Kapitel 52
Etwas wackelig auf den Beinen machte sich Sunny auf den Weg zu seinem besten Freund. Mit diesem hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen. Als er weniger freundlich an die Tür klopfte, machte ihm Eligos auf. „Sunshine", sagte er überrascht.
Sunny wedelte mit der Hand und sagte: „Jaja. Mach mal Platz, ich habe vor ein ernstes Gespräch mit-", doch er brach ab. Er sah, wie Jo auf dem Bett saß und sich gerade ein Oberteil anzog. Nicht wahr. Er schaute zu Eligos, packte ohne Vorwarnung dessen Oberteil und riss es nach oben.
Eligos taumelte zurück. „Was zur Hölle, Sunshine", sagte dieser.
Jo war aufgestanden und sah, wie sich ein schadenfroher Ausdruck auf das Gesicht seines besten Freundes schlich. Oh nein. Nein, Sunshine, nein. Sag es nicht. „Soso. Das ist interessant. Ich wusste gar nicht, dass du noch einen dritten Namen hast, Joseph Adrian James. Vielleicht sollte ich dich ab jetzt Jophinchen nennen, das käme dem doch nahe."
Jo krallte seinen Gefährten und zog ihn rückwärts, was dieser mit einem überraschten Laut kommentierte. „Schnauze Sonnenschein oder ich reiß dir die Eier ab", sagte dieser.
Ein Grinsen zog sich auf dem Gesicht des Reapers. „Ach, tust du das? Hast dir wohl ein paar Eier wachsen lassen, ach nein. Es waren Brathähnchen-Zusätze. Werden bestimmt knusprig, vor allem mit BBQ-Sauce. Dieser kleine Zusatz in deinen Armen ist zufällig mein Fußhansel, also vorsichtig, wenn du das nächste Mal wieder eine Beschwerde ablässt, wenn ich auf deinem Parkplatz parke. Joph-"
Eine Hand legte sich über den Mund von Sunny. „Ist ja in Ordnung."
Doch Sunny war noch nicht fertig. „Ich pack es nicht, dass du geknattert hast, als deine Kollegen da oben mit mir wirf Sunny gegen die Wand gespielt haben."
Jo biss sich auf die Unterlippe. Sunny hatte recht. Es war der schlechteste Zeitpunkt gewesen. „Lass uns in Ruhe reden. Allein", sagte er ruhig und war froh, als sein bester Freund nur nickte. Sie liefen auf den Innenhof, wo sie sich auf die Terrasse setzten.
„Also, Erzengel Jophiel. Wie kommt Euer Gnaden denn zu dem Umstand, den mit Abstand grausigsten Modegeschmack auf Erden zu besitzen und diesen in einer Bar mit einer verkackten Korkwand auszuleben?" Das Erzengel-Detail hatte sein Göttergatte ausgelassen, doch die sieben Buchstaben auf Eligos' Brust waren eindeutig gewesen. Diesen Namen gab es sicherlich nicht mehrfach.
Jo seufzte. „Das wird eine lange Geschichte."
Sunny lehnte sich zurück und machte es sich bequem. „Ich hab' Zeit. Hau raus. Die Schmuddelszenen mit deinem Dämon kannst du grob anreißen."
Lachend schüttelte der Engel den Kopf und begann zu erzählen. Tatsächlich hörte Sunny aufmerksam zu.
„Also warst du der beste Freund meiner Mutter", sagte Sunny, nachdem Jo fertig war.
Jo nickte. „Ja. Als ich sie wiedergefunden habe, bin ich nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Nur an diesem Tag, wurde ich in den Himmel gerufen. Wäre ich dem Ruf nicht gefolgt, hätte ich vielleicht..." Die Trauer stand in den Augen seines besten Freundes. Sunny wusste, dass sich Jo die Schuld gab. Schuld an Zadkiels Tod, Schuld an Sunnys Verschwinden und der Misshandlung.
Sunny legte seine Hand an Jos Wange. „Jo. Es war nicht deine Schuld. Du hast meiner Mutter ein Leben mit meinem Vater geschenkt. Niemand konnte ahnen, was passiert. Es war nicht deine Schuld. Nie."
Die Worte drangen tief. Zum ersten Mal spürte er etwas, nachdem er sich so lange gesehnt hatte. Vergebung. Tränen liefen über seine Wange und Sunny nahm ihn in den Arm. Keine dummen Sprüche.
