Kapitel 54
Seufzend stand Sunny vor dem Spiegel in seiner Wohnung. Er drehte sich und verzog das Gesicht. Bah. Er hatte tatsächlich eine weiße Hose, einen weißen Hoodie und dazu auch noch weiße Schuhe an. Allein das ist ein Grund, niemals dahin zu gehen. Doch er wollte nicht auffallen. Nun hatte er nur noch ein Problem - die Ohren konnte er verstecken, doch die Augen nicht. Es waren nunmal Dämonenaugen.
Hmmm. Was könnte man da machen? Momentan hatte er seine menschliche Gestalt, denn er war in der Menschenwelt, trug die Hülle. Diese hatte er von Rosi erhalten, als er durch das Höllentor gestiefelt war. Kann ich die nicht behalten?
Seine Hand schwenkte und das Höllentor stieg aus dem Boden empor. „Rosi, kannst du mich in dieser Hülle in den Himmel schicken?", fragte er das Tor. Etwas seltsam kam er sich vor, denn er redete, naja, mit einem Tor. Auch wenn es ein sehr schönes Tor war.
Ein Vibrieren ging durch den Raum. Ist das ein Ja? Es waren keine negative Schwingungen gewesen. Ich deute es einfach als Ja. Wenn nicht, dann Pech gehabt. Er zog die weiße Kapuze über den Kopf und trat zu dem Höllentor. „Dann schick mich mal zur himmlischen Bibliothek, mein Schätzchen."
Das Tor begann zu schwingen und öffnete sich für Sunny. Im nächsten Moment schritt er in einem großen Gewölbe mit zahlreichen Säulen heraus. Wahnsinn. Er drehte sich und schaute sich um – Jo hatte untertrieben, das hier war riesig.
Zahlreiche Säulen, die über mehrere Stockwerke reichten, erstreckten sich empor. Er befand sich, soweit er erkennen konnte, im Zentrum der Bibliothek. Der Boden war in einem grauen Marmor gehalten, doch die Bücherregale in einem dunklen Nussbraun. Es war alles in Quadraten angeordnet und immer wieder kleine Inseln mit Tischen und Sitzgelegenheiten. Vom Zentrum sowie zwischendurch gab es Treppen, die zur nächsten Ebene führten – doch nur vom Zentrum konnte er bis nach oben sehen. Sicherlich sind diese Aufstiege, damit man fliegen kann.
Große Preisfrage, wo fang ich an? Er würde Jahrzehnte brauchen, wenn er sich hier alleine durchsuchen musste. Leider hatte er nicht so viel Zeit. Es blieb also nur eine Möglichkeit. Sunny drehte sich, ging zum nächsten Engel, den er fand und fragte: „Hey, weißt du, wo Amiel ist?"
Überraschte Augen starrten ihn an, musterten ihn. „Sie ist, soweit ich weiß, in der dritten Ebene und reorganisiert die Abteilung für Heiltränke."
Sunny lächelte. „Danke." Dann lief er zu einer Treppe und lief in den dritten Stock. Das lief doch ganz gut. Seine Augen schienen also gut verdeckt zu sein. Sie achten wirklich auf Ordnung und Sauberkeit. Das musste Lucifer wohl mitgenommen haben. Seine Füße trugen ihn nach oben und er lief etwas umher, fragte sich durch. Schließlich sah er einen großen Rollwagen mit zahlreichen Büchern, die darauf gestapelt waren.
Vor ihm stand ein weiblicher Engel, etwa 1,70 m groß und mit langen dunkelgrünen Haaren, die sie zu einem Zopf gebunden hatte. Ein weißes langes Kleid umschlang ihren Körper. Sie hatte niedliche Gesichtszüge und war völlig vertieft. Ihre Hände schoben die Bücher mit Vorsicht nach rechts und sie ordnete die in ihrer Hand ein. Sunny fiel auf, dass immer wieder Platzhalter dazwischen platziert wurden, damit zukünftige Bücher dort Platz finden konnten.
„Cadens, Caderna, Cadezis", murmelte der Engel. „Cadezis." Sie schaute auf ihre Hände. Plötzlich sah sie, wie eine Hand ihr ein Buch mit einem dunkelblauen Einband reichte. Sie schaute auf die filigrane Hand, dann in das Gesicht der Person, die ihr das Buch reichte. Für einen Moment erstarrte Amiel.
