Caraid Mortair
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„Das war genial." Ana blinzelte hoch in Kaïas verschwommenes Gesicht. Oder zumindest den Teil, den sie hinter der Maske sehen konnte. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie grinste.
Hinter ihr hoben sich frostige Spitzen von Tannenbäumen in einen morgendlichen Himmel und kalter, harter Waldboden drückte in ihren Rücken. Mühsam versuchte Ana sich aufzurichten und bekam von Kaïa eine helfende Hand gereicht.
„Mein Kopf tut weh."
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Alles tat weh. Sie hatte eine Phantom-Messer-Wunde erlitten und sich selbst mit einem Stock bewusstlos geschlagen. Dr. Neill wäre ausgeflippt. Selbst jetzt wanderten die Baumwipfel verdächtig auseinander und wieder zusammen, als könnten sich ihre Augen nicht einigen, welches welche Sichthälfte bearbeiten sollte. Und Nele hatte sich mal aus Sport befreien lassen, weil ihr künstlicher Nagel abgebrochen war.
Kaïa ließ Ana nicht einmal sitzen. Sie zog Ana direkt auf die Beine und gleichzeitig in einen langsamen, schwankenden Gang. Im Laufen zupfte sie an einem schmuddeligen Verband an Anas Bein herum, der bereits drohte, herunterzurutschen.
„Davon gehe ich aus. Du hast dir beinahe den Schädel eingeschlagen."
Sie waren nicht mehr bei der Ruine. Um sie herum war dichter Wald, erhellt durch die ersten morgendlichen Strahlen. Ana konnte nur vermuten, dass Kaïa sie getragen hatte, all ihrer eigenen Verletzungen zum Trotz.
Mit den Fingerspitzen betastete Ana die pochende Seite ihres Schädels. Die Erinnerung war ein klein wenig verschwommen, verzerrt durch die Angst, die sich in jede Windung ihrer Adern eingenistet hatte.
„Ich war sehr motiviert."
„Das war mehr Kampf, als ich dir zugesprochen hätte." Kaïas eigene Schläfe war aufgeschürft und verkrustet. Sie musste Ana am Ellenbogen festhalten, damit sie nicht über jede einzelne Wurzel stolperte, den Blick geradeaus zwischen die Bäume gerichtet, wo eine flache Hügellandschaft sie erwartete.
Ana sah sie nicht einmal von der Seite an.
„Du hast gesagt, ich müsse kämpfen." Sie konnte selbst nicht glauben, dass ihr Plan funktioniert hatte. Sich selbst bewusstlos schlagen, damit jemand anderes einen nicht erwischte? Wenn das nicht die Definition von wahnsinnig war, wusste sie auch nicht. Sie wollte gar nicht wissen, was Judy dazu sagen würde.
Aber Kaïa zuckte lediglich mit den Schultern und schob sie unermüdlich weiter.
„Und dann hast du unser Wasser verschüttet."
Touché. Ana blinzelte in das Licht. Hatte sie erwartet, den nächsten Morgen zu sehen? Bilder des toten Mannes am Fuß des Baumes kehrten zu ihr zurück. Übelkeit stieg in ihr hoch und zwang sie zu mehreren tiefen Atemzügen. Bei ihr bezog sich bodycount bald nicht mehr auf die Nummer von sexuellen Partnern. Jetzt war sie bereit für Therapie. Und ausgerechnet davon konnte sie Dr. Neill nichts erzählen.
Also nutzte sie die einzige ungesunde Verarbeitungsstrategie, die sie kannte und schob all diese Gedanken hinter eine hohe mentale Mauer. Das war ein Ort, an den sie erst wieder sehen würde, wenn sie legal Alkohol kaufen konnte.
Diesen Moment suchte sich Kaïa aus, um etwas aus ihrer Hosentasche zu holen und Ana hinzuhalten. Es war eine kleine Figur eines Otters. Alt, abgenutzt, mit borstigen Barthaaren, die aus sprödem Metall waren.
Ana erkannte ihn sofort. Für einen kurzen Augenblick sprang ihr Herz hoch in ihren Hals und ließ sie sich verschlucken, ehe sie leise herausbrauchte: "Das ist Cassys. Wo hast du den her?"
Es war unwirklich die kleine Figur hier draußen zu sehen, die Cassy stets überall mitgebracht hatte. Ein hässlicher Otter, der jedes ihrer Abenteuer im Garten begleitete. Es war beinahe, als wäre sie wieder in einem ihrer Träume gefangen, endlich mit dem ersten Anker.
Kaïa zuckte nur mit den Schultern, ignorant der Tatsache gegenüber, dass sie damit Ana ein wenig schüttelte. „Der war bei deinen Kleidern dabei. In deiner Hosentasche. Willst du ihn wiederhaben?"
Ana riss ihn ihr beinahe aus der Hand. „Ich dachte, ihr hättet meine Sachen ver-..."
„Ja", schnitt Kaïa ihr das Wort ab und setzte bereits wieder ihren Weg fort, „Ich dachte, ich könnte das Ding bei irgendeinem verrückten Sammler verramschten. Aber vielleicht solltest du ihn lieber wieder haben..."
„Ach, glaubst du?", erwiderte Ana, nicht ganz ohne Biss, doch die gemischten Gefühle, die sie bei dem Anblick des kleinen Stückchens von Cassy überkamen, waren weit entfernt von Zorn. Fest packte sie den Otter, bis seine scharfen Barthaare winzige Löcher in ihre Haut bohrten.
Kaïa, die unwissend oder immun gegenüber Sarkasmus war, antwortete nichts.
Und so fragte Ana Kaïa stattdessen: "Warum sind wir nicht wieder unter der Erde?" Sie steckte ihre Faust in ihre Rocktasche, konnte sich jedoch nicht dazu bringen, den Otter loszulassen.
„Er hat den Eingang zu den Tunneln entdeckt. Er ist schneller als ich erwartet hätte."
Aber er war nicht hier. Sie hatte also recht behalten. Und er hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Er war ernsthaft alleine gekommen. Vorsichtig drehte sie den Otter zwischen ihren Fingern hin und her. Ihr Anker.
„Und wo gehen wir jetzt hin?"
Unter Kaïas Händen spürte sie die plötzliche Verspannung der Muskeln. Etwas an ihrer Frage sandte die Frau mehrere Herzschläge an einen ganz anderen Ort, von dem sie noch mehr Zeit benötigte, zurückzukehren und ihr schließlich zu antworten.
„Es gibt nicht viele, die das Heim der Seelenweberinnen kennen."
Neben ihr blieb Ana stehen und zwang sie so, sie anzusehen.
„Aber du kennst noch jemanden?"
Kaïa sah ihr sehr lange in die Augen, ehe sie schließlich einem inneren Kampf nachgab und nickte.
„Mika'il. Wir müssen Mika'il finden."
Oh no.
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„Sie ist entkommen."
Adriel öffnete nicht die Augen. Er wusste auch so, dass sie ihn schließlich gefunden und zurück in sein Zelt gebracht hatten, das Feldbett eine vertraute Konstante der letzten Jahre. Und so konnte er sie besser spüren. Ein leuchtender Fleck hinter seinen geschlossenen Lidern und ein glühendes Sandkorn auf seiner Haut. „Sie hat mehr Biss, als ich erwartet hätte."
Sein Onkel saß auf einem Stuhl, ein Buch auf dem Schoß, aus dem er nicht aufsah. Er hatte es ihm gleich gesagt, dass er nicht alleine gehen sollte. Er hatte recht behalten.
„Dann lass sie gehen. Wir haben bereits zu viel Zeit verloren."
Zeit, in der er den Weltenwandler jagen sollte.
Ächzend richtete Adriel sich auf und rieb mit dem Handrücken über seine Augen. Seine Schläfe pochte furchtbar bei jeder Bewegung, verschlimmert durch was-auch-immer sie inzwischen tat.
„Sie kennt diese Welt nicht. Sie ist praktisch noch ein Kind..."
Adriels Onkel schloss sein Buch lautstark.
„Sie ist bestimmt faszinierend...", setzte er sanft an.
Ein scharfer Schmerz in beiden Knien ließ Adriel scharf die Luft einziehen.
„... und sie wird uns noch beide das Leben kosten." Wie konnte sie schon wieder hingefallen sein? In einem einzigen Atemzug verfluchte er ihren Namen sieben Mal und schwang die Beine über die Bettkante.
Sein Onkel beobachtete jede Bewegung mit Sorge. Er war stets die warme Figur in seiner Kindheit gewesen. Sanft gegen den harten Fanatismus, mit dem Adriels Vater den Mörder seines eigenen Vaters gesucht hatte. Verständnisvoll, selbst als Adriel dem Orakel den Rücken kehrte.
