Zellenwahnsinn und regulärer Wahnsinn
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Nahkampftraining alleine war langweilig, aber Adriel war nichts, wenn nicht stur. Er stand mit einem Fuß auf dem Aufstieg, eine Hand bereits gegen die Luke gepresst und sah auf Ana runter, als könne er nicht glauben, wozu sein Leben in den letzten Wochen gekommen war.
„Ich meine es ernst, ich kann heute nicht", wiederholte er so ruhig, als könne er allein mit seiner Stimme die Diskussion beenden.
Ana, die den Teller voll Suppe hielt, die er ihr eigentlich nur hatte bringen wollen, stellte diese vorsichtig auf dem Tisch ab, damit sie besser die Arme verschränkten konnte.
„Wir sind auf einem Schiff. Mitten im Meer. Was kann plötzlich dazwischengekommen sein?" Demonstrativ zog sie die Augenbrauen hoch.
Sie hätte es niemals zugegeben, aber sie brauchte dieses Training. Es forderte ihre ganze Konzentration und ließ keinen Platz für ungebetene Erinnerungen oder Bilder. Es gab ihr das Gefühl weniger schutzlos zu sein. Fähiger. Und sie wollte um jeden Preis daran festhalten.
Vor ihr ahmte Adriel ihren Gesichtsausdruck nach, deutlich weniger frech und eher wie jemand, der milde amüsiert von dem Theater anderer war.
„Ich habe noch andere Aufgaben. Verpflichtungen meinem Land gegenüber, die ich zuletzt vernachlässigt habe, um trotzigen kleinen Mädchen die Grundlagen der Selbstverteidigung beizubringen."
„Aufgaben, die eigentlich deinem Bruder übertragen worden sind?" Ana legte den Kopf schief, doch ihr Tonfall wurde ein klein wenig milder. Kellen war stets ein gefährliches Thema mit Adriel. Etwas, was er nicht diskutieren wollte, auch wenn er mal gute Laune hatte.
Jetzt schüttelte er nur den Kopf und wandte sich wieder zum Gehen. „Es ändert nichts an der Tatsache."
Er schaffte es zwei Stufen hinauf und Ana hätte ihn fast zurückgehalten. Hätte fast die Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie fing sich. Erinnerte sich, mit wem sie da sprach.
„Dann lass mir wenigstens einen Dolch hier. Ich kann die Manöver alleine üben."
Es war besser als nichts. Besser als hier unten zu sitzen und innerlich zu beten, dass sie keinen Traum haben würde. Dass sie einfach nur schlafen könne und nicht morgens Adriel hundert unangenehme Fragen beantworten musste.
Leider wusste Adriel wie ungern sie schlief und wie viele Wege sie drum herum suchte. Demonstrativ langsam drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und sandte ihr einen sehr sehr langen Blick, der die Diskussion nun wirklich beendete.
„Iss auf und dann leg dich schlafen."
Und damit ließ er sie alleine. Die Luke fiel ins Schloss und oben wurde ein Schlüssel umgedreht, dessen Zwilling in Anas Koje im späten Abendlicht golden schimmerte.
Sie sah ihn lange an. Es wäre nur ein kleiner Trip. Ein Ausflug, von dem Adriel nichts erfahren musste.
„Nur fürs Protokoll, das keiner führt: Ich bin weder trotzig noch ein Kind", erklärte sie dem Raum und setzte sich zum Essen. Sie hatte vielleicht nicht die weiblichste Figur, aber sie war 17.
Und weil Schlafen überbewertet wurde, fand Ana sich wenige Stunden später auf einem Gang wieder, auf dem sie nichts verloren hatte.
Von ihrer Kajüte aus hatte sie nicht erwartet, dass das Schiff so groß sein würde. Die Luke und ihre Treppe führten nicht an Deck, wie sie ursprünglich angenommen hatte- sondern in einen Gang unter Deck.
Öllampen spendeten ihr warmes Licht, während sie die unterschiedlichen Türen inspizierte. Nasse Fußspuren führten zu einer weiteren Treppe nach oben, um die sie lieber einen großen Bogen machte. Hier unten hörte sie nur das Rauschen der Wellen, das gleichmäßige Knarzen der Planken und hin und wieder den Schlüssel von Sir Ranwic in ihrer Hand klirren.
