Coole Teenager brechen Regeln. Andere Teenager brechen Fenster.
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Wenn Ana auch nur einen Bruchteil ihres Abschlussjahres retten wollte, würde sie sich bei Colin entschuldigen müssen. Und dazu brauchte sie Nele. Nele war das Nächste, was Ana als Freundin bezeichnen würde. Mit dem feinen, aber prägnanten Unterschied, dass Nele beliebt war, deshalb seltener in Schulschränken eingesperrt wurde und zu Partys ging.
Partys, auf die anscheinend auch Colin eingeladen wurde, der ihr mittags nicht einmal die Tür hatte öffnen wollen, als sie im Nieselregen in seiner Einfahrt stand.
Ana hatte eine verdammt gute Lüge gebraucht, die ein Probetraining in Neles Sprintmannschaft beinhaltete, dass sie abends noch einmal das Haus hatte verlassen dürfen.
„Willst du wirklich im Pulli von deinem Stiefvater auf eine Party gehen?", Nele schwang ihre Trainingstasche auf die andere Schulter, „Hast du vergessen, wie unangenehm dein letztes Outfit-Debakel für mich war?"
Ana zog kopfüber eine Grimasse, ihre Haare in einem Pferdeschwanz zusammenfassend.
„Tut mir leid?" Mit einem Seufzen zog sie den Pulli über den Kopf, stopfte ihn in ihre Sporttasche und folgte ihrer Freundin die Straße hinunter. Sie war sich ziemlich sicher, dass das nicht am Outfit gelegen hatte. Sie hatte keine Einladung für die Party gehabt und musste vier Stunden draußen auf Nele warten, bis die betrunken genug war, ihren Bruder anzurufen. Aber das sagte sie natürlich nicht.
Bilder von schwankenden Jungen kamen zu ihr zurück, die sie energisch hinter eine Wand schob. Hände auf ihren Oberschenkeln. Alkohol auf ihrem Atem. Nele hatte nie gefragt, warum sie beinahe geweint hatte, als ihr Bruder sie endlich abgeholt hatte und Ana wusste, dass Erklärungen überflüssig waren.
„Colin hat die Einladung auch nur als Schweigegeld bekommen, damit er das Fußballteam nicht verpetzt", Nele rümpfte die Nase, „Aber die Party wird so voll sein, dass keiner bemerken wird, wenn du dich reinschleichst."
Ana biss sich auf die Unterlippe. Sie wurde immer überall bemerkt. Manchmal fragte sie sich, ob über ihrem Kopf ein großer grüner Pfeil auf sie deutete, mit den Buchstaben: ‚Achtung Wahnsinnig' in Signalfarbe daneben.
Nele musste etwas ähnliches gedacht haben, denn für einen kurzen Moment verzog sie den Mund, als hätte sie auf etwas Bitteres gebissen. Zögerlich sah sie Ana von der Seite an.
„Sei einfach einmal normal, okay? Ich will nicht noch mal erklären müssen, warum ich mit einem Mädchen abhänge, das mit Stühlen redet und ihrem Doktor das Ohr abgebissen hat."
So viel dazu. Dr. Neill hatte noch beide Ohren, vielen Dank.
Um sie herum gingen die Straßenlampen bereits an, als das Licht des Tages sich hinter den Horizont verkroch. Als Andres Haus in Sichtweite kam, wurden beide Mädchen langsamer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Judy Ana anrufen würde, wo sie abblieb. Sie hatte nicht viel Zeit.
„Nur kurz rein und dann wieder raus", rief sie Nele ins Gedächtnis.
Nele zog ihr eine Grimasse.
„Lass uns etwas trinken und dann sehen wir weiter." Sie sah aus, als wolle sie jeden Moment loshüpfen, die Aussicht auf ein langes Wochenende Grund genug, dass sie sich in ein weiteres Koma trinken würde.
Etwas Schweres machte sich in Anas Hals breit.
„Du weißt, dass ich mit meinen Medikamenten keinen Alkohol-..."
In Andres Haus zwanzig Meter die Straße hinunter öffnete sich im zweiten Stock ein Fenster und jemand brüllte betrunken Neles Namen. Beide Mädchen drehten den Kopf und Nele winkte dem Mädchen begeistert zu, ehe sie sich in Bewegung setzte, Ana am Arm gepackt.
