Kapitel 45
„Ich möchte, dass du mir die Flügel nimmst und mich menschlich machst, Jo."
Als Jophiel diese Worte hörte, zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen. Was? Er blickte in die violetten Augen seiner besten Freundin und sah, dass sie jedes Wort ernst meinte. „Warum?"
Sarah schaute zu dem Engel. „Seit ich aufgewacht bin, habe ich jeden verloren, der mir etwas bedeutete. Es ist ein Fluch, den ich nun schon so lange mit mir trage."
„Aber dann wirst du altern und-" Sterben. Das letzte Wort sprach er nicht aus.
Ein sanftes Lächeln erschien auf den Lippen seiner besten Freundin. „Ja und das ist es, was ich will. Ich will dieses eine Leben, das ich mit Jason teilen werde. Ich will mit ihm alt werden und wenn die Zeit gekommen ist, mit ihm gehen."
Er konnte es in ihrer Stimme hören, sie hatte diesen Entschluss gefasst und er würde sie davon nicht abbringen können. Doch konnte er es tun? Konnte er seine beste Freundin zum Tode verurteilen? Lange schaute er sie an, dann kam ihm das Bild in den Sinn.
„Wenn es dein Wunsch ist", flüsterte er leise, auch wenn es wehtat. Vielleicht ist meine Zeit auch gekommen. Er würde über sie wachen und dann gehen – in Frieden. Also stimmte er zu. Er nahm Zadkiel die Flügel und machte sie zu einem Menschen.
༻✧༺
Sieben Monate später...
Ein Schrei hallte durch den Raum. Keuchend lag Sarah auf dem Bett – völlig fertig. Jason stand blass neben ihr, hielt die Hand, die sich gefühlt mehrfach gebrochen anfühlte.
„Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge", sagte die Ärztin.
Mit einem Lächeln schaute Sarah zu ihrem Mann. „Du siehst fertiger aus, als ich es bin, Liebling."
Das war Jason auch. Sarahs Schwangerschaft hatte sie beide überrascht, doch sie waren glücklich. Er sah zu der Hebamme, die seiner Frau einen kleinen weinenden Säugling in die Arme legte. Er hatte ein rundes Köpfchen und sturmgraue Augen wie Jason sie hatte.
Sobald dieser auf Sarahs Brust lag, hörte er auf zu weinen. In der Ecke stand Jophiel von einem Zauber verschleiert. Er hatte die ganze Zeit über Sarah gewacht. Mit den Fingern strich sie über die Wange des Kleinen. „Hallo mein kleiner Sonnenschein", flüsterte sie mit einer Stimme, in der unendliche Liebe lag. Ein Ziehen ging durch Jophiels Brust.
„Wie soll er heißen?", fragte Jason nicht mehr ganz so blass um die Nase.
Sarah blickte in das Gesicht und wusste es. „Sunshine. Er soll Sunshine heißen."
Jophiel würde diesen Moment niemals vergessen. Sunshine. Das kleine Leben, das Sarah auf die Welt gebracht hatte, gluckerte.
Die Zeit verging und bald feierte Sunshine seinen zweiten Geburtstag. Er wuchs mit Liebe umsorgt zu einem lebendigen Jungen heran, dessen Lachen an die strahlende Sonne erinnerte. Die kleine Familie hatte ihr Glück gefunden. Doch dies sollte nicht lange halten.
༻✧༺
Jophiel spürte die Unruhe. Irgendetwas stimmte nicht, also verließ er den Himmel. Er trat in einem Portal vor Sarahs Wohnung heraus. Als Patenonkel war es nicht überraschend, dass er zu Besuch kam. Sarah und Jason ließen ihn am Leben ihres Sohns teilhaben und er gehörte schon fast zur Familie. Die Zeit, die er mit den beiden verbrachte, war unglaublich kostbar.