Auf Zehenspitzen stahl sie sich nach vorne. Hinter irgendeiner dieser Türen würde Adriel und sein Onkel schlafen. Sie vermutete, dass es die war, von der die nassen Fußspuren kamen. Schneematsch. Lecker. Gleich daneben befand sich eine weitere Tür, die als einzige mit einem großen schwarzen Schloss versehen worden war.
Ana sah auf den Schlüsselbund in ihren Händen herab mit einem einzigen großen schwarzen Schlüssel daran. Oh, Sir Ranwic. Das war also die Waffenkammer. Natürlich würde Adriel ein Schloss daran hängen. Im Halbdunkel hier unten rollte sie mit den Augen. Sie würde sich nur einen Dolch ausleihen ... und vielleicht morgen früh wieder zurückbringen. Er würde es überhaupt nicht merken. Trainingszwecke. Keine Messerstecherei. Sie war wahnsinnig, aber nicht diese Art von wahnsinnig.
Die Luft angehalten, schlich sie näher, sah noch einmal in jede Richtung des Ganges und holte dann schmerzhaft langsam den schwarzen Schlüssel heraus. Sie konnte beinahe Judy in ihrem Ohr hören, die ihr ausbuchstabierte auf wie viele Weisen das hier eine schlechte Idee war. Dass sie erwischt werden würde, sich verletzten könnte oder noch schlimmer: Jemand anderen. Dass es keinen Zweck hatte, wenn sie versuchte, sich selbst zu retten.
Aber es funktionierte. Cassys Otter hielt ihr vor Augen, wo sie hinwollte. Weckte in ihr Sehnsucht und Heimweh. Aber ein Dolch in der Hand ankerte sie in dieser Welt. Beruhigte ihren Puls und bremste ihre Gedanken. Mit einem Dolch war es ein klein bisschen weniger unwahrscheinlich, dass sie sich vielleicht doch selbst retten konnte.
Jedes ihrer Nackenhaare stellte sich auf, während sie vorsichtig das Schloss öffnete. Über ihr knarrte etwas und Ana erstarrte, ihr Puls zu laut in ihren Ohren. Was war das Schlimmste, was sie ihr antun konnten? Ihr den Schlüssel wegnehmen, gestand sie sich nüchtern ein. Und das wollte sie auf keinen Fall. Sie brauchte diesen Schlüssel genauso sehr wie Cassys kleinen Otter, den sie mit einer Schnur an ihrem Gürtel befestigt hatte.
Regungslos vor der Tür, war Ana sich sicher, ihre Nerven müssten zerspringen. Sie befanden sich zumindest gerade alle in ihrem Magen und sprangen Trampolin. Doch als nach fast einer Minute kein zweites Geräusch folgte, drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür auf.
Sie lag falsch. Judy lag richtig.
Das war nicht die Waffenkammer.
Sie lag nicht gerne falsch.
Aber gerade, als sie schnell die Tür wieder schließen wollte, knarrte es über ihr noch einmal und jemand hievte die zweite schwere Luke auf. Sie hatte nicht viel Wahl. Mit einem Satz sprang Ana in den kleinen Raum und zog hinter sich die Tür zu. Schwärze schloss sich mit ihr ein, nur durchbrochen durch ein Bullauge, das das silbrige Licht des Mondes einfing.
Ana blinzelte mehrmals, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zwischen ihr und dem Bullauge befand sich ein Gitter, das den Raum in der Mitte unterteilte. Dahinter entdeckte sie einen Eimer, einen Schemel und-...
Ana schlug beide Hände vor den Mund, um den kleinen Schrei zu unterdrücken, der sich bei der plötzlichen Bewegung aus ihr lösen wollte. Sie war nicht alleine. Sh*t. Sh*t. Sh*t.
In der Zelle stand ein Mann. Sie musste ihn überrascht haben, denn er stand mit dem Rücken zu ihr und drehte sich bei dem Geräusch um. Grau und schwarzmelierte Haare standen in wildem Chaos von seinem Kopf ab. Er trug noch immer eine Lederrüstung inklusive Haltung für sein Schwert, doch diese war leer.
