
Kapitel 2
Eine Woche später war die Beerdigung und noch am selben Tag packen mein Bruder Henry und ich unsere Sachen, denn wir ziehen erstmal nach London in das Haus unserer Tante Maggie.
Eine Woche ist vergangen und der Schmerz ist genauso groß wie am Anfang.
Henry leidet so sehr wie ich und deshalb beschlossen wir, erst einmal Abstand zu nehmen, damit wir unsere Trauer besser verarbeiten können.
Henry, Maggie und ich schlafen zu Beginn zusammen in einem Bett, um uns in der Nacht gegenseitig zu beruhigen, wenn einer von uns einen Alptraum hatte.
Irgendwann hörte Henry auf, zum Fußballtraining zu gehen, wo unsere Eltern ihm immer zu sahen, aber wenigstens geht er noch zur Schule, im Gegensatz zu mir. Ich schaue mir lieber die übrig gebliebenen Sachen von unseren Eltern an. Die Erinnerungen an sie fühlen sich so lebendig an, fast, als könnten sie jeden Moment freudig zur Tür hereinkommen.
So gegen fünfzehn Uhr am Nachmittag kommen Henry und Maggie von der Schule beziehungsweise von der Arbeit. Schon vom Weiten sehe ich ihre Trauer und das schnürt mir die Brust zu, sodass vereinzelte Tränen über mein Gesicht fließen und anschließend auf dem Boden landen.
Bei Maggie sehe ich ebenfalls Tränen in den Augen. Sie hat ihre Schwester verloren.
Ich könnte mir nicht ausmalen, wie es wäre, Henry ebenfalls noch zu verlieren...
Maggie hat zwei Töchter, von denen ich ebenfalls glaube, dass sie so nett sind wie ihre Mutter.
Aber weit gefehlt.
Als wir das Haus betreten, werden wir von zwei verärgerten jungen Mädchen begrüßt und Melissa, die ältere der beiden empfing uns mit schrecklichen Worten: ,,Schaut euch diesen hässlichen, gehörlosen Waisen an."
Abweisend verschränkt sie ihre Arme über der Brust. Sarah, ihre kleine Schwester, lacht hämisch und nickt zustimmend.
Die beiden stecken ihre Köpfe zusammen und lachen.
Und es tut so verdammt weh.
Ich drehe mich um und renne schnurstracks hinaus, einfach irgendwo hin, am besten ganz weit weg. London ist groß, da werde ich schon eine Möglichkeit finden, mich zu verstecken.
Ich renne schon eine ganze Weile und irgendwann bleibe ich Nahe des Stadtrandes stehen, wo ich vor einem kleinen Park mit einem kleinen Wald zum Stehen komme.
Früher bin ich immer in einen Wald nahe unseres Hauses gegangen, wenn sich meine Eltern gestritten haben oder wenn mir ihr anschließendes Schweigen zu viel wurde. Bald wurde er zu meinem Lieblingsort, wo wir im Sommer im See baden gingen und im Winter, wenn es kalt genug war und er zugefroren ist, Schlittschuh gelaufen sind.
Wie sehe ich mir die alten Zeiten zurückwünsche...
Ich renne weiter und werde immer schneller. Ab und zu bleibe ich stehen, um ein paar Schilder zu lesen oder kurz Luft zu holen.
Rennen ist einer meiner Hobbys, sodass ich eine gute Ausdauer entwickelt habe und auch ziemlich schnell sein kann.
Ich rase weiter, bis mir ein Schild mit der Aufschrift ,,Victoria Line" ins Auge sticht.
Die Züge, na klar. Sie können mich von hier fortbringen, am besten ganz weit weg von allem.
Ich greife in die Taschen meiner Jeans und fühle zum Glück ein wenig Geld, womit ich mir das Ticket in die Freiheit kaufen kann.
Voller Überzeugung renne ich die Treppen geradewegs zu den Gleisen hinunter, bis ich an deren Ende abrupt anhalte.
Was soll aus Henry werden, wenn ich gehe?
Und aus Tante Maggie?
Jetzt wird es lor erst so richtig bewusst: meine Eltern sind zwar gegangen, aber ich habe eine tolle Tante und einen fantastischen Bruder und wir können uns gegenseitig Kraft spenden.
Ich bin nicht alleine... nein, ich kann sie nicht zurücklassen.
Henry und Maggie sind meine Familie und die lasse ich nicht mit den Bitches von Cousinen alleine.
Schnell drehe ich mich wieder um, sodass ich fast zur Seite kippe und sprinte die Treppen wieder nach oben. Ich bin so überzeugt von meinen Gedanken, dass auch die restliche Welt komplett ausblende, was durch meine Taubheit nicht sonderlich schwer ist.
