𝟙𝟙・Zweifel und Sorgen
Während meine Gedanken immer wieder um Metin kreisen, plaudert Tino unbeeindruckt drauf los und erzählt ausführlich von einem Projekt, das er heute erfolgreich zum Abschluss gebracht hat. Ich bemühe mich, ihm aufmerksam zuzuhören und angemessen zu antworten, aber es fällt mir schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Ich muss morgen unbedingt mit Metin reden, um das entstandene Missverständnis endgültig auszuräumen. Es beschäftigt mich sehr, dass ich ihn verletzt habe, und ich möchte nicht, dass diese Sache zwischen uns steht.
»Hey, bist du überhaupt bei mir?«
Ertappt zucke ich zusammen. »Es tut mir leid, aber es war ein sehr anstrengender Abend.«
Die tiefe Falte auf seiner Stirn glättet sich ein wenig. »Erzähl mir von deinem Tag.«
Ich atme tief durch, schiebe alle Gedanken an Metin beiseite und versuche zu lächeln. »Ich habe dir doch neulich von dem Stipendium erzählt, für das ich mich beworben habe. Ich bin eine Runde weiter. Als Nächstes kommen die Vorstellungsgespräche und dann wird endgültig entschieden.«
»Das ist ja großartig!« Er greift über die Mittelkonsole und legt seine Hand kurz auf meine. »Ich habe ja gesagt, du bist was Besonderes. Und ich bin mir ganz sicher, dass du auch die letzte Hürde nehmen wirst.«
Seine Worte tun gut und lassen mein Herz schneller schlagen. »Danke, Tino.«
»Aber da ist eine Sache, die ich mich letztens schon gefragt habe. Es ist ja nicht so, dass dieses Stipendium die einzige Finanzierungsmöglichkeit wäre. Wie sieht es mit anderen Stipendienprogrammen oder Bafög aus?«
Ich seufze tief. »Ich habe mich für andere Stipendien beworben, wurde aber abgelehnt. Und Bafög ... Ich habe viel Negatives darüber gehört und ...« Ich breche ab.
»Aber nicht jeder macht damit schlechte Erfahrungen.«
»Ja, ich weiß. Aber es ist nur ein Darlehen und ich würde mich hoch verschulden. Und dann ist da noch die Unsicherheit, weil es bei der Bearbeitung der Anträge immer wieder zu Verzögerungen kommt. Das ist mir alles zu unsicher und ich habe gelernt, Dinge selbst zu regeln und Verantwortung zu übernehmen. Außerdem habe ich einiges gespart und bin über dem Freibetrag, was mir wieder Nachteile beim Bafög bringen würde. Also ... Nein, ich habe lange darüber nachgedacht, aber für mich ist das keine Option. Auch wenn es der schwierigere Weg ist, will ich unabhängig bleiben.«
Ein weiterer Grund, den ich aber für mich behalte, ist die Angst vor dem bürokratischen Aufwand und vor den Erinnerungen, die er in mir wecken könnte. Ich fürchte, ständig daran erinnert zu werden, was ich verloren habe. Der Ärger mit den Erbschaftsangelegenheiten nach dem Tod meiner Familie war sehr schwer für mich und ich war froh, als er endlich vorbei war. Das noch einmal durchzumachen, ertrage ich nicht. Ich will es alleine schaffen, auch um mich zu schützen.
Tino überlegt kurz und nickt dann. »Ja, das kann ich nachvollziehen.« Er zieht meine Hand zu sich und führt sie an seinen Mund, ohne dabei den Straßenverkehr aus den Augen zu verlieren. »Wenn du mich lassen würdest, könnte ich dir helfen. Dann müsstest du nicht bis spät in die Nacht in diesem Club arbeiten.«
»Ich mag meinen Job«, protestiere ich. »Außerdem kann ich das nicht annehmen. Aber es ist sehr nett von dir, dass du es mir anbietest.«
Er wirft mir einen schnellen, aber sehr intensiven Blick zu. Sagt aber nichts mehr.
Ein paar Straßen weiter lenkt Tino seinen Audi routiniert in eine Parklücke, die mehr Gehweg als Straße ist. Zu meiner Überraschung habe ich ihm tatsächlich verraten, wo ich wohne. Zumindest den Namen der nächsten Straßenecke, denn für die U-Bahn hatte ich einfach keine Energie mehr. Mit dem Auto dauert die Fahrt zu dieser späten Stunde mindestens zwanzig Minuten weniger.
Mit einem leisen Brummen geht der Motor aus und legt eine unerwartete Stille über uns. Tinos grauen Augen mustern die Umgebung, während er sich langsam in seinem Ledersitz umdreht.
»Hier wohnst du?«
»Ja, das ist mein Viertel«, sage ich und spüre, wie sich meine Kiefermuskeln anspannen. Es ist mir fast unangenehm, wie er das sagt. »Nicht jedermanns Sache, aber mir gefällt es.«
Ich will gerade aussteigen, als er meine Hand greift.