„Jo. Eine Frage musst du mir jedoch beantworten. Bist du so lange an meiner Seite geblieben, weil du der Meinung bist, es meiner Mutter zu schulden?", fragte Sunny mit belegter Stimme. War ihre Freundschaft ein Versprechen, eine Schuld gewesen, die Jo begleichen wollte?
Zunächst schwieg sein bester Freund, dann sagte dieser: „Nein. Am Anfang war es das, doch mit jedem Tag, der verging, blieb ich bei dir, weil ich es wollte. Du bist die unglaublichste Person, die es gibt und ich liebe dich. Ich möchte niemals von deiner Seite weichen, solange du es möchtest." Das war mehr als Freundschaft. Sie hatten eine tiefe Bindung, die nur wenige verstanden.
Ein Lächeln stahl sich auf Sunnys Gesicht. „Dir bleibt wohl keine Wahl, immerhin ist dein Gefährte der Hansel meines Mannes."
„Idiot", erwiderte Jo grinsend.
„Immer wieder gerne zu Diensten", entgegnete Sunny mit einer eleganten Verbeugung.
Nachdem sie sich beruhigt hatten, lagen beide auf dem Rücken und schauten in den blauen Himmel. „Josi. Was heißt eigentlich Copil binecuvântat?"
Überrascht schaute Jo zu seinem Freund. Woher kennt er diesen Ausdruck? „Es heißt so viel wie gesegnetes Kind, doch es ist ein besonderer Ausdruck unserer Sprache. Es beschreibt ein vom Schicksal auserwähltes Kind. Genaueres weiß ich jedoch nicht." Er hatte bisher nur einen Engel davon sprechen hören, doch er wusste nicht mehr genau, in welchem Zusammenhang. Angestrengt dachte er nach.
Gesegnetes Kind. So fühlte sich Sunny nicht gerade. Mit den Fingern rieb er sich über die Stirn. Ich habe etwas vergessen. Es musste etwas mit der Frau aus dem Traum auf sich haben, doch er wusste nicht mehr genau, was diese gesagt hatte. Es war verschwommen, auch wenn die Erinnerung langsam zurückkehrte.
„Ich habe das Gefühl, dass ich mich an etwas erinnern sollte. Etwas, das verschüttet ist, Jo. Kennst du eine Möglichkeit, es irgendwie zurückzuholen?", fragte er seinen Freund.
Nachdenklich schaute Jo zum Himmel. „Du könntest in einen Trancezustand gehen, der dir ermöglicht, verschüttete Gedanken und Träume erneut zu erleben. Das funktioniert jedoch meist nur mit recht frischen", erklärte Jo.
Das hört sich doch gar nicht so schlecht an. „Was muss ich dafür machen?" Er hoffte inständig, dass er nicht wie Buddha auf dem Boden sitzen und Schnaufübungen machen musste.
„Zieh dein Oberteil aus und setz dich im Schneidersitz vor mich", wies sein Freund ihn an. Also doch Buddha. Mit einem Seufzen tat er, wie ihm geheißen. Er setzte sich vor Jo, der zurückgerutscht war.
„Im Körper gibt es verschiedene Energiekreisläufe, sie werden Meridiane genannt. Sie verbinden wichtige Energiepunkte des Körpers. Ist einer gestört, kann es den gesamten Kreislauf beeinflussen. Einer dieser Meridiane ist der Herz-Meridian. Er verbindet drei wichtige Punkte in einem Dreieck. Aktiviert man diesen, erhält man den Zugang zum Unterbewusstsein", erklärte Jo. „Bist du bereit, Sunny?"
War Jo in der Lehre bei Meister Wong? Meister Wong, wie Sunny ihn nannte, war ein ehemaliger Bewohner seines Wohnblocks gewesen und hatte Qigong betrieben. Er hatte sich gerne mit diesem unterhalten und die Übungen mit ihm gemacht. Tatsächlich hatte er sich nach diesen wohler gefühlt.
Sunny schloss die Augen. „Atme tief ein. Ich werde nun die drei Energiepunkte aktivieren. Lausche meiner Stimme und folge ihr." Jo sprach ruhig. Er könnte der perfekte Schlummersprecher für kleine Babys werden.
„Eins. Dunkelheit tritt vor die Augen, die Geräusche flauen ab. Höre deinen Herzschlag." Ein Finger drückte unterhalb seines Schulterblatt in seinen Rücken und er spürte einen leichten Impuls.