Zadkiel.
Der Mann vor ihr sah aus wie der ehemalige Erzengel Zadkiel, besaß die sanften Züge und auch dieselbe Haarfarbe. Nur die Augen stimmten nicht überein. Das konnte jedoch nicht sein, denn der Erzengel hatte keine Nachkommen gehabt, war bei Lucifers Fall verstorben. Das muss ein Zufall sein.
„Danke", sagte sie und nahm das Buch an, um es an die richtige Position zu stellen. Als sie die restlichen Bücher aus ihrer Hand an die für sie vorgesehene Stelle platziert hatte, drehte sie sich zu dem Besucher, der geduldig gewartet hatte. „Wie kann ich dir behilflich sein?", fragte sie ihn freundlich.
Ein Lächeln trat auf die Züge des Mannes. „Ich will dich nicht stören, ich suche nur nach etwas."
„Was denn?", fragte sie lächelnd.
„Ich suche eine Aufzeichnung von Lucifers Fall", erwiderte Sunny.
Sofort erstarrte der Engel. Wieso möchte er mehr darüber wissen? „Es ist nichts, was erstrebenswert ist", erwiderte sie traurig. Amiel konnte sich an den ehemaligen Erzengel erinnern und trauerte immer noch über dessen Verlust. Sie war damals dabei gewesen, hatte die Entscheidung nicht nachvollziehen können.
Die Körperhaltung ließ Sunny stutzig werden. Sie muss Lucifer gekannt haben, vielleicht... „Warst du dabei?" Auch wenn die Chance klein war, konnte er es versuchen. Langsam nickte der Engel und Sunny machte innerlich einen Freudensprung. Jackpot. „Ich mache dir ein Angebot. Du erzählst mir davon, während ich dir beim Einsortieren helfe."
Es war seltsam. Sie musterte den Engel vor sich, doch sie konnte ihn nicht einschätzen. Als sie nach ihm tastete, traf sie auf eine Barriere, die sie nicht durchdringen konnte. Wer war er? Wieso hatte sie ihn noch nie gesehen? Andererseits machte er nicht den Eindruck, dass er Schlechtes im Sinne hatte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder Engel ein Recht auf Wissen hatte. Sie würde ihm also antworten oder ihn an ein Buch verweisen müssen. „Gut, reiche mir die Bücher in alphabetischer Reihenfolge und ich werde dir davon erzählen."
Sunny nickte und begann die Bücher nacheinander herauszusuchen. Nach und nach reichte er diese Amiel, woraufhin sie einen Platz im Regal fanden.
„Schon bereits vor Lucifers Fall hatte der damalige König der Hölle begonnen, seine Armee zu stärken und schickte immer wieder Dämonen an die Oberfläche, die versuchen sollten, menschliche Seelen zu ernten und in die Hölle zu transportieren. Es kam zu Unruhen und die Dämonen drohten der Menschheit enthüllt zu werden – etwas, was niemals geschehen durfte. Aus diesem Grund griffen die Engel persönlich ein. Die Erzengel flogen mit ihren Heeren auf die Erde und es kam zu einem großen Krieg, dem tausende Dämonen, Engel und Menschen zum Opfer gefallen sind.
Die Erzengel kämpften gegen den König der Hölle und konnten ihn besiegen, doch damit nahmen sie der Hölle gleichzeitig ihren Herrscher. Die Anarchie, die vorher schon geherrscht hatte, drohte sich auf die Menschenwelt auszubreiten, denn nun gab es niemanden mehr, der die Höllentore überwachte. Dämonen schafften es auch in den Himmel, sodass ein großer Aufruhr entstand.
In diesen schweren Zeiten traten vier der Erzengel zusammen, denn die anderen kämpften oder waren noch bei den Verwundeten. Gabriel, Michael, Raphael und Lucifer. Sie diskutierten, während ich ihnen Bücher brachte, in denen sie eine Lösung zu finden hofften. Doch die einzige Lösung war, der Hölle einen neuen, starken Herrscher zu schicken, der die Dämonen unter Kontrolle hielt."
Amiel hielt für einen Moment inne, ihr Blick wurde traurig, dann fuhr sie fort. „Und diese Lösung war ein Erzengel. Er wäre mächtig genug, über die Dämonen zu herrschen und hatte nur Frieden im Sinn. Doch wir Engel haben keine Aufenthaltserlaubnis, können die Hölle nicht einfach betreten."