„Und wohin willst du sie bringen? Damit sie deiner Meinung nach sicher ist?"
Adriel versteckte sein Gesicht in den Händen. Es waren erst zwei Attentate auf ihn gewesen. Aber sie beide wussten, dass mehr folgen würden.
„Cerriv."
Der Name der Stadt fiel wir ein Felsbrocken zwischen sie.
Mit einem dumpfen Laut endete das Buch auf dem Fußboden zwischen ihnen. Sein Onkel hatte sich erhoben, ein Funkeln in den Augen, das Adriel bisher vielleicht ein oder zwei Mal in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
„Cerriv?", wiederholte der alte Mann langsam, als habe er sich verhört. Als hoffe er, er habe sich verhört.
Adriel schloss die Augen, nur um seinen Onkel weiterhin nicht ansehen zu müssen und massierte sich mit zwei Fingern den Nasenrücken.
„Cerriv wäre sicher. Für sie-..."
„... nicht, aber für dich", fiel sein Onkel ihm ins Wort und zwang ihn so, ihn anzusehen. Er beugte sich nicht nach dem Buch, dessen Seiten genickt zu jeder Seite wegstanden, „Cerriv ist gefährlich. Gerade du müsstest das-..."
Adriel hob eine Hand und sein Onkel verstummte. Er musste nicht daran erinnert werden. Nicht an sie erinnert werden.
„Sie ist nicht Kaliah." Die Worte verließen ihn heftiger, als er zulassen wollte.
Und er sah die Folgen sofort im Gesicht seines Onkels. Mitleid und Sorge. Der Alte vertrieb sie mit einem Kopfschütteln, ehe er schließlich eine Schriftrolle aus seinem Ärmel zog.
„Dein Bruder hat geschrieben."
Adriel streckte die Hand aus und Sir Ranwic reichte ihm das Papier. Mit einem weiteren tiefen Atemzug bereitete er sich auf den Inhalt vor und las ihn durch. Darin befand sich keine Überraschung.
„Er stimmt Euch zu, Onkel. Er möchte, dass ich endlich meine Suche nach dem Weltenwandler beginne."
Ruhig faltete Adriel den Brief wieder zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Das war ein Problem, dem er sich später widmen würde. Zuerst würde er ein kleines Mädchen davon abhalten müssen, dass sie ihnen beiden das Genick brach.
Sein Onkel sah das ein wenig anders, doch wie jedes Mal wurde er nicht laut oder bestimmend. Stattdessen half er Adriel auf und reichte ihm einen dickeren Mantel.
„Je früher du ihn erwischst, desto schneller kannst du deine Krone entgegennehmen."
Es war seine Ruhe, die Adriel stets anstrebte. Der Grund, warum er den Mann auf diese Nebeljagd überhaupt mitgenommen hatte.
„Zuerst müssen wir das Mädchen fangen."
Sein Satz bereitete seinem Onkel sichtbare Schmerzen. Er verzog das Gesicht, als hätte ihm jemand eine Zitrone angeboten. Schließlich drehte er seinen Neffen zu sich um und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
„Adriel. Das ist ein direkter Befehl deines Caraiden. Wenn er mitbekommt, dass du ihn verweigerst, könnte er dich-..."
Adriel wusste, was er riskierte. Er brauchte es nicht ausbuchstabiert bekommen. Ohne eine Miene zu verziehen, schob er die Hände seines Onkels von seinen Schultern und griff sein Schwert, das neben dem Stuhl lehnte.
„Dann müssen wir uns eben beeilen."
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Mika'il wusste, dass das Orakel versucht hatte, ihn umzubringen. Warum sonst hatte sie einer Gilde, die speziell auf die Jagd nach Weltenwandlern ausgelegt worden war, den genauen Ort seiner Ankunft verraten?
Wenn er ehrlich war, nahm er es ihr nicht mal übel. Ganz im Gegenteil: Es weckte sein Interesse.
Aber warum musste sie auf einem Berg wohnen?
Der steinige Weg hier hoch war so schlecht, dass jeder Schritt eine kleine Lawine aus Geröll lostrat und Mika'il in den Waden schmerzte. Unbewusst ballte er die Hand zur Faust, mit der er den Jägernovizen umgehauen hatte. Leichen stellten weniger Fragen. Aber der Bursche war knapp in dem Alter gewesen, als er selbst-...
Ihm blieb wenig Gelegenheit, alte Erinnerungen aufzuforsten. Zu seiner Überraschung kreuzten die zwei Wachen am ersten Tor nicht ihre Lanzen, als er näherkam. Sie starrten ihn unter ihren schwarzen Helmen an, der steinerne Bogen über ihnen hängend wie eine Drohung.
Mika'il deutete eine knappe Verbeugung an.
„Ich bin von der Jägergilde unserer Hauptstadt und von meinem Meister geschickt worden, anlässlich der Rückkehr Mika'ils noch einmal alle Orakelsprüche zu ihm zu durchforsten für weitere Hinweise." Mit einem breiten Grinsen zeigte er all seine Zähne.
Das Augenrollen der rechten Wache hätte problemlos einen der Felsbrocken aus dem Himmel holen können, in dessen Schatten sie standen.
„Eure halbe Ordensgemeinschaft befindet sich bereits in dieser dämlichen Höhle. Er hat damals ge-lo-gen. Ich weiß gar nicht, was ihr noch zu finden gedenkt." Doch er trat zur Seite und gab den Blick auf einen kleinen Innenhof frei.
Gelogen? Mika'il hob beide Augenbrauen, fragte jedoch nicht nach. Er war seines Wissens nicht dafür bekannt, immer die Wahrheit zu sagen, aber das klang merkwürdig spezifisch?
Wie eine Terrasse erstreckte sich der Innenhof von dem Berg weg und bot Platz für einen kleinen Stall und ein Schlafhaus für die Soldaten. Der Boden, auf dem sie gingen, war aus einem einzigen Felsbrocken geschlagen, der dieselbe Farbe wie der Berg hatte oder der Eingang zur Orakelhöhle selbst.
Sah Mika'il nach oben, dann erkannte er den negativen Abdruck des feinen Reliefs in einem der schwebenden Felsbrocken. Weinreben breiteten sich von dem Eingang fort über den ganzen Berg aus. Als er dem Eingang näherkam, erkannte er Fratzen und fremde Wesen zwischen den filigranen Blättern hervorlugen. Alles aus Stein. Alles zu perfekt, als dass sie mit Werkzeug hätten erstellt werden können.
„Ich hasse Kirchen", murmelte Mika'il zu sich selbst und zog die Schultern hoch.
Der gesamte Eingang war mehrere Meter breit und fast zwei Mann hoch. Davor hatten sich jeweils links und rechts zwei Soldaten postiert, die stur geradeaus starrten, als er passierte.
Das Innere der Höhle war von mehreren Fackeln erleuchtet, die in Eisenhalterungen in die Wände eingelassen worden waren und zitternde Bilder an die gegenüber liegende Wand warfen. Mika'ils Augen brauchten einen Moment, ehe sie sich von dem grellen Tages- auf das Zwielicht umgestellt hatten.
Auch hier drinnen rankten sich die steinernen Weinreben über den Stein hinein in das Dunkel vor ihm. Vor ihm weitete sich der Gang in eine Weggabelung. Links, wusste Mika'il, wartete das Archiv auf ihn. Gefüllt mit allen Sprüchen, die das Orakel jemals von sich gegeben hatte. Es bestand eine gute Chance, dass er die Antworten auf seine Fragen auch dort finden würde. Aber wie bereits gesagt, er war neugierig.
Mika'il drehte sich nach rechts.
Er konnte den Schein der erleuchteten Berghalle bereits erahnen, bevor er ihren Eingang sah. Als er schlussendlich um die letzte Kurve bog, prallte er beinahe mit einem anderen Novizen zusammen, der von seinen Schritten aufmerksam geworden und nachsehen gekommen war. Verdammter Hall.
Es war ein hagerer junger Mann. Mit wichtigem Gesichtsausdruck und einem Buch vor die Brust geklemmt musste er derjenige sein, der gerade zur Wache vor dem Orakel eingeteilt worden war. Nur für den Fall eben, dass das Orakel sich plötzlich entscheiden würde doch eine Nachricht für die Dumpfbacken zu haben, die ihren Worten glaubten.
„Was machst du schon hier?", fragte der verblüffte Novize ihn und tat einen Schritt zurück, „Die Ablöse ist erst in einer halben Stunde." Er spähte hinter Mika'il, als erwarte er noch eine andere Person, doch als der Gang leer blieb, wandte er sich wieder an den Weltenwandler.
Misstrauen verengte seine Augen und er kam noch einen Schritt näher.
„Du kommst mir so bekannt vor. Haben wir.... Haben wir vielleicht an derselben Gildenschule gelernt?", fragte er nach.
Mika'il unterdrückte ein Augenrollen. Sie hatten also Flyer überall mit seinem Gesicht verteilt. Wie schön! Jetzt wollte er das Orakel umso mehr kennenlernen. Was konnte er ihr getan haben, dass sie ihnen sein Gesicht gezeigt hatte, noch bevor er gewusst hatte, wie er aussehen würde?
Gezwungen setzte er ein breites Grinsen auf, das den Jungen einen Schritt zurücksandte. „Natürlich kennen wir uns! Wir sind einmal gemeinsam gereist, erinnerst du dich nicht mehr? Als ich gehört habe, dass du hier bist, habe ich meinen Meister gebeten, hier her versetzt zu werden", er holte aus und schlug dem Jungen energisch auf die Schulter, dass ihm sein Buch aus den Armen rutschte, „Ich bin hochgekommen, um mich mit dir zu unterhalten, doch dein Meister hat mir gesagt, wenn ich zu viel Zeit habe, soll ich dich früher von deiner Wache ablösen und dich wieder runter in seine Dienste rufen."
Der Novize ihm gegenüber erinnerte sich überhaupt nicht an eine derartige Reise, doch da Mika'il ihm kaum Möglichkeit gab, weiter darüber nachzudenken, sammelte er sein Buch vom Boden auf und begann stattdessen auf den alten Mann zu schimpfen, der vermutlich sein Meister war.
„Ich hätte nach dieser Wache eine Stunde Muße! Das kann der Alte doch nicht machen!"
„Nicht wahr?", nickte Mika'il heftig und schob ihn bereits in Richtung Ausgang, „Da versetzten sie dich in dieses gottverlassene Loch und schuften dich halb zu Tode!"
„Alles nur wegen einem wertlosen Weltenwandler." Er war fast aus der Höhle. Mika'il hatte ihn bereits fast vergessen. „Wen interessiert es, ob er damals etwas gewusst hat oder nicht. Sie sollen ihn einfach kalt machen."
Aber nur fast. Mika'il schloss die Augen, seine Zähne aufeinandergepresst, dass ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Dunkle Erinnerungen holten ihn ein, wickelten sich um ihn wie Schlingpflanzen.
„Warum?", flüsterte er in den Gang hinein, doch der Hall trug seine Worte weiter, „Warum würdest du sowas sagen?"
Er war hinter dem Novizen, bevor der sich vollständig umgedreht hatte. Es war ein einfacher Griff. Den Unterarm auf Halshöhe, legte er dem Novizen die Hand auf die weggedrehte Schulter. Eine leichte Drehbewegung und er hatte ihn in einem Schwitzkasten.
Als der Bursche schreien wollte, drückte er zu.
„Du redest von einem Menschenleben, als wäre es verrottetes Brot." Sein Atem kam so rapide, dass der Satz in Einzelteile zerlegt wurde. „Und wenn ich dich jetzt umbringe, bin ich das Monster, aber wären unsere Rollen vertauscht, wärst du ein Held. Hoch lebe Logik und Gerechtigkeit."
Der Novize kratzte und zerrte an seinem Arm, doch Mika'il war stärker. Röchelnd knickten ihm die Beine weg und der Weltenwandler senkte ihn langsam auf den kalten steinernen Boden.
Er wartete, bis das Strampeln weniger wurde. Nicht, bis der Junge tot war- bewusstlos reichte vollkommen. Dann ließ er ihn fallen und stand auf. Sie wollten ein Monster- sie bekamen ein Monster.
Er starrte auf den Gang hinaus und blockte die Erinnerungen ab, die die Worte des Novizen losgetreten hatten. Stattdessen drehte er sich mechanisch um und ging zum Rand der Höhle. Sie war nicht besonders groß, aber war von einem silbrigen Licht erfüllt das unmöglich von den abwesenden Fackeln stammte.
In der Mitte teilte sie ein ebenfalls silbrig schimmernder Vorhang, der sich leicht bewegte.
Magie. Noch mehr Erinnerungen kratzten an seinen mühsam erschaffenen Wänden. Baten um Einlass. Um Kontrolle.
„Du bist noch genau wie früher", sagte eine scharfe weibliche Stimme, die zu dem Mädchen gehörte, das keine zwei Meter von Mika'il an der Wand lehnte und ihn aus eisblauen Augen ansah.