„Wen interessiert das schon? Normale Teenager brechen Regeln."
Aber nicht mit psychiatrischen Pillen. Schlechtes Gewissen legte seine langen krallenhaften Finger um ihren Bauch. Wenn Judy auch nur einen Piep von dieser Aktion mitbekommen würde... Sie wischte den Gedanken weg. Sie würde sich nur ganz kurz bei Colin entschuldigen und dann gleich nach Hause gehen.
Andres Haus lag im besseren Viertel der Stadt, mit einer eigenen Auffahrt und Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Blendete man die bunten Lichter hinter den Fenstern, die roten Becher in den Beeten und die tanzenden Teenager aus, konnte Ana sich vorstellen, wie schön es hier vor zweihundert Jahren ausgesehen haben musste.
Es war dieselbe Kreativität, die ihr auch ihre Träume bescherte. Deshalb wunderte sie es überhaupt nicht, als Bilder von schmiedeeisernen Feuerstellen und Damen in berüschten Kleidern bei einem Picknick im Dunkeln vor ihr auftauchten. Sie waren detailliert und vertraut. Weniger Geister aus der Vergangenheit als Erinnerungen, die sie nicht haben konnte.
Eine von ihnen schenkte Tee aus und der melodische Schall ihres Gelächters driftete zur ihr herüber. „Oh bitte Kaliah, du hast ihm vollkommen um den Finger gewickelt. Wie viele Bücher hat er dir bei seinem letzten Besuch mitgebracht? Zwei Dutzend alte Originale?", lachte eine, viel zu herzlich, um nur höfliche Konversation zu betreiben, „Wann dürfen wir deine Verlobung erwarten?"
Doch sie verschwanden, bevor diese Kaliah eine Antwort geben konnte. Und Ana folgte Nele in das Haus aus schlechter Luft, pulsierender Musik und klebrigem Fußboden.
Nele hatte Recht behalten. Es war voll. Und der Alkoholpegel war bereits so hoch, dass die Luft allein betrunken machte. Niemand drehte sich nach ihnen um, aber Ana verlor Nele beinahe sofort, als sie in der drängende Menge Freundinnen sah und sich zwischen einem tanzenden Pärchen durchdrückte.
In einer Sekunde hüpfte vor ihr ein pinker Dutt hin und her, im Nächsten trug jemand sieben rote Becher hoch über seinem Kopf zwischen ihnen durch.
Ana packte ihre Sporttasche fester, hielt sich daran fest. Sie kannte die Leute. Einige waren aus ihrem Jahrgang, andere sogar in ihrer Klasse. Keiner drehte sich um, um Ana zu begrüßen. Mit einem Seufzen setzte sie an, Colin zu finden. Sie würde die Situation kitten. Sie musste sich einfach nur unauffällig verhalten. Sie übte das jeden Tag.
Aber eine Runde durch das Erdgeschoss des Hauses blieb erfolglos. Es waren mehr Leute da, als sie erwartet hätte, aber in keiner der kleinen Gruppen war Colin. Nicht in der Küche, oder bei den Snacks im Esszimmer, wo irgendeine Betrunkene Shots in jeden Salat kippte.
Entmutigt kehrte sie in die Diele zurück, von der eine Treppe nach oben ins erste Stockwerk hoch ging und nebenan das tiefergelegte Wohnzimmer war, von dessen Decke aus bunte Scheinwerfer über den Boden glitten. Es war laut und roch nach Zigaretten.
Judy würde sie umbringen, wenn sie an ihren Klamotten roch. Oder schlimmer: Sie wäre enttäuscht.
Ihren kleinen Krümel Selbstmitleid festhalten, erklomm sie die ersten Stufen nach oben. Wenn er nicht hier war, würde sie versuchen, in der Schule mit ihm zu reden, ohne dass Mettens es mitbekam und seine Drohung des Rauswurfs noch wahr machte.
Auf der vorletzten Stufe fand sie eine freigelassene Schildkröte. Den Kopf eingezogen zwischen trampelnden betrunkenen Füßen, erinnerte sie Ana an sich selbst. Im Laufen hob sie sie auf und drückte sie gegen ihre Brust. Die musste aus einem der Kinderzimmer entkommen sein.