»Hey, tut mir leid«, sagt er mit sanfter Stimme. »Ich wollte dich nicht beleidigen.«
»Schon gut«, murmele ich und versuche, mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«
Ich ziehe meine Hand zurück und steige aus, ohne seine Zustimmung abzuwarten. Tief atme ich die vertraute Nachtluft ein.
Auch Tino steigt aus. Während er um den Audi herumgeht, kommt plötzlich ein schwarzer Schatten aus einem der Hinterhöfe angeschossen. Er bleibt abrupt stehen, als Tino mich erreicht, macht einen beeindruckenden Buckel und faucht drohend. Dann rast er wie der Blitz davon.
Was zum Teufel war das denn? So hat sich der Kater noch nie verhalten.
»Was war das?«, fragt Tino irritiert.
»Der Nachbarskater«, erkläre ich. »Aber warum er sich so benimmt, kann ich dir auch nicht sagen.«
Tino brummt. »Vielleicht spürt er, dass ich kein Katzenmensch bin? Mit denen kann ich nicht so viel anfangen.«
»Vielleicht.«
»Hey.« Tino dreht mich zu sich um. Seine Hand streicht mir zärtlich über die Wange. »Ich will nicht so im Streit auseinandergehen. Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich geredet habe. Verzeih mir, bitte!«
Seine grauen Augen nehmen mich gefangen. Dazu das sanfte Streicheln seines Daumens über meine Wange und in meinem Kopf herrscht das totale Chaos.
Ich seufze resigniert. »Wenn du das machst, habe ich sowieso keine Chance«, gestehe ich leise.
»Gut«, murmelt er heiser und beugt sich zu mir herunter.
Der Kuss beginnt sanft und zögerlich, doch sobald ich seiner Zunge Einlass gewähre, wird er fordernder, energischer. Er drängt mich zurück, was mir erst bewusst wird, als ich plötzlich mit dem Rücken gegen ein Hindernis stoße.
Er schiebt mich mit sanftem Nachdruck zwischen sich und die kühle Metallwand seines Autos. Seine Hände ruhen fest auf meinen Hüften, während er mich an sich presst. Er küsst mich mit einer solchen Intensität, als wäre er ein Ertrinkender und ich der rettende Sauerstoff, der einzige Ankerpunkt in einer ungestümen Flut. Seine Lippen bewegen sich fordernd auf meinen, entfachen ein Feuer, das in meiner Brust lodert und mich vergessen lässt, wo oben und unten ist.
»Du machst mich verrückt, Lucia. Ich will dich so sehr!«
Der Kuss ist berauschend und so anders als alles, was wir bisher geteilt haben. Tinos Hände öffnen mit einer Mischung aus Ungeduld und Verlangen meine Jacke und erreichen den Saum meines Shirts. Sie wandern unter den Stoff, streichen über meinen Bauch und jagen eine Gänsehaut über meinen Körper, die sich wie ein kaltes Feuer ausbreitet.
Die Gefühle überfordern mich vollkommen. Es ist zu heftig, zu schnell. Ich will das nicht, nicht auf diese Weise, nicht jetzt. Panik schnürt mir die Kehle zu. Mein Herz hämmert gegen meine Brust und in meinem Kopf tobt ein Gedankensturm. Ich drücke mich gegen seine Brust, versuche mich dieser überwältigenden Nähe zu entziehen, die mir die Luft zum Atmen nimmt.
»Hör auf«, bringe ich hervor, kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
Ich muss all meine Kraft aufbringen und gegen die aufsteigende Panik ankämpfen, bis er endlich meine Worte hört und reagiert. Für einen kurzen, flüchtigen Moment sehe ich etwas Dunkles, Unheimliches in seinen sonst so klaren grauen Augen aufblitzen. Meine Einbildung spielt mir sicher einen Streich, versuche ich mich zu beruhigen. Mit einem Schritt rückt er von mir ab und fährt sich mit einer Hand durch sein blondes Haar.
»Es tut mir leid, aber ... du hast diese Wirkung auf mich.«
»Lass es uns langsam angehen«, bitte ich ihn. »Das geht mir zu schnell.«
»Lucia«, wieder legt er seine Hand an meine Wange. »Das mit uns bedeutet mir sehr viel. Ich würde gern alles für dich sein. Aber wir werden uns alle Zeit der Welt dafür nehmen, bis du so weit bist. Vertraust du mir?«
Die Worte lassen mich zitternd ausatmen, dann nicke ich mit einem zögerlichen Lächeln. »Ja, ich vertraue dir.«
»Gut. Sehen wir uns morgen?« Auf mein erneutes Nicken hin gibt er mir einen Kuss auf die Stirn und löst sich von mir. »Schlaf gut.«
Während er zur Fahrerseite geht, bleiben seine Augen auf mich gerichtet. Und als er losfährt, lässt er kurz das Fernlicht aufblitzen.