Mit jedem Wort, das Amiel sprach, wurde die Enge in Sunnys Brust schlimmer. Er wusste, was kommen würde, und doch...
„Es war Michael, der schließlich sagte, dass Lucifer der einzige Kandidat sei, der infrage käme. Bruder, du bist stark und loyal – der Einzige, dem ich vertrauen kann."
Dieses Mal konnte Sunny sich nicht zurückhalten und schlug gegen das Regal. „Wieso?", sagte er ruhig. „Wieso war es sein eigener Bruder? Wieso ist Michael nicht selbst gefallen?"
Amiel sah die Wut, wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Wieso war dieser Engel so wütend darüber? Die Emotionen auf dessen Gesicht sprachen Bände.
„Weil er geschwiegen hat. Lucifer hat in diesem Moment geschwiegen. Wie sich herausstellte, hatte Abaddon den Gedanken in Michael gestreut und schließlich über Lucifer gerichtet. Dann ist er gefallen", beendete Amiel die Geschichte.
Geschwiegen? Die Entscheidung, die Lucifer getroffen hat, die das Schicksal verändert hatte, war sein Schweigen? Hätte er in diesem Moment etwas gesagt, vielleicht verneint, wäre er vielleicht nicht gefallen. Doch was wäre dann passiert? Lucifer hatte durch sein Opfer die Dämonen in die Hölle zurückgeholt und den Krieg beendet, das Ende der Welt verhindert. Hattest du auch drei Fäden zur Auswahl? Hast du gewusst, was passieren würde, wenn du den Mund öffnen würdest?
In diesem Moment war Sunshine klar, dass Lucifer eine Entscheidung getroffen hatte, die er nicht mehr hatte zurücknehmen können. Werde ich ebenfalls eine solche Entscheidung treffen müssen – alles, was mir etwas bedeutet, opfern?
Amiel schaute zu Sunny. Sie wusste nicht, warum Lucifer damals geschwiegen hatte, doch er hatte alle gerettet. „Viele Engel folgten ihm oder rebellierten, weil sie die Entscheidung für falsch hielten, denn er war ihr Anführer und so kam es zum größten Fall unserer Geschichte. Damit zog er die Wut und Verachtung vieler auf sich, denn sie verloren ihre Söhne, Töchter, Freunde, weil sie Lucifer folgten."
Der Engel packte das letzte Buch ins Regal. Sie schaute auf den jungen Mann. Wer bist du? Sollte sie die Augen öffnen? Es war lange her, doch sie wusste, dass es ihr etwas zeigen würde, das sie vielleicht nicht erneut zu Gesicht bekommen würde.
„Sunshine?", erklang eine Stimme und beide schauten auf.
Sunny drehte sich um und rollte mit den Augen. Klasse und ich dachte, ich kann hier noch etwas inkognito bleiben. Leider wurde seine Zeit mit Amiel unterbrochen. „Tja, Zeit für mich zu gehen, Amiel. Es war mir eine Freude, mit dir Gespräche zu führen. Das sollten wir bald wieder machen", verabschiedete er sich freundlich und lief zu dem Engel.
„Fürst Gabriel", begrüßte Amiel den Engel, der gerade zu ihnen gekommen war. Sie verbeugte sich tief.
Gabriel schaute zu dem Engel, dann zu Sunshine. Wie ist er unerkannt hier hergekommen? Doch er kannte die Antwort. Sunshine hatte ein Aufenthaltsrecht im Himmel, also konnte er herkommen.
„Zieh kein solches Gesicht. Ich habe nichts Verbotenes getan", sagte Sunny mit verschränkten Armen.
„Bitte komm mit mir", sagte Gabriel.
Sunny trat einen Schritt zurück. „Ah, ah. Nicht anfassen, ansonsten wirst du dir die Finger verbrennen. Mein Gefährte hat sich das letzte Mal klar und deutlich ausgedrückt, Freundchen." Er war nicht mehr freundlich, das konnte Amiel sehen. Wie kann er so mit dem Fürsten reden? Die Magie flammte in ihren Adern auf und wanderte zu ihren Augen, ließ sie sehen.
Um den Mann vor ihr entflammte eine Aura, die in drei Farben leuchtete. Die Hülle, die er trug, fiel vor ihren Augen ab und sie konnte seine Ohren, aber auch seine Schwingen sehen. Das, was sie jedoch nach Luft schnappen ließ, waren die Signatur, die er trug. Sie kannte sie, würde sie niemals vergessen. Er ist die Königin der Hölle. Sie hatte gehört, dass Lucifer sich gebunden hatte, die Gerüchte waren an ihre Ohren gedrungen. Nun stand er vor ihr. Lucifers Gefährte.
Sie schaute den beiden nach, dann schloss sie die Augen und die Welt kehrte in ihren normalen Farben zurück. Sie verschwanden und ließen sie mit ihren Gedanken zurück.
Sunny lief in einen eher privaten Winkel der Bibliothek, denn er wollte mit dem Erzengel alleine sprechen. Wenn ich schon hier bin, kann ich ihn auch ausquetschen.
Gabriel lief der Königin schweigend hinterher. Seine Gedanken überschlugen sich.
„Wenn du daran denkst, wie du mich dazu bringen kannst, dich zu dem Götterding zu bringen, das werde ich nicht. Dennoch habe ich einige Fragen, die du mir vielleicht beantworten kannst. Sieh es als kleine Wiedergutmachung für meinen unfreiwilligen Aufenthalt."
Sunny schwenkte mit der Hand und die Hülle fiel ab. Die dämonischen Augen schauten ihn an und er sah die Stärke in seinen Augen, die Unnachgiebigkeit. Diese Augen drangen tief und er wusste, dass der Mann, der vor ihm stand, ihm auf Augenhöhe begegnete. Das musste er auch, denn sonst könnte er nicht Lucifers Gefährte sein. In diesem Moment kam ihm etwas in Erinnerung.
Lucifer schaute auf seinen Liebsten, der in seinen Armen lag. Tiefe Liebe stand in dessen Augen.
Nie hat er in all der Zeit, die er hier im Himmel gelebt hat, diesen Ausdruck gehabt. Er hatte gewusst, dass sich Lucifer nach einem Partner gesehnt hatte. Er hatte ihn einige Male mit einem sehnsüchtigen Blick in die Ferne gerichtet ertappt. Hast du deshalb geschwiegen? Hast du gehofft, ihn in der Hölle zu finden? Er hatte ihn schließlich gefunden.
„Stell deine Fragen, Sunshine. Doch ich bitte darum, dass du dir danach mein Gesuch unvoreingenommen anhörst", sagte Gabriel.
Sunny nickte. So fair würde er sein. „Was weißt du über vô hạn?"
Gabriel hatte gewusst, dass er ihm diese Frage stellen würde. „Ich kann dir nur das sagen, was Jophiel dir sicher auch bereits erzählt hat. Es ist ein göttliches Artefakt, das wir im Himmel beschützt haben. Seine Wächterin war Zadkiel, die mit diesem während dem großen Krieg geflüchtet ist, um es zu beschützen. Was es ist, wissen wir nicht. Zadkiel hat für etwa ein Jahrhundert über dieses gewacht."
Sie wissen es also auch nicht. Dennoch wusste er nun, dass seine Mutter anscheinend die einzige Wächterin gewesen war. „Hat Zadkiel jemals über vô hạn geredet?"
Der Erzengel schüttelte den Kopf. Sie hat es beschützt und niemandem davon erzählt, nicht einmal ihrem besten Freund. „Gut, danke." Er sah den Blick von Gabriel und wusste, dass dieser noch etwas sagen würde.
„Vô hạn wurde im Himmel versteckt, gehört hier hin. Wir können es beschützen. Wenn es in die falschen Hände gerät..." Der Ernst war ihm deutlich anzusehen.
Sunny seufzte. „Ich werde deine Worte bei meiner Entscheidung berücksichtigen, doch ich verspreche nichts. Ich muss nun zurück, mein Gefährte wartet auf mich. Auf Wiedersehen." Wenigstens zum Schluss war er höflich. Er hatte einige Antworten erhalten, doch viele Fragen blieben unbeantwortet. Vô hạn, was bist du?
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Lucifers Entscheidung war sein Schweigen.
Was haltet ihr von dem Verlauf der Geschichte?
Welche Entscheidung könnte Sunny treffen müssen?
Eure Mausegöttin
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