopf in den Nacken gelegt, schien er ganz genau zu wissen, was jetzt folgen würde.
„Gegengeschehen Daddy. Keine Ahnung warum du mich ignorierst. Es war nicht meine Schuld, was passiert ist! Du schämst dich für mich?! Ok, bitte tu es doch, aber habe wenigstens den Anstand mir in die Augen zu blicken und mir zu sagen, dass du keine Lust darauf hast, mit mir gesehen zu werden. Ich habe niemanden umgebracht, Dad, ich wurde vergewaltigt und stell dir vor; die Verarbeitung dieser Sache ist für mich sicherlich schwieriger als für dich!"
Offensichtlich hatte er damit nicht gerechnet, denn ihm standen tatsächlich die Tränen in den Augen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und entschied mich, die Bühne wieder zu räumen. Vielleicht hatte er nur gegen die Sonne geschaut, denn mein Vater machte keinerlei Anstalten mich aufzuhalten.
Wütend, traurig und irgendwie mächtig enttäuscht stürmte ich zurück zu meinem Wagen. Wie konnte ich so blöd sein und denken, dass mein Vater gerade hier Lust gehabt hätte, mit mir zu sprechen?! Dämlich.
Jetzt stiegen auch mir die fetten Tränen in die Augen. Sie spülten das Selbstbewusstsein weg und offenbarten den kleinen Klumpen Angst, welcher ich nunmal war.
Ich stiefelte schniefend über den Parkplatz und gerade als ich in mein Auto steigen wollte, wurde ich an meiner Hand zurück gerissen. Schluchzend fand ich mich, im nächsten Augenblick, an der starken Brust meines Dads wieder. Er hielt mich so fest, er konnte und streichelte sanft über mein Haar.
„Es tut mir leid. Ich wollte alle Menschen töten und habe dabei denjenigen verletzt, welchen ich schützen wollte. Ich liebe dich, Cara."
Der nächste Schritt zur Heilung war somit erfolgt und meine Mutter lachte in diesem Moment in Form von heißen Sonnenstrahlen über uns.
Niemand hasste mich, weil mir wehgetan wurde. Alle hassten nur den Typen, der das getan hatte und wollten ihn meinetwegen töten.
Ich wurde geschützt, geliebt und gehalten. Ich war niemals allein. Was für eine Erkenntnis.
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