Kapitel 44
Als Sarah den Mantel und Schal ablegte, kam ein dunkelroter Pullover zum Vorschein. Jason setzte sich ihr gegenüber und beide warteten auf die Bedienung. Die Sonne schien in einem hellen Licht herein und ließ die Augen von Sarah violett leuchten. Wunderschön. Er war verzaubert.
„Was möchtest du trinken?", riss ihre weiche Stimme ihn aus den Gedanken.
„C-Cappuccino", erwiderte er und wurde wieder ruhig.
Jeder Anwesende in dem Café fragte sich, wie es sein konnte, dass ein solcher Trottel neben dieser Frau saß. Er wusste es selbst nicht. Seine Brille beschlug etwas, sodass er nichts mehr sah, also nahm er sie ab. Die Umgebung verschwamm und machte es leichter.
Eine warme Hand legte sich an seine Wange und er zuckte zurück. „Du hast ein freundliches Gesicht, Jason." Die Worte überrumpelten ihn. Man hatte ihn schon viel genannt, doch das war neu.
„I-Ist das ein T-Trick? E-Eine Ma-asche?", fragte er unsicher. Vielleicht eine versteckte Kamera oder Ähnliches.
Sarah begann zu lachen. Der Humor von Jason traf ins Schwarze. „Nein. Ich bin einfach im Park gelaufen und habe mich gefragt, ob du die Enten mit den faustgroßen Brocken ermorden wolltest, mehr nicht."
Jason konnte ein Lachen nicht unterdrücken und schlug sofort die Hand vor den Mund. Oh Gott, hat sich das seltsam angehört? Er schaute zu Sarah, doch er konnte sie nur unscharf sehen. Er setzte die Brille wieder auf.
Zum Glück kam die Kellnerin mit den Getränken. „I-Ich wollte sie n-nicht ermorden. E-E-Ehrlich." Sarah sollte kein schlechtes Bild von ihm haben.
Das helle Lachen ließ viele Gesichter zu ihnen wandern. „Das war nur ein Spaß. Natürlich weiß ich das. Erzähl mir von dir, Jason."
Das ist ein Traum. Doch er würde diesen Traum genießen. Auch wenn er stotterte, so begann er das von sich zu erzählen, was interessant klingen würde – was nicht viel war. Er war Photograph und arbeitete für eine Agentur, die Landschaftsbilder und Bilder von Gebäuden machte. Dabei waren es meist Werbeagenturen, die ihn beauftragten. In diesem Moment juckte es ihm in den Fingern, ein Bild von Sarah zu machen.
„Kann ich ein paar deiner Bilder sehen?", fragte sie begeistert. Ihre Art wirkte ehrlich, sodass er etwas Mut fasste. Er zog sein Handy heraus und zeigte ein paar Aufnahmen.
Sarah war sofort begeistert. Die Bilder berührten etwas in ihr, das tief verborgen war. Sie fingen die Schönheit der Landschaften ein, die sie niemals selbst erblickt hatte – nicht in all den Jahrzehnten, die sie auf der Erde weilten. Jason hatte ein Talent, welches mit keinem Geld der Welt zu erkaufen war.
„D-Darf ich d-dich fotografieren?", fragte er schüchtern. Das Bild stand ihm klar vor Augen. Für einen Moment leuchtete die Sonne hell und er glaubte, weiße Schwingen auf Sarahs Rücken zu sehen. Ein Augenblinzeln und es war fort. Die Traurigkeit in ihren Augen und Einsamkeit ließen ihn innehalten. Wieso sieht sie so traurig aus? Ohne es verhindern zu können, legte er seine Hand an ihre Wange. Ihre Blicke trafen sich und sie teilten einen Moment, den sie nie vergessen würden.
Sanft nahm Sarah die Hand. „Ja."
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Sein Finger betätigte den Abzug und die Zeit stand still. Er hatte einen Moment eingefangen, der nie wiederkehren würde. Sein Blick wanderte zum Display seiner Kamera und das Bild erschien. Wunderschön.
Auf dem Bild war eine Frau mit langen grauen Haaren und violetten Augen zu sehen, welche sehnsüchtig in die Ferne schaute. Doch nein, es änderte sich, denn er hatte zweimal abgedrückt. Die Augen schauten ihn an und er konnte es sehen. Etwas, das er nie zuvor gespürt hatte. Diesen Blick würde nur er erhalten.
„Ich liebe dich", sagte er.
Sarah schaute zu ihm, trat nahe an ihn heran. Ihre Hand legte sich an seine Wange, wanderte zu seinen verwuschelten Haaren, die der Wind zerzaust hatte. Langsam näherten sich ihre Lippen den seinen, hielten jedoch kurz davor inne. „Tôi cho anh trái tim tôi", flüsterte sie und die Worte drangen tief. Er wusste nicht, was sie bedeuteten, doch sein Herz verstand sie. Dann folgten die warmen Lippen und sie teilten ihren ersten Kuss.