Im ersten Stockwerk war es bedingt leerer. Einzelne Pärchen und Gruppen steckten im Halbdunkel des Ganges die Köpfe zusammen und vor dem Badezimmer stand eine Schlange. Keiner von ihnen war Colin. Innerlich eine Münze werfend wandte sie sich von der Kloschlange ab und ging in die entgegengesetzte Richtung. Die erste Tür öffnete sich fast nicht. Büro.
Ein Pärchen knutschte auf dem Tisch herum und hatte Akten und Briefe zu Boden geworfen. Die Schildkröte noch immer in der Hand, fragte Ana sich zum ersten Mal, ob das hier oben eine gute Idee war. Sie wollte nicht mit Colin in der Schule reden. Er würde eine Szene machen und mehr brauchte Mettens nicht.
So leise wie möglich, schloss sie die Tür wieder und schlich den Gang weiter hinunter. Es gab anscheinend nur zwei Gründe, warum man hier nach oben kam und Colin stand nicht in der Kloschlange. In einem merkwürdigen Moment stellte Ana sich vor, wie Colin einem Mädchen die Kratzer an seinem Hals zeigte, um sie mit seiner Horrorgeschichte zu beeindrucken. Nur, dass sie das Monster in dieser Geschichte war. Uh. Besser nicht zu viel darüber nachdenken.
Sie öffnete noch eine Tür. Kein Colin, aber ein Terrarium. Es war das Zimmer von Andres kleinem Bruder, das nur von dem blauen Licht eines leeren Terrariums erleuchtet wurde. Zu spät sah sie die drei Kerle, die auf dem Straßenverkehrsteppich saßen und eine Flasche Vodka herum reichten.
Keiner von ihnen sah sie, bis hinter Ana die Tür geräuschvoll ins Schloss fiel.
Shit.
Für den kürzesten aller Momente, überlegte Ana schnell die Schildkröte abzusetzen und wieder aus dem Zimmer zu verschwinden. Es wäre leicht. Es wäre ungefährlich.
Aber machten normale Menschen sowas?
Nein. Es waren einfach nur drei betrunkene Kerle. Sie kannte keinen einzigen von ihnen und vielleicht hatten sie ja noch nicht von ihr gehört?
„Ey, bist du nicht die Verrückte, die Colin die Haut vom Gesicht gerissen hat?" Der große Blonde in der Mitte kam zuerst auf die Füße und machte einen sehr schwankenden Schritt auf sie zu, dem Ana ähnlich langsam auswich-
Sie hatten also von ihr gehört. Wie schön. Mit einem unsicheren Blick zu den Kerlen suchte sie sich ihren Weg zum Terrarium, zwischen dem Chaos aus Büchern am Boden, Spielzeugautos und nicht weniger als sieben Fußbällen hindurch. Sie konnte normal sein. Alles war normal. Niemand wurde nervös.
Aufgeräumt wäre es ein schönes Zimmer. Groß, mit bodentiefen Fenstern, die den Blick auf den Garten freigaben, auf dessen weiten Rasenflächen betrunkene Teenager zu den dumpfen Bässen aus dem Wohnzimmer tanzten.
„Kannst du nicht reden, oder was?" Das war der andere Kerl, der nun ebenfalls aufstand und näherkam.
Shit.
Alles war normal. Sie war normal. Ein normaler Teenager, der eine Schildkröte rettete. Sie wünschte nur, ihr Herzschlag würde ebenfalls das Memo bekommen und nicht ihr Blut in einem derartigen Tempo durch ihren Kopf jagen, dass ihr beinahe schwindelig wurde.
Mit spitzen Fingern setzte sie die Schildkröte in ihr Heim zurück und wünschte sich, genauso im Wasser verschwinden zu können, wo niemand sie anstarrte, als wäre sie eine gefährliche Spinnensorte.
Inzwischen standen alle drei Kerle, jeder ein Stück größer als sie und viel zu nahe. Ana hatte nicht bemerkt, wie nahe sie gekommen waren und zuckte abrupt zurück, als sie sich wieder zu ihnen umdrehte. Der Rand des Terrariums drückte sich in ihren Rücken und gab ein protestierendes Knarren von sich.
Alles war normal. Alles war normal.
Ana war sich sicher, dass Nele an ihrer Stelle einfach einen blöden Witz gemacht hätte, die Wodkaflasche mitgenommen hätte und unten ihren Freunden von den Idioten ihr oben erzählt hätte.