Als er sie sah, schoben sich seine buschigen Augenbrauen zusammen, ehe er schließlich lächelte und näherkam. „Besuch. Wie nett." Dreck bedeckte sein Gesicht, wo es nicht ein struppiger, ungekämmter Bart tat. Aber hatte sie Sarkasmus erwartet, wurde Ana enttäuscht.
Bildete sie ihn sich ein? In ihrer alten Welt wäre sie sich sicher gewesen. In dieser gab es farbwechselnde Vögel. Trotzdem machte sie einen überflüssigen Schritt zurück, der ihr Sicherheitsabstand geben sollte und sie mit dem Rücken gegen die Tür drängte. Sie hörte Stimmen dahinter. Dumpf in eine Konversation verstrickt. Ihre Finger tasteten über das glatte Holz, als könne sie einen Mechanismus betätigen, der sie einfach wieder zurück in ihre Kajüte bringen würde. Das hier war nicht das Waffenlager- so viel stand fest. Das hier waren die Zellen. Und sie wollte gar nicht herausfinden, was Adriel zu ihr sagen würde, wenn er sie hier fand.
Als der Mann bemerkte, wie weit sie sich von ihm wegdrückte, schob er seine Hände hinter seinen Rücken und machte einen demonstrativen großen Schritt zurück, bis er direkt neben dem Bullauge stand.
„Verzeih mir, ich vergesse meine Manieren. Ein Mädchen auf einem Kriegsschiff. Das lässt nicht viele Möglichkeiten, wer du sein könntest, Ana."
Ah. Großartig. Sehr höflich für eine Halluzination. Zu höflich. Er musste echt sein.
Ana drückte sich noch ein klein wenig mehr gegen die Tür. Wer auch immer auf der anderen Seite auf dem Flur war, war stehengeblieben und führte seine Konversation direkt davor fort. Sie fluchte innerlich, nicht zuletzt über sich selbst und den Mangel an Dolchen, die ihr hier hätten helfen können- doch schließlich siegte, was sie in der ersten Linie in diese Position gebracht hatte. Sie unterzog den Kerl einer eingehenderen Musterung. „Wer bist du?"
Mit einer ausholenden Geste, deutete er eine theatralische Verbeugung an, die Zirkusdarsteller hätten rotwerden lassen, ehe er verkündete: „Mane Bork. Wir haben gemeinsame Freunde."
Ana kniff die Augen zusammen, doch etwas an seiner entspannten Haltung färbte auch ein klein wenig auf sie ab. (Oder ihr Hirn registrierte endlich die Gitterstäbe, die ihn von ihr fernhalten würden.) Den Kopf schiefgelegt, stieß sie sich von der Tür ab und verschränkte die Arme. Das hier war nicht Facebook. Gemeinsame Freunde bedeutete...
„Du bist ein Rebell."
Mane Borks Miene erhellte sich sichtlich.
„Du doch auch, oder?" Er kam nicht näher, sorgsam darauf bedacht, Ana ihren Abstand zu lassen, aber er lehnte sich nach vorne, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten. „Du würdest ihn auch töten, wenn du so dein Leben von seinem trennen könntest."
Jap, sie sollte definitiv nicht hier sein.
Ana überlegte kurz, einfach aus der Zelle zu gehen. Was an einem blonden, mittelgroßen Mädchen ließ alle Leute hier denken, dass sie eine prima Mörderin abgeben würde? Verspätet kam ihr die Idee, dass die Leute hier vielleicht verrückt erkannten, wenn sie es sahen. Aber sie war nicht diese Art von verrückt. Unzufrieden blieb sie stehen.
„Ich bin nicht wirklich groß in Mord und Todschlag."
Mane Bork zuckte nur mit den Achseln und lehnte sich wieder zurück. „Man wächst mit seinen Aufgaben. Denk nur an die vielen Toten, die er bereits auf dem Gewissen hat." Er sah zur Seite, als erinnere er sich gerade daran, ehe sein Blick sie wiederfand: „Weißt du, was er plant, wenn er Mika'il erst einmal in die Finger bekommt?"
„Sir Ranwic sagt, er kommt in der Hauptstadt vor Gericht."
Aber Mane Borks schallendes Gelächter ließ sie prompt daran zweifeln. Während sie immer wieder nervös zur Tür blickte, wischte sich der Mann in der Zelle die Tränen aus den Augen.
„Keiner von uns wird ein Verfahren bekommen. Ich kann nur froh sein, dass es nur der Galgen ist. Auf Mika'il wartet ein Scheiterhaufen." Er rang nach Luft, als hätte sie ihm den besten Witz seit Monaten erzählt. „Ich habe gehört, sie bauen ihn bereits."
Anas Welt trat in ein Luftloch. Oder so fühlte es sich zumindest an. Verbrennen? Die Vorstellung legte sich wie Pappe in ihren Mund, ließ ihre Lippen trocken zurück.
„Nein...", sie sagte es mehr aus Reflex. Mehr zu sich selbst, um die Bilder in ihrem Kopf schnell wieder zu bannen. Niemand, der sich jemals die Hand an einem Ofen verbrannt hatte, würde irgendjemandem wünschen, das am ganzen Körper zu erleben.
Spontan wollte sich nicht mehr hier sein. Sie tat sich bereits schwer zu schlafen und sie machte sich keine Illusionen darüber, dass dieser Mann es nicht leichter für sie machen würde.
„Warum nicht?", Mane Borks Lachen erstarb, als er schließlich doch näher an die Gitterstäbe herantrat und seine Finger darumlegte, wie um einen Hals, „Denkst du, er ist nicht so grausam? Denkst du, sie werden kein Fest feiern, wenn sie den Weltenwandler endlich erwischt haben?"
Erinnerungen an das blutige Schwert auf dem Marktplatz kamen sie ihr zurück. Der Tote unter dem Baum. Ana wich zurück. Schritt für Schritt, als könne sie so seinen Worten entkommen. Die verstümmelten Körper im Schnee. All das hatte er wegen ihr getan. Und er mochte sie nicht mal. Wer wusste, was er für seinen toten Vater tun würde.
„Die Jägergilde will ihn natürlich erst befragen. Foltern, wenn du verstehst, was ich meine...", fuhr Mane Bork fort, ohne ihr Unwohlsein zu bemerken.
Allein die Vorstellung eines großen Scheiterhaufens ließ sie schwindeln, als würde es in der Zelle schrittweise wärmer werden. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie sie so vertreiben. Einen anderen Menschen verbrennen... Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und die Luft flackerte vor ihrem Blick. Der Schmerz. Der Geruch.
„Du könntest ihn retten, weißt du?", Mane Borks Stimme fiel zu einem sanften Murmeln herab, das nur durch Watte zu Ana drang. "Du könntest so viele retten."
Das Brennen auf der Haut und die Hitze, die niemals abließ. Ana wusste nicht, wie schnell jemand auf dem Scheiterhaufen starb. Wie lange das Leiden war. Aber vor ihr wurde die Vorstellung immer realer, immer-...
Oh nein, die Bilder.
Für einen kurzen Moment glaubte sie einen verwirrten Ausdruck in Mane Borks Gesicht zu sehen, als er seine Hände von den Gitterstäben nahm und sie empfindlich rieb.
Die Planken knackten über ihnen wie Holzscheite in einem Kamin. Anas Puls schoss in ihren Hals. Sie durfte keine Bilder sehen. Sie durfte nicht auch noch in dieser Welt Dinge sehen. Sie musste hier raus.
Haltlos stolperte sie zurück, doch bevor ihr Rücken die Tür treffen konnte, öffnete sie sich. Sie kippte ins Leere und-... „Ana!"
Sie fuhr herum, bevor sich die Halluzination wirklich manifestieren konnte. Adriel brauchte nicht viel mehr. Sein Blick schoss von ihr zu einem besorgt dreinblickenden Mane Bork und er packte Ana am Handgelenk. In einer einzigen schnellen Bewegung zog er sie aus dem Raum und warf die Tür hinter ihnen zu.
Der Knall ließ die Bilder in ihrem Kopf zerplatzen, aber ihr Puls blieb schnell.
Auf dem Gang war es kühler oder so kam es ihr zumindest vor. Unkoordiniert stolperte sie zur Seite, doch Adriel hielt sie fest. Stellte sie auf ihre eigenen zwei Beine und baute sich vor ihr auf. „Du kannst nicht ernsthaft gedacht haben, dass du ihn befreien könntest."
Ana ignorierte die Anschuldigung, immer noch den Bildern in dem Zimmer nachhängend. Immer noch nach Luft ringend, die ihre Lunge nicht versengte und ihrem Kopf kühle Klarheit versprach.
Adriel zog an ihrem Handgelenk, bis sie ihn ansah. Bis er sich sicher war, dass er endlich ihre Aufmerksamkeit hatte. Er ließ selten seine Emotionen in sein Gesicht, doch hier unten, mitten in der Nacht auf einem eisigen Gang, färbte Wut jedes Wort zwischen ihnen rot.
„Wo hättest du mit ihm hingewollt? Wir sind mitten auf dem Meer. Es wäre Selbstmord gewesen. Wenn er dich nicht zuerst erwischt hätte."
Ana starrte ihn für mehrere Sekunden einfach nur an, geschüttelt durch ihre rapiden Atemzüge. Er war wütend? Dann war sie eben auch wütend.
„Du wirst ihn umbringen, nicht wahr?"
Adriel brauchte eine kurze Sekunde, bis er ihr folgen konnte. Bis er sich sicher war, was in ihrem Kopf vor sich gehen musste. Seine grünen Augen bohrten Löcher in ihre Haut, als wolle er sie allein mit seinem Blick zum Rückzug zwingen.
„Bereit, dein eigenes Urteil zu sprechen, ohne das Vergehen zu kennen?"
Ana brauchte nicht viel mehr Antwort. Mane Bork hatte also recht gehabt. Mika'il würde keinen Prozess bekommen. Keine Chance sich zu verteidigen. Ana trat näher an Adriel heran. Erwiderte seinen Blick so wie er sie ansah. Nur dieses eine Mal wollte sie nicht unsichtbar sein. Sie wollte, dass er sie hörte.
„Du sagst, du willst dein Land schützen. Indem die Rebellen deine Männer umbringen und du dann die Rebellen umbringst? Und am Ende ist nichts mehr übrig außer einem großen Leichenhaufen."
Sie wusste, dass sie ihn traf. Spürte das Echo in ihrem eigenen Körper. Aber sein Gesicht betrog nichts. Er steckte es mit einem tiefen Atemzug weg, wie jemand eine Notiz wegpackte, um sie später zu lesen, und machte ihr den Weg frei.
„Geh zurück in deine Kajüte. Wir ändern morgen unseren Kurs nach Cerriv."
Seine ruhige Stimme fühlte sich an wie eine Entlassung. Erinnerungen von Gesprächen mit dem Schulleiter kamen zu ihr zurück. Er musste ihr zuhören. Warum hörte niemand zu?
Entschieden trat sie ebenfalls zur Seite, um weiter vor ihm zu stehen. „Ich habe nicht weniger Recht, nur weil du mich wegschickst. Gewalt löst keine Gewalt. Sie pflanzt nur neue Gewalt."
Adriel massierte sich die Stirn, als würde sie ihm Kopfschmerzen bereiten.
„Dein Idealismus ist wunderbar für eine, die nicht selber kämpfen muss. Wenn es dich glücklich macht, halte daran fest, während alle anderen sich mit realistischen Lösungen abgeben müssen."
Gewalt... realistisch.
Finger für Finger ballten sich Anas Hände zu Fäusten. In ihnen sammelten sich Erinnerungen wie schwarze Tinte. Schubsende Arme. Zuschlagende Schranktüren. Dunkelheit, die sich an sie klammerte. Sie immer noch in ihrem Träumen fand. Ihre Hände endkrampften sich, als in ihr etwas zusammenschrumpfte. Klein wurde, um weniger Zielfläche abzugeben.
„Bist du noch nie verletzt worden?"
... durch ein Fenster gefallen, um Gewalt zu entkommen?
Sie spürte die Tränen, bevor sie fielen, aber sie würde nicht vor ihm weinen. Mit einem Ruck brach sie den Blickkontakt zu Adriel und stürzte an ihm vorbei zu ihrer eigenen Zelle. Genau da, wo er sie haben wollte.
Er hielt sie nicht auf. Die Luke fiel hinter ihr mit einem Rumsen zu, das alles in ihr erschütterte. Beinahe blind tastete sie sich zu ihrem Bett und ließ sich auf die Kante fallen, die Finger um das Holzgestell geklammert.
Hier ging es nicht um sie, hier ging es um Mika'il, versuchte sie sich einzureden. Was sie erlebt hatte, war nur ein dummer Unfall gewesen. Keine böse Absicht. Und wenn sie sich das nächste Mal unauffälliger verhielt und vielleicht ein bisschen besser aufpasste, würde es auch nicht noch einmal vorkommen.
Ohne Vorwarnung drehte sich ihr Magen um. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zu dem Eimer neben dem kleinen Tisch, ehe sie alles herauswürgte, was sie die letzten Stunden zu sich genommen hatte.
Hinter ihr öffnete sich die Luke. Licht fiel quer durch ihren Raum, ehe jemand schwerfällig die Stiege herunterkam. Sir Ranwic stellte die Öllampe auf dem Tisch ab und hockte sich neben Ana, um ihr die Haare zu halten. Er sagte nichts, bis sie sich schließlich von alleine aufrichtete.
Seine blassen Augen schwammen vor Mitleid, als er ihr aus der Karaffe ein Glas Wasser einschenkte und es ihr in die Hände drückte, ehe er sie mit sanftem Druck zu ihrem Bett bugsierte.
„Ihr zwei habt sehr laute Stimmen, die nachts weit tragen."
Leere, die nichts mit der Leere in ihrem Magen zu tun hatte, breitete sich in Ana aus, bis in ihre Fingerspitzen.
„Entschuldigung."
Sir Ranwic machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder. „Ihr habt euch über Mika'il gestritten, nicht wahr?"
Anas Lider senkten sich ein klein wenig. Lockte die Dunkelheit, die ihre süße Gleichgültigkeit brachte. Das Gefühl, nicht mehr kämpfen zu müssen, weil es keinen Unterschied machte, was sie tat oder sagte.
„Ihr habt gesagt, es würde einen Prozess geben."
Sir Ranwic entkam ein leises Seufzen. Er rutschte auf der Sitzfläche bis zu der Kante nach vorne und stützte sich auf seinen Knien ab.
„Den Prozess gibt es bereits. Und wenn Mika'il gefangen worden ist, wird der Prozess endlich zu Ende sein."
Ana sah ihn an, ohne den Kopf zu heben. Bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus.
„Aber er kann sich nicht verteidigen. Was, wenn er unschuldig ist?"
Sir Ranwic zögerte. Warf der offenen Luke einen kurzen Blick zu, ehe er noch näher zu ihr heranrutschte. „Weißt du, warum Adriel auf seinen Thron verzichtet hat, um Mika'il zu jagen?"
Ana hob eine Augenbraue. Sir Ranwic bedeutete ihr, endlich einen Schluck Wasser zu nehmen und erst als sie folgte, fuhr er fort.
„Anderthal hat zwei Throne um der Balance willen. Die zwei Caraiden sollen sich gegenseitig kontrollieren und unterstützen. Ihrem Land dienen und es zu neuer Größe führen. Es gibt sogar Schriften von alten Prophezeiungen, was passieren wird, wenn sich ein Caraid gegen den anderen wendet. Siegel, die gebrochen werden und das Orakel aus seiner Höhle befreit. Aber ich schweife ab..." Seine grauen Augen verloren den Fokus, als die Erinnerungen ihn einholten und Ana mit sich zogen.
„Ich war ein wenig älter als du, als der Partner meines Vaters verschwand. Es geschah über Nacht. Am nächsten Morgen wusste niemand mehr den Namen, wie die Person aussah oder was sie bisher gemacht hatte. Sie war einfach fort und mein Vater alleiniger Herrscher. „Mit beiden Händen fuhr Sir Ranwic sich über das Gesicht, als könne er so abschütteln, was diese Zeit mit sich gebracht hatte.
„Keiner konnte es erklären. Magie in diesem Ausmaß kommt auch in Anderthal nicht einfach vor. Angst griff um sich. Wer hatte so eine Art von Macht? Was, wenn es noch mal passieren würde?", er machte eine unbestimmte Geste in der Luft, „Und dann fanden sie meinen Vater in seinem eigenen Blut. Gerüchte gingen herum. Über Experimente der Seelenweberinnen. Dämonenportale, die ganze Heere ausspuckten. Es war reines Chaos und das Orakel gab keinen Ton von sich."
Ana setzte sich ein Stückchen auf.
„Hatte Mika'il etwas mit dem Verschwinden zu tun?"
Sir Ranwic zuckte nur langsam mit den Schultern.
„Es war mein Bruder, der die Macht ergriff und kurzzeitig für Ruhe im Land sorgte. Aber seine... seine Suche nach dem Mörder unseres Vaters...", mit müden Händen fuhr Sir Ranwic sich über die Augen, „Als die Unruhen ihren Höhepunkt erreichten, kam Mika'il daher und behauptete, dass er wisse, wer der vergessene Caraid sei."
„Ich war es, der meinen Bruder dazu drängte, einem Treffen mit Mika'il zuzustimmen", seine grauen Augen verloren mit jedem Wort den Fokus, „Ich habe Mika'il in den Palast eingeladen und ihn mit meinem Vater im Audienzsaal alleine gelassen.
Es war Beihilfe zum Mord."
Ana öffnete und schloss wieder ihren Mund, ehe sie endlich passendere Worte gesammelt hatte.
„Sie waren Teil der Rebellen?"
„Nein", er sah auf seine Hände, als er mit ihr sprach, „Als das Orakel gefragt wurde, wer Schuld an dem Tod meines Vaters trug, nannte es meinen Namen. Ich hatte den Mord ermöglicht und wenn der richtige Mörder nicht zu Gerechtigkeit geführt werden konnte, würde ich seine Stelle einnehmen müssen. So besagt es das Gesetz."
Aber das war nicht fair. Sir Ranwic konnte unmöglich gewusst haben, was Mika'il vorhatte.
Für einige Herzschläge vergaß Ana ihre Übelkeit und griff seine Hand.
Sie waren zu groß für ihre, doch er erwiderte den sanften Druck mit einem traurigen Lächeln.
„Solange jemand auf der Suche nach dem richtigen Mörder ist, ist der Fall noch offen und ich kann nicht verurteilt werden. Adriel hätte genauso gut meine Hinrichtung in Kauf nehmen und sein Thronrecht erhalten können."
Anas Lippen öffneten sich, doch sie brauchte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Vergeblich. Sie wollte nicht, dass Sir Ranwic vor Gericht musste, aber auch nicht Mika'il. Wenn nicht aus menschlichen Gründen, dann weil sie ihn brauchte.
Sir Ranwic lächelte, als wisse er genau, was ihr durch den Kopf ging. „Adriel wird nicht begeistert sein, wenn er davon erfährt, dass ich dir das erzählt habe. Aber vielleicht", mühsam erhob er sich von seinem Stuhl, „macht es das ja leichter für dich, seine Frustration zu verstehen."
„Wird er mich in Cerriv einsperren?", Ana konnte nicht verhindern, dass ein klein wenig ihrer Angst in ihre Stimme floss.
Sir Ranwic kämpfte für einen kurzen Moment mit seiner Antwort.
„Er wird dich nicht einsperren, weil ihr anderer Meinung seid. Aber er glaubt, dass Cerriv für dich ein sicherer Ort ist, wo dich keiner finden und bedrohen wird." Aber er klang nicht so, als glaube er daran. Und auch Ana wusste, dass so ein Ort nicht existierte.
Erst als er bereits fort war, fiel Ana auf, dass sie seinen Schlüssel nicht mehr hatte.
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"Hier könnte ihre Werbung stehen." -Morgan. Hat Montag.
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