Als er an der Tür klingelte, erhielt er keine Antwort. Die Enge in seiner Brust wurde schlimmer. Ohne zu zögern, öffnete er die Tür mit einem Zauber. In dem Moment, in die sie aufschwang, roch er es – Blut. Sofort stürmte er herein und Entsetzen breitete sich in ihm auf. Jason lag in einer Blutlache auf dem Boden. Sein Körper war mit tiefen Stichwunden übersät und blass. Er wusste, dass sein Herz nicht mehr schlug. Nein. Zadkiel. Er folgte einer Blutspur auf dem Boden. Überall waren umgeworfene Möbel. Hinter dem Tisch endete die Spur.
Keuchend ging er zu Boden. Nein. Vor ihm lag seine beste Freundin in einem weißen Kleid, welches mit roten Flecken übersät war. Ihr Atem ging röchelnd. Ich bin zu spät.
Schwach öffnete Sarah die Augen, sah verschwommen das Gesicht ihres besten Freundes. Ihre Hand hob sich und wurde umgriffen. „Es tut mir so leid", hörte sie die verzweifelte Stimme. Doch sie hatte nur einen Gedanken. Ihre Zeit war abgelaufen, das wusste sie. Sie würde Jason nun folgen.
Schwach erklang ihre Stimme. Jophiel kam nahe heran um ihre letzten Worte hören. „Finde Sunshine. Beschütze ihn. Leb wohl, Jo." Dann verstummte ihr Herzschlag und sie schloss die Augen. Mit zitternden Händen kniete Jo vor der Leiche seiner besten Freundin. Ein Schrei verließ seinen Körper und die Erde bebte.
Über neun Jahre dauerte es bis Jophiel Sunshine fand. Er war von Monstern entführt worden, war dem Tode nahe gewesen. Das Strahlen, das er getragen hatte, war fort. Jeden Tag wurde die Schuld größer, doch Sarahs Worte ließen ihn weitermachen. Ich werde ihn von nun an beschützen. Doch all das hatte er nicht als Erzengel tun können. Also entschloss er sich, sein Engelsein aufzugeben. Er legte sein Amt und sein Schwert nieder und ging auf die Erde, wurde zu einem menschlichen Wesen, das nicht alterte. Dafür schnitt er den Teil seiner Seele aus der Brust, der ihm die Flügel und Engelhaftigkeit nahm, und verschloss ihn in einer Truhe.
Als Joseph Adrian James begann er ein neues Leben, trat der Gilde bei und wurde zu einem Cleaner. Doch mit seinen Flügeln hatte er auch alle andere Fähigkeiten verloren. Diesen Preis bezahlte er jedoch gerne und bald war er durch und durch Mensch. Er schloss seine Vergangenheit weg.
༻✧༺
Als ein grauhaariger junger Mann mit einer schwarzen Maske über dem Gesicht den Raum betrat, schauten alle verwundert zu diesem. Sofort begannen sie zu flüstern, über die Maske, die Tattoos, die Haare und Piercings.
Jo schaute zu diesem, wie er sich neben ihn auf den freien Platz setzte. Stumm öffnete er die Tasche und holte einen Block heraus. Die sturmgrauen Augen schauten nach unten. Sunshine. „Hey, mein Name ist Joseph, aber nenn mich Jo", begrüßte er ihn.
Sunny schaute nach oben in das Gesicht des Typen, der ihn angesprochen hatte. Zunächst schwieg er. „Sunshine, aber nenn mich Sunny." Er wartete auf blöde Sprüche, doch es war das Gegenteil der Fall. Er sah ein Strahlen in den grünen Augen und ein Lächeln auf dem Gesicht. Er wusste nicht warum, doch es kam ihm bekannt vor. Einbildung?
„Du bist mein erster Freund hier, wollen wir nachher noch etwas machen? Ach ja, Reaper oder Cleaner?" Jo schaute seinen Patensohn an, der zunächst unsicher schien.
„Reaper."