Aber Anas Puls verdoppelte sich bei der physischen Nähe der Typen nur noch. Seitlich versuchte sie Richtung des Fensters auszuweichen, um sich selbst Platz zu geben. Das war genau die Situation, die sie hatte vermeiden wollen. Ihre Finger tasteten hinter ihr über die Raufasertapete.
„Funfact: Ich kann reden, aber ich bin kein großer Fan von engen Räumlichkeiten, also wenn ihr mir ein bisschen mehr Platz geben würdet..."
Keinen interessierte ihren Funfact. Oder aber sie nahmen sie nicht ernst.
„Lust mit uns ein bisschen zu feiern?", nuschelte der braunhaarige schlaksige Kerl, der als Letztes ein klein wenig hinter seinen Freunden zurückgeblieben war. Er schwankte merklich hin und her, sodass der Wodka in der halbvollen Flasche von links nach rechts schwappte.
Lieber hätte Ana sich noch mal in einem Schrank einsperren lassen. Sie stand inzwischen mit dem Rücken zum Fenster, doch die Jungen kamen immer näher. Schwankend aber wie eine solide Wand. Wenn sie rennen würde, würde sie ihnen wahrscheinlich entkommen. Es war nicht ausweglos. Aber bisher waren sie nur freundlich gewesen, richtig? Normale Menschen rannten nicht vor freundlichen Menschen davon. Und sie musste normal sein.
Unten pulsierte der Bass weiter durchs Haus.
Der zweite Blonde, größer und breiter als seine Freunde blieb mit ein wenig Abstand stehen und verschränkte die Arme.
„Du bist doch dieses verrückte Mädchen, nicht wahr? Die ihrer Ärztin das Ohr abgebissen hat?" Er war nüchterner als seine Freunde, mit rot geradenten Augen, die zu langsam wie Hände über ihren Körper wanderten.
Oh, wie sie wünschte, dass das wahr wäre.
Ana wollte die Augen schließen, nur um irgendwie aus der Situation zu entkommen. Die Angst machte sie bewegungslos. Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte nicht hier sein.
Doch in der Sekunde, da sie nicht ganz aufpasste, war der kleinere Blonde nähergekommen und legte ihr einen Arm um die Schultern, der sie in sich zusammenschrumpfen ließ.
„Das macht sie ja gerade erst so interessant", lallte er, sein Atem klebrig auf ihrer Haut.
Ana wollte sie nicht beleidigen. Sie wollte ihnen nicht unangenehm sein. Einfach nur ein weiterer Teenager.
„Ich bin nur wegen Colin hier." Sie hörte selbst die Unsicherheit in ihrer Stimme. Die Wahrheit klang wie eine Lüge.
„Ach quatsch, du hast Zeit", grinste der Braunhaarige und drückte ihr die Wodkaflasche in die Hand, „Trink mit uns. Wir sind richtig nett."
Ana schüttelte den Arm um ihre Schultern ab, doch inzwischen waren die zwei Jungen so nah, dass sie von ihnen förmlich überschattet wurde. Der Dritte stand noch immer breitbeinig in ihrem Fluchtweg durch die Tür.
Dieselbe Panik wie im Dunkel des Schranks tastete sich mit langen Fühlern ihren Körper hinauf. Lautes Rauschen in ihren Ohren, verschwimmende Gestalten, die sich mit alten Erinnerungen mischten. Das Gefühl, die Arme nicht bewegen zu können, während die Wände immer näherkamen. Weiß und weich. Überall. Sie hatte doch nur etwas richtigstellen wollen.
Ana blinzelte heftig, um die Kontrolle zu behalten. Das durfte nicht schon wieder passieren. Sie konnte nicht zurück in die Anstalt.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du echt hübsch bist?", hauchte der kleine Blonde ihr ins Ohr, seinen Arm dieses Mal um ihre Taille schlingend. Seine Hände auf ihrer Haut fühlten sich wie Pranken an, bereit die dünne Schicht ihrer Trainingskleider zu zerfetzten.
Alles ging zu schnell. Ana sah die ausgestreckte Hand, spürte den Zug an ihrem T-Shirt und die Panik nahm Überhand. Es war, als drücke sie jemand unter Wasser. Emotionen schwappten über, provozierten Bilder, die nichts mit den sanften Visionen draußen im Garten zu tun hatten. Sie wollte sich wegdrehen, der Hand ausweichen, doch ihr Fuß verfing sich an einem liegengelassenen Buch auf dem Boden.
Sie hörte den reißenden Stoff, spürte den kühlen Luftzug auf ihren Rippen. Ihr Kopf schlug zuerst gegen die Fensterscheibe und splitterndes Krachen füllte ihre Ohren. Dann war sie im freien Fall. Es ging so schnell.
Und Ana fühlte sich erleichtert.
Kalte Nachtluft griff nach ihrem Oberkörper. Puls rauschte in ihren Ohren, machte ihre Wahrnehmung trübe, ehe ihr Rücken auf Widerstand traf. Der Schmerz setzte Zeitverzögert ein. Lähmte sie, als sie durch die Oberfläche drückte und unterging.
Eisiges Wasser umgab sie und zog sie nach unten. Die Luft war mit dem Aufprall aus ihrer Lunge gedrückt worden. Ihr Zeitempfinden wurde ruckartig langsamer, zäher. Sie sah durch die aufgewühlte Wasseroberfläche den Nachthimmel über sich, dunkel und sternenlos. Ihre verkrampften Muskeln gaben der Erschöpfung nach.
Verschwommen erkannte sie das Fenster, in dem drei Jungen standen und hinunter starrten. Sie öffnete die Lippen und schloss die Augen. Sie hatte eine Szene verursacht. Für den Moment war es ihr egal. Sie hatte es geschafft. Sie war aus dem Zimmer raus.
Eisige Kälte biss in ihre Haut, doch sie wollte sich nicht bewegen. Sie wollte versinken. Der Schwere nachgeben. Dunkelheit wie im Himmel. Keiner redete hier unten über sie. Dr. Neill das Ohr abgebissen- was für ein Blödsinn.
Nur noch einen winzigen Moment länger Frieden...
Dann ruderte sie mit den Armen. Es kostete mehr Kraft, als sie sich selbst noch zugestanden hätte. Ihre Kleider hatten sich vollgesogen und waren schwer. Zähne klapperten lautstark aufeinander, als sie den Rand des Pools erreichte. Ihre Muskeln wurden zunehmend steifer und die eisige Herbstluft machte das Atem schwer, als sie sich hinaus hievte.
Rufe und Gelächter. Sie umgaben sie wie ein Blitzlichtgewitter. Die umstehenden Partygäste, die eben noch von dem Ereignis in der Bewegung erstarrt waren, hoben ihre Becher, holten ihre Handys heraus, um Fotos von ihr zu machen. Von ihrem nackten Oberkörper, mit nicht mehr als einem BH und einem nassen, zerrissenen Shirt.
Ana schlang die Arme um sich selbst und griff ihre Sporttasche, die nur einen Meter weiter auf den Fliesen der Terrasse eingeschlagen war. Heim. Ihre Augen brannten schon wieder, aber sie zwang sich, ihr Kinn zu heben. Sie würde nicht vor den Kameras weinen.
Sie wandte sich der Auffahrt zu. Ohne Nele und ihre Mitfahrgelegenheit würde sie heimlaufen müssen. Und niemand hielt sie auf. Sie hinterließ kleine Pfützen in der Einfahrt und auf der Straße. Zitternd und klatschnass. Ohne Oberteil.
Im Gehen zog sie ihre Marcus Pulli aus der Tasche und streifte ihn über ihre nasse Haut. Was hatte sie getan? Keine Chance, dass Nele oder Judy nicht davon hören würden. Der Schulausschluss war ihr sicher.
Ihre Finger streiften etwas Scharfes, borstiges in der Bauchtasche und ließen sie zurückzucken. Cassys Otter. Sie musste ihn in ihren Pulli geschmuggelt haben. Um ihr Glück zu bringen, sagte sie immer. Ana wischte eine Träne weg und steckte den Otter wieder ein.
Das Vibrieren ihres Handys kündigte eine sehr lange Nachricht an. Judy. Aber für den Moment sah ein verpasster Abschluss wegen Aufnahme in die geschlossene Anstalt gar nicht so schlecht aus. Das Lachen ihrer Mitschüler hallte in ihren Ohren nach wie eine dissonante Symphonie aus Verachtung und Häme. Sie hatten Fotos von ihr gemacht. In Unterwäsche. Morgen würde die ganze Schule diese Bilder haben.