Ruckartig werde ich zurück geschleudert und lange hart auf meinem Hintern, wobei mir etwas aus der Hosentasche rutscht. Ich schaue nach oben und sehe einen Fußgänger, mit dem ich gerade kollidiert bin. Genauso wie das Auto meiner Eltern...
Hastig schüttel ich den Gedanken ab und richte mich auf, wobei ich vor Schmerz meinen Hintern reibe.
Verwirrt sehe ich mich um. Ich habe Die Welt so sehr ausgeblendet, das ich komplett woanders gelandet bin. ,,St, James Park.", steht über dem Eingang. Ah ja, jetzt weiß ich wieder, wo ich bin.
Eine Hand auf meiner Schulter lässt mich erschrocken zusammenzucken. Ich sehe hoch und stehe einem Mann gegenüber, der hektisch nach Luft schnappt.
Er schaut mir direkt in die Augen.
,,Das ist dein Handy, oder?", fragt er und hält es in die Luft. Ich nicke still und schaue ihn einfach nur an.
Er ist ein wenig älter, aber er sieht recht hübsch aus und trägt den typischen Business-Look: einen schicken Anzug und einer Krawatte. Mit ihm bin ich wahrscheinlich zusammengestoßen.
Er fuchtelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht, sodass ich wieder im Hier und Jetzt lande. Er spricht zu schnell, sodass sich seine Lippen ganz schnell bewegen und ich die Wörter nicht ablesen kann.
Als er seinen Redefluss gestoppt hat, guckt er mich ärgerlich an.
Oh nein.
,,Alles in Ordnung?", fragt er dann.
Ich zeige mit meiner Hand auf mein Ohr und schüttel dazu mit meinem Kopf und bete zu Gott, dass er versteht, was ich ihm mitteilen möchte.
,,Du bist taub?", rät er richtig.
Gott sei Dank.
Ich nicke und lächle ihn leicht an, woraufhin er unterstützend seine Hände zu seinen Worten benutzt.
,,Du solltest vorsichtiger sein. Hier in London weiß man nie, wer einem begegnet.
Er endet und ich schaue mit großen Augen weg von seinen Händen, geradewegs in sein Gesicht.
Glücklicherweise kenne ich die Gebärdensprache, denn dies war das erste, was ich nach dem Unfall erlernen musste.
,,Ich brauche nicht aufzupassen, denn ich möchte so schnell es geht hier weg.", zeige ich ihm.
,,Vor was bist du denn gerade weggelaufen?", fragt er mit der einen Hand, während er mich mit der anderen Hand in ein Café hier im Park zieht.
Schnell lässt er mich wieder los, sodass die angenehme Wärme verschwindet und eine unangenehme Kälte an dessen Stelle tritt.
,,Wer sagt, dass ich vor etwas weggelaufen bin?", frage ich zurück, woraufhin er mich eindringlich ansieht.
Seufzend beantworte ich ihn seine Frage: ,,Ich bin vor meinen schrecklichen Cousinen geflüchtet."
,,Und du? Wer bist du?", wechselt er dann zum Glück das Thema.
Aber soll ich einem wildfremden Mann einfach meine persönlichen Daten mitteilen?
Egal, was soll schon groß passieren.
,,Joshua Crane und du?" Wenn er meinen Namen kennt, will ich auch seinen wissen.
,,Ich bin Matthew Johnson und wohne auch erst seit Kurzem hier."
Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.
Heißt einer aus meiner Schule so?
Nein... ich kenne ihn aus dem Fernsehen. Ich weiß zwar nicht, um was es da ging, aber es sah ziemlich wichtig aus.
,,Willst du noch irgendwo hin?", fragt er mich, nachdem wir unseren Kaffee bekommen haben.
,,Ich möchte mir gerne diesen Park näher ansehen.", gebe ich zu und hoffe, er ist mit meinem Vorschlag einverstanden.
Mit einem hoffentlich hoffnungsvollen Blick schaue ich zu ihm auf und er erwidert meinen Blick mit einem Lächeln.
Schon lange hat mich keiner mit diesem unbeschwerten Lächeln angesehen, sodass mir ganz warm ums Herz wird.
Es ist genau diese Art von Lächeln, die mein Herz höher schlagen lässt. Es ist ein sympathisches Lächeln, welches seine Augen leuchten lässt. Es ist ein aufrichtiges, wahres Lächeln.
Er folgt mir hinaus aus dem Café und eine große Vorfreude auf den anschließenden Spaziergang kommt in mir auf, welchen ich an der Seite von Matthew Johnson machen darf.
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