„Zwei." Die Finger fuhren schräg nach oben bis in seinen Nacken und ein weiterer Impuls folgte. „Dein Unterbewusstsein erwacht. Ein Rauschen verkündet dessen Ankunft." Daraufhin begannen Sunnys Ohren zu rauschen.
Der Finger wanderte weiter bis zu seinem rechten Schulterblatt, sendete einen dritten Impuls. „Drei. Dein Unterbewusstsein öffnet sich, entfaltet sich wie die Flügel eines Schmetterlings und heißt dich willkommen. Wenn ich den Kreislauf schließe, wirst du es betreten, wirst du fallen."
Jos Stimme war nur noch weit entfernt. Sunny hörte seinen Herzschlag, das Rauschen. Der Finger fuhr waagerecht nach links, er spürte jede Berührung. In dem Moment, in dem sich der Meridian schloss, begann dieser auf seinem Rücken leicht zu leuchten und er fiel. Er tauchte ab, wurde von der Dunkelheit willkommen geheißen.
Sunnys Körper verlor jegliche Spannung und kippte nach hinten gegen Jos Brust, der ihn hielt. Er hat es geschafft. Sein Freund war nun in den tiefen seines Unterbewusstsein. Dessen Augen wanderten wild unter den Augenlidern, während seine Atemzüge denen einer Schlafphase glichen.
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Als Sunny das nächste Mal die Augen öffnete, spürte er einen trockenen Luftzug, der auf seine Haut traf, und sah nur rote Wüste. Der Sand wirbelte durch die Luft und vereinzelt ragten Felsen aus dem Boden und Felsbrocken lagen willkürlich neben diesen. Er kannte diesen Ort. Er war so oft hier gewesen und hatte nicht gedacht, dass er zurückkehrte. Sie würde hier sein. Sein Kopf kribbelte. Was war geschehen, als er das letzte Mal hier gewesen war?
Plötzlich hörte er eine Melodie, eine helle Stimme. Sie sang und die Worte brannten sich in seine Seele.
„...folge ihrem Pfad entweder,
Oder traure und vermisse."
Dieses Lied. Er hatte es schon einmal gehört. Als sich Sunny in die Richtung drehte, aus der die Stimme gekommen war, sah er sie. Er sah eine Frau in einer weißen Robe auf einem Stein sitzen. Die Kapuze wehte zurück und das graue Haare wehte im Wind.
„Öffne die Augen, Copil binecuvântat", sprach ihre helle Stimme, die jung aber gleichzeitig so alt klang. Diese Worte waren jedoch nicht an ihn gerichtet, sondern an den Mann, der vor ihm stand. Ein Mann mit grauen Haaren. Sunny konnte sich selbst sehen. Er war Beobachter einer Szene, die er erlebt hatte, das wusste er. Er war an dieser Stelle gestanden, hatte mit dieser Frau gesprochen.
Während sie redeten, fiel Sunnys Blick auf die Gestalt, die die ganze Zeit hinter ihm auf dem Felsen gesessen hatte. Das bin ich als kleiner Junge. Und doch war er es nicht. Es war der Teil in ihm, der immer dort gewesen war, der nie gehört worden war – sein engelhaftes Ich. Gemeinsam liefen seine Ichs Hand in Hand davon, verschwanden einfach.
Das ist also geschehen. Er war erwacht.
„Du bist also endlich gekommen, Copil binecuvântat."
Weiße Augen, deren Pupille und Iris waren ein trübes Gebilde, nicht zu unterscheiden waren, schauten ihn an. Sie schauten ihn direkt an.
„Du hast auf mich gewartet."
Ein Lächeln erschien auf den schneeweißen Lippen. „Folge mir." Ihre Hände formten einen Kreis und vor ihr erschien eine weiße Türe, mitten im Nichts dieser Wüste.
Einer fremden Frau durch eine Tür zu folgen, die aus dem Nichts erschienen ist, ist vielleicht keine gute Idee. Andererseits, es ist eine verdammt schöne Türe. Er konnte sich diese Türe verdammt gut als Eingangstür zu ihrem Schlafzimmer vorstellen. Eins zu Null für die Tür, irgendwelche weiteren Gegenargumente? Das Voting mit niemand fiel für die Tür aus, also lief er zu der Frau und folgte ihr einfach. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
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Jo und Sunny haben sich ausgesprochen. Nun ist er an dem Ort, der ihn so oft gerufen hatte.
Wer ist die grauhaarige Frau?
Was wird er hinter der Tür vorfinden?
Eure Mausegöttin
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