Ana klammerte sich fester an den kleinen Otter, bis die Borsten ihre Haut aufstachen. Doch er fand die beruhigende Gleichgültigkeit, die all ihre verletzten Gefühle leerte und sie einfach nur müde zurückließ. Ihre Finger wurden bereits taub und ihre Zehen schmerzten und den quietschenden Schuhen. Und deshalb nahm Ana die Abkürzung, die sie sich sonst gespart hätte.
Viele Jugendliche hingen noch lange nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen herum, gelangweilt und bereit, ihre Späße zu weit zu treiben. Der heruntergekommene Supermarkt, der seit zwei Monaten leer stand und in den trotzdem mindestens schon vier Mal eingebrochen worden war, markierte die Mitte ihres Heimwegs. Und im Schatten seiner erloschenen Lichter schliefen die Obdachlosen.
Ana sah ihre unförmigen Gestalten, die sich gegen die blauen Wände lehnten. Arme Teufel und wütende Trinker. Sie zog den inzwischen ebenfalls durchweichten Pulli enger und wollte sich beeilen, doch etwas in ihrem Augenwinkel ließ Ana stocken.
Einer von ihnen musste den umtriebigen Jugendlichen in die Queere gekommen sein. Sie hatten ihn als Warnung in den Lichtkegel der Straßenlampen gezogen, blutend zusammengesunken und kaum noch als Mensch zu erkennen.
Ana keuchte zwischen ihre klappernden Zähnen hindurch, als eine fremde Erinnerung das Bild eines anderen blutenden jungen Mannes über das des Obdachlosen legte. Jetzt nicht. Keine kreativen Ideen.
Suchend sah sie sich um, doch außer den Obdachlosen weiter hinten war niemand hier. Keine Gefahr und keine Hilfe. Judy würde sie umbringen. Und ihr kein Wort glauben. Nicht, wenn sie nass und halbnackt nach Hause lief. Gerüchte, dass sie mit Stühlen redeten, waren ihre kleinsten Probleme.
Cassys Otter stach noch immer in ihre Finger. Sie konnte ihn nicht liegen lassen.
Mit bebenden Fingern ließ sie ihn los und kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy, wischte eine weitere Nachricht von Judy weg und wählte den Notruf, auf wackeligen Beinen zu ihm kommend.
Er regte sich nicht einmal, als sie sich neben den Mann kniete und vorsichtig seine langen, weißen Haare aus seinem Gesicht wischte, ihre eigenen Finger kälter als seine Haut. Blut rann von seinem Kopf und sammelte sich in einer schimmernden Pfütze neben ihm. Sie widerstand dem Drang wegzuziehen.
Anas Handy kämpfte mit dem Signal. Konnte sie zurücklaufen und Nele holen? Würde sie kommen?
Sie wollte nicht zurück. Sie konnte nicht zurück. Ihre Muskeln verkrampften sich allein bei dem Gedanken. Sie sah trotzdem auf ihr Handy. Cassy hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Ungelenk und kaum entzifferbar fragte sie, ob Ana rechtzeitig für die Fortsetzung ihrer Gute-Nacht-Geschichte zurücksein würde. Und ob es ihrem Otter gut ginge.
Ein rasselnder Atemzug ließ Ana zurückzucken.
Umständlich griff sie dem Mann unter die Arme und richtete ihn ein Stück auf, besorgt, dass sie ihn noch kälter machen würde, als er wahrscheinlich eh schon war.
Sie hatte sich geirrt. Das hier war keiner der Obdachlosen. Sein Gesicht war alt, aber sauber rasiert und gewaschen. Seine Kleidung war von Blut besudelt und vermutlich im Gerangel zerrissen worden, aber ansonsten tadellos.
Gerade wollte Ana ihn ansprechen, als er mit einem Ruck die Augen öffnete. Golden und klar wie Bernsteine, jagten sie dem Mädchen fast einen größeren Schreck ein als das plötzliche Tuten ihres Handys, das endlich wählte.
Goldene Augen. Sie fokussierte sich auf ihre Farbe, darauf wartend, dass sie sich auflösen würden wie alle anderen Bilder auch. Sowas konnte nicht real sein. Sie schimmerten wie flüssiges Metall im fahlen Licht der Straßenlampe.
Aber sie blieben.
Goldene Augen. Es wurde mehr. Sie konnte es langsam nicht mehr verleugnen. Entweder sie oder die Welt um sie herum verlor den Verstand. Und vermutlich wurden sich die beiden Möglichkeiten nicht einig, wer.