Als ich meine Wohnung betrete und die Tür leise hinter mir ins Schloss fallen lasse, sind meine Gedanken in einem endlosen Strudel gefangen, den Tinos Worte ausgelöst haben. Seine Gefühle, sein offensichtlicher Wunsch nach mehr zwischen uns - es war alles vorhersehbar, aber es löst eine ungewohnte Nervosität in mir aus. Wir treffen uns seit einiger Zeit regelmäßig und einerseits fühlt es sich richtig gut an. Jedes Mal, wenn er in meiner Nähe ist, fühle ich dieses aufregende Kribbeln im Bauch. Gleichzeitig spüre ich aber auch, dass ich noch lange nicht bereit bin, mit ihm den nächsten Schritt in Richtung einer ernsthafteren Beziehung zu gehen.
Ich bin so in Gedanken, dass ich die Gestalt in der Küche erst auf den zweiten Blick bemerke. Felix sitzt am Küchentisch, den Laptop vor sich. Und dann merke ich, dass etwas anders ist. Keine leckeren Düfte in der Luft - nichts deutet darauf hin, dass er heute etwas gekocht hat. Die Stimmung ist irgendwie angespannt.
»Hey«, begrüße ich ihn unsicher.
Er blickt auf und sein Gesicht verdüstert sich sofort. »Hattest du einen schönen Abend?«
»Ich habe gearbeitet«, erinnere ich ihn.
»Und ein Taxi nach Hause gefunden?« Er sagt es so, als ob er die Antwort auf diese Frage schon wüsste.
»Hast du mich beobachtet?«, frage ich misstrauisch.
Wenn ja, dann kann er nur unten auf der Straße gewesen sein. Von unserem Fenster oder Balkon aus kann man nicht bis zu der Straßenecke sehen, an der Tino mich abgesetzt hat.
»Nein, der Kater hat es mir erzählt«, erwidert Felix trocken.
Ich runzle die Stirn und versuche herauszufinden, ob er mich verarscht. Nero hat es ihm erzählt? Was soll der Quatsch?
»Ja, Tino hat mich nach Hause gebracht«, antworte ich und lasse meine Jacke auf den Stuhl fallen. »Ist das ein Problem?«
Er beugt sich über den Tisch, sein Blick wird eindringlich. »Ja, ich will, dass du vorsichtig bist«, sagt er leise. »Tino ist nicht der, für den du ihn hältst.«
Ich starre ihn an. »Was weißt du schon von ihm? Du kennst ihn doch gar nicht!«
Er schüttelt den Kopf. »Ich muss ihn nicht kennen, um ihm nicht zu vertrauen.«
»Ah, deine weltberühmte Menschenkenntnis, ich verstehe!«, fauche ich. Langsam macht mich dieses Gespräch wütend. »Ich brauche deine Meinung nicht! Ich entscheide, mit wem ich mich treffe und mit wem nicht.«
Er steht auf und kommt auf mich zu. Da er viel größer ist als ich, überragt er mich weit, und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm weiter ins Gesicht sehen zu können. »Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.«
»Das ist nicht deine Aufgabe«, entgegne ich und trete einen Schritt zurück. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
Er schaut mich an, seine grünen Augen sind ernst. »Das weiß ich«, sagt er leise. »Aber das heißt nicht, dass es mir egal ist.«
Ich spüre, wie eine Welle der Wut in mir aufsteigt. »Hör auf«, sage ich scharf. »Du hast kein Recht dazu.«
»Kein Recht, mich um dich zu sorgen?«, fragt er und seine Stimme wird plötzlich rau.
»Ja«, sage ich entschieden. »Du hast kein Recht, dich in mein Leben einzumischen.«
Er starrt mich ausdruckslos an. »Ich mische mich nicht ein, Lucia«, sagt er schließlich. »Ich sage dir nur meine Meinung.«
»Und ich sage dir, dass ich sie nicht hören will«, entgegne ich. Ich drehe mich um und gehe zur Tür. »Gute Nacht, Felix.«
Mit einem letzten finsteren Blick auf ihn verlasse ich den Raum. Meine Schritte hallen auf dem Boden wider, als ich den Flur überquere. Mit einem entschlossenen Ruck ziehe ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir zu. Am liebsten würde ich sie einfach zuschlagen, aber ich kann mich gerade noch beherrschen, den Nachbarn zuliebe.
Stattdessen lasse ich mich auf das ungemachte Bett fallen, die alte Matratze federt mich ab. Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust. Es ist ein unangenehmes, fast schmerzhaftes Gefühl, ein Zeichen für die Intensität meiner Wut.
Die Frage, was zum Teufel gerade passiert ist, schwirrt in meinem Kopf und lässt mich nicht los. Was erlaubt sich Felix eigentlich? Wie kommt er dazu, sich so in mein Leben einzumischen und mir Vorschriften machen zu wollen? Die Wut brodelt in mir wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Ich bin sauer. Richtig sauer!
⫸ 20.898 Wörter
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