Diesem Kuss folgten weitere. Als Sarah unter ihm lag und die warmen Augen ihn anschauten, als sei er der Mittelpunkt ihrer Welt, begriff er, dass es das war, was er gesucht hatte. Durch die Kamera hatte er immer danach gesucht, doch nun hatte er es gefunden. Langsam beugte er sich nach vorne, eroberte die weichen Lippen.
Niemals würde er diese Frau verlassen, denn er hatte einen Teil seiner Seele an sie verloren. Es war nicht der Kuss oder das Foto gewesen. Es war der Moment, als sie zum ersten Mal seine kalten Hände ergriffen hatte. Nun würde er diese Hände niemals mehr loslassen.
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Sarah lief summend durch die Wohnung. Ein goldener Ring prangte an ihrem Finger. Mit tänzelnden Schritten legte sie die Wäsche zusammen. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Jason war beim Arbeiten und sie würde ihn mit einem leckeren Essen überraschen.
Als sie nach einem weiteren Handtuch greifen wollte, wurde ihr plötzlich schlecht, dann begann ihr Rücken zu brennen. Keuchend stützte sie sich am Sofa ab, doch ihre Beine gaben nach. Der Schmerz pochte hell und nahm ihr den Atem. Sie krümmte sich, lag auf dem Boden. Aufhören.
Ein Schrei entkam ihr, dann hörte sie, wie etwas riss. Zunächst war es der Stoff ihres Oberteils, doch ein weiteres Reißen erklang. Ihr Rücken riss auf und sie spürte, wie etwas hervortrat. Ihr stummer Schrei hallte in ihren Ohren wider. Sie konnte nicht sprechen, versuchte zu atmen.
Als sie sich umdrehte, konnte sie zwei Flügel sehen, die neben ihr lagen. Sie glänzten violett im Licht. Was? Langsam klang der Schmerz ab, doch ein Vibrieren ging durch ihren Körper.
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Jophiel schritt durch die Hallen. Es wird Zeit, dass ich dir folge. Die Jahrhunderte waren vorbei gezogen, die Nachwirkungen des Krieges und Lucifers Fall verklungen. Dieser Krieg hatte nicht nur zahlreiche Leben genommen, sondern hatte ihm auch die beste Freundin, sein Licht genommen. Nach Zadkiels Verschwinden hatte ein anderer Engel ihren Platz eingenommen, doch niemand konnte sie ersetzen.
Jahrhundertelang hatte er nach ihr gesucht, doch nichts gefunden. Sie hatte recht behalten. Niemand würde sie oder vô hạn finden.
Der Erzengel fristete seit diesem Zeitpunkt nur noch sein Dasein, lebte von den Erinnerungen, die ihr Lachen abbildeten. Nun war er an dem Punkt angekommen, an dem er den Sinn seiner Existenz verloren hatte. Er war müde und würde nun gehen. So lief er zu den göttlichen Hallen, um seine Auslöschung zu erbitten.
Bevor er jedoch die Tür durchschreiten konnte, spürte er etwas. Ein Ziehen in seiner Brust. Was? Schlagartig drehte er sich um und seine Beine rannten. Mit einer Handbewegung öffnete er ein Portal und folgte dem Ruf. Die göttlichen Hallen verschwanden und helle blaue Wände bildeten sich. An diesen hingen zahlreiche Bilder von Landschaften, die ihn für einen Moment gefangen hielten. Doch schnell wanderte seine Aufmerksamkeit in die Richtung, aus der er Schmerzenslaute hörte.
Er rannte in den nächsten Raum und erstarrte. Graue Haare und violettglänzende Flügel. Auf dem Boden lag nicht irgendein Engel, nein, es war der Engel, nach dem er jahrhundertelang gesucht hatte. Seine Beine gaben nach und Tränen rannen über seine Wange, als er nach all der Zeit ihren Namen aussprach: „Zadkiel."
Sarah schaute auf und sah einen Engel mit rotglänzenden Flügel, karminroten Haaren und grünen Augen vor sich. Ein Schmerz fuhr durch ihren Kopf und eine Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie hatte das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein. Bevor sie etwas sagen konnte, wurde sie in zwei starke Arme gezogen.
„Ich danke, Gott. Endlich. Ich habe dich so lange gesucht", sagte der Engel mit zitternder Stimme.
Sarah wusste nicht, was mit ihr geschah. „Bitte lass mich los."
Widerwillig zog Jophiel sich zurück und er konnte einen Blick sehen, der ihn verletzte. Doch die darauffolgenden Worte waren schlimmer. „Wer bist du?" Er konnte es nicht glauben, rang um Fassung.
„Mein Name ist Jophiel. Ich bin dein bester Freund. Zadkiel, ich habe dich so lange gesucht."
Sarah konnte die Ehrlichkeit in der Stimme hören und auch bei dem Namen, mit dem er sie ansprach, spürte sie ein Ziehen im Kopf. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. „Es tut mir leid, doch ich habe keinerlei Erinnerung an dich oder meine Vergangenheit."
Das war wie ein Schlag ins Gesicht und Jophiel wich zurück. Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb an einem Bild hängen. Es war ein Bild von Zadkiel, am Meer. Ihre Haare waren vom Wind zur Seite geweht worden, doch das, was ihn gefangen nahm, war der Blick. Es war ein Blick, in dem tiefe Liebe lag. Wahre Liebe. In all der Zeit, in der er seine beste Freundin gekannt hatte, hatte sie niemanden so angesehen. In diesem Moment drangen die Worte wieder an die Oberfläche, die sie vor ihrem Verschwinden zu ihm gesagt hatte.
„Das Schicksal ist ein seltsames Konstrukt. Es führt einen auf einen Pfad, den man selbst wählt und doch auch wieder nicht. Glaube mir, das ruhige Leben, das du führst, wird bald vorbei sein, denn es wird ein Sturm aufziehen. Jemand wird in das perfekt gebastelte Leben, an dem du festzuhalten versuchst, und alles über den Haufen werfen. Diese Person wird tief in dein Innerstes schauen, deine Fehler, Makel, Sehnsüchte und Wünsche sehen – dein wahres Ich. Keine Mauer wird sie fernhalten und wenn du versuchst zu fliehen, wird sie dich in die Arme schließen. Ein Blick in ihre Augen und du weißt es, denn so ist bestimmt. Verschließe dich nicht, denn selbst du bist bestimmt, dich zu verlieren."
Sie hat es gefunden. Das, was sie so lange gesucht hatte, und er wusste, dass es der Mann war, der neben ihr auf dem Bild darunter stand. Sie hatte ihm diesen Blick zugeworfen. Langsam wurde er ruhig.
Zadkiel hatte es geschafft, sich aufzurichten, doch ihre Flügel hingen schlaff zu beiden Seiten. Er setzte sich zu ihr. „Bitte erzähl mir von dir", sagte er. Er musste wissen, was mit ihr passiert war.
Ruhig schaute Sarah zu dem Fremden, der ihr nicht fremd war. Die Worte wanderten über ihre Lippen und der Engel hörte die ganze Zeit schweigend zu. Wieso sie ihm all das erzählte, wusste sie nicht, doch sie fühlte sich mit jedem Wort leichter.
Als ein Klicken erklang, schreckte sie zusammen. „Wie kann ich sie wegmachen?", fragte sie panisch.
Jophiel brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. Mit einem Impuls brachte er sie dazu, die Flügel einzuziehen und tat das Gleiche. Seine Robe verschwand und menschliche Kleidung erschien. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein.
Mit einem Lächeln begrüßte Jason seine Frau. Zu seiner Überraschung hatten sie einen Gast. Sarah stand auf und umarmte ihn. „Du bist zurück, Liebling", begrüßte sie ihn.
„Ja, es ging schneller als gedacht. Aber Schatz, was ist mit deiner Bluse passiert und wer ist dieser Gast?". Er war verwirrt, denn das Oberteil seiner Frau war unter an zwei Stellen bis zum Ansatz nach unten aufgerissen.
„Ach du meinte Güte. Ich zieh mich sofort um." Fragend schaute er seiner Liebsten nach, die mit roten Wangen verschwand. Der rothaarige Mann stand auf und streckte ihm die Hand entgegen.
„Mein Name ist Jo. Ich bin ein alter Freund." Jeder andere Mann wäre stutzig geworden, doch es war seltsam. Er hörte dieselbe Aufrichtigkeit in der Stimme des Mannes, wie in Sarahs. Diese kam mit einem Pullover bekleidet zurück.
Jophiel drehte sich zu ihr. „Ich würde mich freuen, wenn wir die vergangene Zeit noch aufholen würden, doch nun muss ich gehen."
Sarah nickte nur und der Engel verließ ihr Heim.
Daraufhin trafen sie sich noch unzählige Male. Jophiel erzählte ihr von ihrer Vergangenheit und ihrem Verschwinden. Langsam setzten sich alle Puzzleteile zusammen und doch fehlte ihr der Teil der Erinnerung, an dem sie vô hạn versteckt haben sollte.
Nachdenklich lag sie am Abend in den Armen ihres Liebsten und ein Gedanke kam auf. Ein Gedanke, der Wurzeln schlug. Sie schloss die Augen und schlief ein.
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Langsam schließt sich der Kreis, doch ein Detail fehlt. Macht euch bereit.
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