„Wahnsinn. Ich bewundere dich, doch das wäre zu hart für mich. Auf der Konsole geht das Kämpfen ja, aber im echten Leben..." Sofort hatte er Sunnys ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Playstation oder Xbox?", fragte er mit ernster Stimme.
Nun musste Jo vorsichtig sein. Eine falsche Antwort und sein Plan war gefährdet. Doch in diesem Moment traf er die richtige Wahl und legte den Grundstein einer langen Freundschaft.
༻✧༺
Eligos und Lucifer schauten zu Jo. Der Engel hatte seine Geschichte beendet.
„Dann warst du an Sunnys Seite, weil er der Sohn von Zadkiel ist?", fragte Lucifer.
„Zunächst ja, doch Sunny ist wie ein Bruder für mich geworden. Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Ich wäre bis zu seinem letzten Atemzug an seiner Seite gewesen und hätte dann den Tod gewählt. Ich habe mein Dasein als Engel aufgegeben, um an seiner Seite sein zu können. Anders war es nicht möglich."
Die beiden Dämonen verstanden sofort. Erzengel hatten Verpflichtungen, konnten nicht einfach auf der Erde eine Auszeit nehmen. Zudem durfte niemand von Sunnys Existenz erfahren.
„Wo ist Sunny jetzt und was hat es mit den Artefakten auf sich?"
Jo schaute Lucifer an. „Sunny ist im Himmel. Ich konnte euch nichts über den Himmel oder die Engel erzählen, solange dieser Teil meiner Seele weggesperrt war. Es ist eine Art Schutzmechanismus. Zudem konnte ich nicht riskieren, dass sie mich bemerkten, was bald der Fall sein wird. So wären sie auf Sunnys Spur gekommen, doch das ist nun zu spät. Die Engel haben gespürt, wie Sunny sich mit den Artefakten verband, selbst ich habe es. Noch wissen sie nicht, wohin sie führen, doch das wird sich ändern." Sein Blick wurde ernst. „Ich glaube, die Artefakte führen zu vô hạn."
Lucifers gesamte Haltung veränderte sich. „Was ist vô hạn?", fragte Eligos.
Ein finsterer Blick trat in die Augen seines Freundes. „Niemand weiß, was es ist, doch in den falschen Händen ist nicht abzusehen, was passieren wird."
Stille.
Jo schaute auf die Decke. „Zadkiel war die Hüterin von vô hạn. Sie floh damit während dem großen Krieg und versteckte es. Niemand weiß, wo es ist und was mit Zadkiel passiert ist. Ich glaube, sie hat die Artefakte erschaffen und ist dabei gefallen. Ich denke, das vô hạn einen Teil ihrer Seele beansprucht hat, weshalb sie ihre Erinnerung verloren hat. Da Zadkiel gestorben ist, ist Sunshine der Letzte aus der Blutlinie und die Aufgabe ist auf ihn übergegangen. Vô hạn möchte, dass sein neuer Wächter die Aufgabe antritt, deshalb ruft es Sunshine."
Das war viel. Sunny war also kein Geist, er trug das Blut eines Erzengels in sich, jedoch gleichzeitig das eines Dämons. Was war er?
„Dann müssen wir in den Himmel, denn ich werde nicht zulassen, dass die Engel meinen Gefährten gefangen halten", sagte Lucifer. „Sie können ihn dort nicht festhalten, es spricht gegen die Konventionen, die zwischen den Sphären gelten."
Damit hatte Lucifer recht. Die Engel konnten die Königin der Hölle nicht ohne Grund gefangen halten. „Dann wird es Zeit, meinem Bruder einen Besuch abzustatten." Das würde etwas dauern.
„Was wird nun aus mir?", fragte Jo. Er wusste, dass sich die Situation geändert hatte. Er war nicht mehr Sunnys Freund, er war ein ehemaliger Erzengel.