Sie trug ein dünnes fließendes Gewand und keine Schuhe. Waren Erkältungen in dieser Welt noch nicht erfunden?
Mika'il zeichnete mit der Schuhspitze eine Linie in den sandigen Boden, wo er die Grenze ihrer magischen Höhle spürte. Er wollte die Arme ausbreiten und eine Show machen, aber er fühlte sich nicht mehr danach.
„Wie könnte ich die Erwartungen eines bedeutungslosen kleinen Menschen enttäuschen?"
Ihr Blick wurde giftig. Sie wusste genau, wovon er sprach.
„Du könntest es nicht einmal, wenn du es versuchen würdest. Nenn mir einen Grund, warum ich nicht sofort die gesamte Jägergilde alarmieren sollte."
Ihre Gestalt war klein, mit langen roten Haaren, die sich bis hinunter zu ihren Hüften wellten. Ihre Haut war so blass, dass Mika'il glaubte beinahe durchsehen zu können. Nein, Moment. Er konnte durch sie hindurchsehen.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Stein an den Kopf. Ein humorloses Lachen ließ seine Mundwinkel zucken.
„Du willst mich nicht tot sehen." Und damit trat er in ihre Höhle.
Das rothaarige Mädchen entblößte eine Reihe spitzer Zähne und machte einen Schritt auf ihn zu. „Ach nein?"
Mika'il lehnte sich ein Stück von ihr weg. Wenn er nicht eben selbst gesehen hätte, dass ihre Füße den Boden berührten, hätte er angenommen, dass sie schwebe.
„Sonst hättest du ihnen nicht den falschen Ankunftszeitpunkt gegeben."
Sie schwebte so nahe vor seiner Nase, dass ihm schauderhaft bewusstwurde, dass sie keinerlei körperliche Wärme abgab. Ein langer Fingernagel tippte auf die Narbe durch seine Augenbraue.
„Sie haben dich noch erwischt, oder nicht?"
Mika'il tat einen entschiedenen Schritt von ihr weg, damit er nicht ihre Hand wegschlug, wie eine lästige Fliege.
„Ich liege bei jeder Weltenreise durchschnittlich zehn Minuten bewusstlos am Boden. Mehr als genug Zeit, um mich auszuschalten. Aber stattdessen stehe ich in deiner Höhle mit einem Kratzer durch die Augenbraue." Er machte einen eleganten Schlenker um sie herum und begann sich die Höhle genauer anzusehen. „Eine merkwürdige Art der Einladung, aber wie du siehst, hast du meine Aufmerksamkeit."
„Du schuldest mir etwas." Er hörte das Zähneblecken in ihren Worten und warf einen Blick über seine Schulter.
Hinter ihm stand niemand.
Was zur-...
Er drehte sich um.
Direkt vor ihm schlug die Luft Wellen. Das Bild, das er eben noch gesehen hatte, verzerrte sich und verschwamm, bis plötzlich eine zierliche Blondine vor ihm stand, die erschreckende Ähnlichkeit mit einer Puppenversion seiner letzten Trägerin hatte.
Er zog die Nase kraus.
„Ich bezweifle, dass ich einem Blutsauger etwas schulde."
„Wir trinken hier kein Blut. Zu weit entfernt von unseren Elementen", stellte die Puppen- Ana fest und verzog ihren Mund zu einem breiten Lächeln. Es wirkte wie aus einem schlechten Horrorfilm.
Luftdämonen mochte er am wenigsten. War was Persönliches. Sie standen nur mit einem Bein in der hiesigen Dimension, was ihnen die Macht verlieh, in die Zukunft oder andere Welten zu sehen. Es war zwar selten, dass Dämonen freiwillig ihre Geburtswelt verließen, aber sie waren Dank dieser Gabe durchaus dazu im Stande. Es sei denn jemand sehr dummes mit viel Wissen über Dämonen schaffte es, sie in einer Höhle einzusperren.
„Wer hat dich hier drinnen festgesetzt?"
„Diese dämlichen Seelenweberinnen... mit deiner Hilfe", sie folgte ihm auf den Vorhang zu, hinter dem sich ein Bett und zwei merkwürdig rote Sessel befanden, „Aber keine Sorge. Ich werde meine Rache bekommen." Sie flötete den Satz mehr, als ihn zu sprechen.
„Und warum kann ich mich an nichts von all dem erinnern?", fragte Mika'il, einen Finger zögerlich nach einem Sessel ausgestreckt, doch irgendwas an seiner Textur ließ ihn zurückziehen, „Warum würde ich einen Luftdämon in einer Höhle einsperren? Ich habe eigentlich interessantere Hobbies."
Sie fauchte leise, doch als er sich zu ihr umdrehte, war ihr Gesicht engelsgleich. Zu süß.
„Vieles ging damals durcheinander. Ein Caraid verschwindet aus allen Gedächtnissen des Landes. Sein Partner wird kurz darauf umgebracht und als dessen Sohn zu viele Fragen stellt, kommst du daher und ermordest ihn ebenfalls. Weckt das dein Gedächtnis?"
Er sah sie für einen Lidschlag an, bewusst jede mögliche Erinnerung zurückdrängend für einen ruhigeren Moment, in dem er sie auseinandernehmen konnte. Wie hatte er all das vergessen können? Doch anstatt ihr den kleinen Sieg zu gönnen, pflasterte er stattdessen ein breites sarkastisches Grinsen auf sein Gesicht und ahmte ihren honigsüßen Tonfall nach:
„Oh nein, du machst dir die Mühe den perfekten Thronsitzer zu finden und die Leute spielen einfach nicht mit? Ich bin mir sicher, das hat dich richtig angepisst."
„Ich habe meine Wege, sie in der Spur zu halten. Es gibt zwei Throne aus gutem Grund. Sogar die Seelenweberinnen wurden so panisch, dass sie zu experimentieren begonnen haben. Und dann kamst du und behauptest, ausgerechnet du wüsstest, wer der vergessene Caraid ist. Aber statt einer großen Enthüllung tötest du den Usurpator. Nur so zwischen uns... das klingt nicht sonderlich glaubwürdig, oder?"
Das war ihm auch schon aufgefallen. Auch wenn Khan gegenteiliges behauptete... er war selten politisch motiviert.
„Weißt du, wer den letzten Caraid hat verschwinden lassen? So als Orakel?"
Oh, sie wollte ihn umbringen. Es stand in jeder Faser ihres durchsichtigen Seins. Aber etwas hielt sie zurück. Ließ sie die Zähne blecken und ihre langen krallenhaften Fingernägel zeigen, aber nicht in sein Fleisch rammen.
„Die Magie ist meiner ebenbürtig", war alles, was sie herausbrachte, „Aber mach mit mir einen Handel und ich finde es mit dir gemeinsam heraus."
Magie ebenbürtig zu der eines Luftdämons. Mika'il zog die Brauen hoch und nickte stumm. Das war ein großer Batzen Magie, der anscheinend noch immer seinen Preis forderte. Jeder, der als nächstes auf dem Thron saß endete irgendwie unter der Erde? Kein Wunder, dass der Nachtfuchs lieber hinter ihm her hetzte. Er würde sich da ebenfalls raushalten, danke schön.
„Ich mache keine Geschäfte mir Dämonen."
Das Orakel marschierte federleicht an ihm vorbei und ließ sich in den Sessel gleiten, der schmatzend nachgab.
„Und doch bist du hier."
Mika'ils Gesicht verzog sich bei dem Geräusch, als hätte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Selbst wenn sie kein Luftdämon gewesen wäre, den er irgendwann mal in eine Höhle gebannt hatte.
„Ich war neugierig, jetzt...", er zuckte mit den Achseln und wandte sich zum Gehen, „... bin ich es nicht mehr."
Sie lachte trocken und räkelte sich auf dem Sessel, der zu seinem Schock Farbe an sie abgab. „Sei nicht langweilig, Mika'il. Du hast noch mehr Fragen. Du brauchst Antworten."
Mika'il rollte mit den Augen und blieb stehen. Er brauchte Antworten. Er musste irgendwie raus aus diesem Land, in dem Kronträger wie Fliegen starben und die Magie sich anscheinend nicht mehr an ihre eigenen Regeln hielt. Aber Dämonen waren ein Fall für sich.
Er drehte sich leicht, bis er sie im Augenwinkel sah.
„Du konntest mir bisher keine einzige Frage beantworten. Was für eine Art allwissendes Orakel bist du?"
Sie grinste so breit, dass er ihre spitzen Zähne zählen konnte.
„Eines, das nur für eine Abmachung hilft."
Die Falten auf Mika'ils Stirn drohten, erste Linien zu hinterlassen. Er hatte bereits eine Abmachung in dieser Welt getroffen. Unbewusst griff er nach seinem Unterarm.
„Was für Informationen hast du?"
Der Luftdämon tauchte so plötzlich in ihrer rothaarigen Gestalt vor ihm auf, dass er zurücktrat.
„So leicht wird das nicht für dich werden. Ich will dein Wort, dass du mir helfen wirst."
Oh nein. Nicht schon wieder. Er lächelte wächsern und lehnte sich noch weiter von ihr fort.
„Gib mir erst eine Kostprobe."
Er spürte ihre Präsenz wie eine kalte Hand im Nacken, wie sie ihn musterte. Überlegte. Austastete.
Schließlich sagte sie:
„Deine Trägerin ist nicht zum ersten Mal in eine andere Welt gereist."
Mika'il blinzelte. Ana hatte das zweite Gesetz des Weltenwandelns also auch gebrochen? Gleichzeitig mit ihm. Und er hätte Khan verwettet, dass das auch etwas mit dem Verschwinden seines Schlüssels zu tun hatte. Aber eher würde er sich in den Sessel setzen, als seine Überlegungen mit ihr zu teilen.
Er sah den Dämon an, wie sie ihm nur bis zum Kinn reichte. Durchsichtig mit spitzen Zähnen, die einem die Kehle herausreißen konnten, so leicht wie andere Papier aufrissen. Er brauchte Khan nicht, um zu wissen, dass das eine furchtbare Idee war. Allein die Überlegung. Er packte seinen Unterarm fester.
„Ich will wissen, wie ich aus dieser Welt wieder verschwinden kann."
Sie nickte ein einziges Mal.
Mika'il verfluchte sich innerlich und grinste.
Das war eine furchtbare Idee.
Aber furchtbare Ideen waren genau sein Ding.
„Deal."
Dieses Mal kam er Schmerz in seinem Rücken, zwischen seinen Schulterblättern. Er blendete ihn, ließ ihn hissend nach vorne kippen und gerade als er glaubte sich auf den Rücken werfen zu müssen, ebbte er wieder ab.
Ihr Grinsen wurde katzenhaft, wie jemand, der seine Beute fest verknotet im Spinnennetz fand. Entspannt schlenderte sie zu den Vorhängen zurück, die ihren privaten Teil der Höhle abtrennten.
„Drei Dämonensteine zirkulieren in dieser Welt. Zwei sind verschwunden. Einer wurde dazu genutzt, deine Trägerin hierher zu bringen."
Mika'il drehte sich mit ihr um, die Augen skeptisch zusammengekniffen, leicht außer Atem von den abflauenden Schmerzen. „Ein Dämonenstein kann Dämonen in jede beliebige Welt bringen."
„Oder jemanden im Besitz von Dämonenblut", korrigierte sie ihn, eine Hand noch an einem der Vorhänge, um ihn zur Seite zu schieben. Sie pausierte dort, erlaubte ihm seine Gedanken zu sortieren.
Mika'il zog eine Grimasse und rollte die Schultern probehalber zurück. „Du willst, dass ich einen Stein finde und dich hier rausbringe."
„Wir könnten heim gehen." Der Blick, den sie ihm über die Schulter zuwarf, war weicher. Beinahe... hoffnungsvoll.
Mika'il schnaubte, weil es der leichteste Weg war, alles in ihm abzuwehren. „Zu Mom und Dad? Absolut nicht. Such dir eine andere Welt aus."
Sie bleckte die Zähne. „Wir können die Details besprechen, wenn du den Stein hast. Finde ihn und bring ihn zu mir."
Ein Dämonenstein war kein Schlüssel. Gänsehaut breitete sich auf Mika'ils Armen aus. Es war besser.
„Was ist, wenn ich scheitere?"
Sie drehte sich nicht noch einmal zu ihm um. Sie verschwand zwischen den Vorhängen, als hätte sie niemals existiert. Als wäre sie selbst nicht mehr als eine Falte der Realität. Lediglich ihre körperlose Stimme füllte die Höhle.
„Dann werde ich dir zeigen, was passiert, wenn ich dich wirklich tot sehen will, Caraid Mortair."
Königsmörder.
Der Titel legte sich klebrig auf seine Haut. Mika'il klatschte in die Hände. „Großartig."
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"Wenn es nur 20 Kapitel braucht, bis endlich klar wird, warum das Buch heißt, wie es eigentlich heißt!" - Mika'il, kein Freund von Morgans Pacing :D
Es gibt echt eine Handvoll von euch, die ihr stoisch die Geschichte lest :D
Nice!
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