„Es tut mir furchtbar leid, Sie müssen nur noch ein wenig länger durchhalten", murmelte Ana fahrig, doch der Mann hörte ihr kaum zu. Mit zitternden Fingern nestelte er an seiner Jacke herum, bis er eine goldene Kette zum Vorschein brachte.
Anas Herz stolperte. An dem goldenen Band hing ein fein gearbeiteter Anhänger, der ein wenig an eine Uhr ohne ihr Gehäuse erinnerte. Sie konnte kleine Mechanismen und Zahnräder sehen, deren Metall so filigran war, dass sie nicht gewagt hätte, es in die Hand zu nehmen. Darin war ein winziger blasser Stein befestigt, der das Licht der Straßenlaterne reflektierte.
Sollte sie zurück zur Party laufen und Nele um Hilfe bitten? Sie schüttelte den Gedanken ab.
„Sie haben ihre Kette verteidigt?", fragte Ana sanft, den Blick wieder auf die Augen des Mannes gerichtet. Etwas an ihnen stimmte nicht. Als wollten sie nicht zu der restlichen Erscheinung passen, sahen sie viel jünger und wacher aus. Ana schauderte.
Der Asphalt drückte sein raues Muster in ihre Knie und ihre Muskeln protestierten unter der Anstrengung des Tages und der wachsenden Kälte.
Ermutigend hielt der Mann ihr die Kette hin. Er schwenkte sie so entschieden hin und her, dass Ana fast nach hinten umfiel, um ihr auszuweichen. Ihr Handy glitt aus ihrer Hand und fiel knackend auf die Straße.
Ein warnendes Gefühl legte seine eisigen Finger auf ihren Rücken. Judy hatte doch recht. Sie verlor den Verstand. "Ich... ich kann sie nicht nehmen."
Gab es einen Fachbegriff für Angst vor Ketten?
Der Alte streckte seine Hand in ihre Richtung. Energisch nickte er, doch seine eingerissenen Lippen blieben stumm.
Nur eine Kette. Doch Anas Alarmglocken schrillten immer lauter, allein bei dem Gedanken ihm die Kette fortzunehmen. Schreckliches würde passieren, wenn sie das Metall berührte. Da war sie sich sicher. Er musste sie einfach behalten.
„...Was ist Ihr Notfall?", plärrte in diesem Moment Anas Handy, vergessen am Boden, und riss sie aus ihren Gedanken.
Etwas benommen drehte Ana sich um und griff nach dem Gerät. Das Display war kaputt, aber ihr fehlte die Kraft, sich darüber zu ärgern. Gerade wollte sie der Frau am anderen Ende antworten, als warmes Metall ihren bloßen Knöchel berührte.
Für einen Herzschlag war das alles, was sie spürte, während ihr Blick in stummen Horror zu der Hand des Mannes wanderte. Wie ein Ertrinkender hatte er sich an ihr festgeklammert, die Kette zwischen den Fingern.
Ihr Verstand kam ins Stottern und gefror. Er berührte sie. Die Kette berührte sie.
Mit einem scheppernden Geräusch prallte ihr Handy von dem Asphalt ab und sprang einige Meter davon. Das Mädchen bemerkte es nicht einmal.
Mit einem Ruck wollte sie ihren Fuß wegziehen, doch die Kette schien mit ihrer Haut verschmolzen, selbst als der Mann sie losgelassen hatte. Wie eine Fessel schlangen sich die feinen Goldglieder um ihr Bein, wuchsen an ihr hoch.
Ana starrte die faltige Hand immer noch an, während um sie herum die Welt wie Wachs zerfloss. Die Konturen und Farben verschwammen, brachen zusammen und hinterließen nichts anderes als pressende Schwärze. Sie konnte nichts mehr sehen, nichts mehr bewegen.
Und in diese absolute Finsternis kamen die Schmerzen.
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"Ein Stern für die Haphephobie. Die Angst berührt zu werden. Obwohl da nichts von Ketten stand." - Ana. Erfinderin neuer Angstneurosen.
Frohe Weihnachten Beans!
TJ und ich haben das erste Mal unseren eigenen kleinen Weihnachtsbaum, der erst zwei Mal bisher umgefallen ist und kein einziges Mal davon war TJs Schuld :D
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