Lucifer schaute zu seinem Freund. Eligos. „Du wirst erst einmal hierbleiben. Dennoch trage ich dir deine Entscheidung nicht nach. Du hast uns gewarnt und niemand konnte wissen, dass Sunshine alleine in die Menschenwelt geht. Eine Frage wirst du mir jedoch beantworten müssen. Wem gilt deine Loyalität nun?"
Jo zögerte nicht eine Sekunde. „Meine Loyalität gilt Sunshine. Ich habe meine Position aufgegeben und werde auch nicht zurückkehren. Zudem habe ich...", er sprach nicht weiter doch der Blick, den er Eligos zuwarf, war deutlich.
Mit einem Nicken verließ Lucifer den Raum und ließ die beiden alleine zurück.
Jos Herz schlug schnell in seiner Brust. Eligos hatte bisher nicht viel gesagt. Verachtet er mich nun? Er biss sich auf die Lippe. Die Geheimnisse, die zwischen ihnen gestanden waren, waren nun verschwunden, doch wollte ihn sein Dämon überhaupt noch?
Eligos schaute zu Jo. Er ist ein Engel. Die ganze Zeit über hatte er nichts geahnt. Wie auch, er hat seine Engelsseite aus seinem Körper geschnitten. Allein die Vorstellung, es musste ein unvorstellbarer Schmerz gewesen sein.
Er trat nahe an den Engel, der ihm nicht in die Augen schauen konnte. Sanft legte er seinen Finger unter Jos Kinn, zog es nach oben. Die Angst stand in den Augen. Angst, dass ich dich ablehne, oder Angst vor mir? Jo war wunderschön. „Ich kann dich trotz allem nicht gehen lassen." Bei diesen Worten wurden Jos Augen groß. Er lehnte sich nach vorne und küsste den Engel.
Als Jo die Lippen auf den seinen spürte, durchflutete ihn unendliche Erleichterung. Er umschlang den Hinterkopf seines Dämons und zog ihn an sich, vertiefte den Kuss. Langsam lehnte er sich nach hinten, bis er auf dem Bett lag und Eligos über ihm.
Mit jeder Sekunde schwand die Zurückhaltung. Der Dämon fuhr unter Jos Rücken und dieser zuckte, zischte schmerzhaft auf. Eligos hörte sofort auf und zog sich zurück. An seinen Fingern klebte Blut. „Habe ich dich verletzt?"
Jo schüttelte den Kopf. „Die Wunden sind von meinen Flügeln, doch sie werden bald geheilt sein." Eligos zog ihn nach oben und ging um seinen Engel. Er entfernte vorsichtig das Oberteil. „Zieh deine Flügel ein, Vârtej."
Mit einer ruckartigen Bewegung zog Jo seine Flügel ein und ein schmerzerfüllte Zischen entkam erneut seinem Mund. Am Rücken klebte das getrocknete Blut und die Risse in seinem Rücken sahen böse aus. „Wie schlimm ist es?", fragte Jo.
Eligos schwieg, setzte sich ihm gegenüber. Ich kann ihn nicht leiden lassen. Langsam beugte er sich vor und küsste Jo. Der Engel zuckte und plötzlich wurde ihm heiß. Was ist das? Sein Rücken begann zu prickeln und aus diesem sprossen kleine Efeupflanzen, die über die Wunden wuchsen und sie verschlossen. Als sich der Dämon zurückzog, keuchte Jo.
„Die Wunden sind erst einmal verschlossen und können heilen", sagte Eligos, in seinen Augen ein sinnlicher Ausdruck. Der sinnliche Duft seiner Nemesis umgab ihn und sein Geschmack brannte auf seine Zunge.
„Eligos", hauchte der Engel. „Ich will dich."
Die Nasenflügel des Dämons blähten sich auf. Niemals hätte er diese Einladung ausschlagen können. Niemals.
______________________________________
Nun hat sich der Kreis geschlossen, alle Geheimnisse wurde aufgedeckt.
Nun stellt sich die Frage, was ist vô hạn?
Was könnte Sunny im Himmel erwarten?
Eure Mausegöttin
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro