Neun
Am kommenden Tag begrüßte Helen mich bereits mit einem freudestrahlenden Lächeln, bevor ich überhaupt durch die Ladentür getreten war. Hinter ihr stand Duncan vor der Kaffeemaschine – wo sonst.
»Hey, Jules! Hast du Dienstagabend schon was vor?« Sie wedelte aufgeregt mit dem Handy zwischen ihren schmalen Fingern, wobei die zierlichen Silberarmbänder an ihrem Handgelenk klimpernd aneinander schlugen, als versuchten sie sich verzweifelt an einer Melodie.
Ich nahm mir Zeit, näher zu kommen, um meine Antwort nicht durchs gesamte Café schreien zu müssen und in Gedanken meinen spärlichen Terminkalender durchzugehen. »Ich glaube nicht.« Bevor jemand nachhaken konnte, fügte ich hinzu: »Da habe ich einen Termin.« Bei meiner neuen Psychologin. Ich wollte noch ein »Warum?« nachschieben, doch mein Mund wollte das Wort einfach nicht laut aussprechen.
Jetzt drehte sich auch Duncan zu uns um. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände; die Kaffeemaschine musste ihn mal wieder den letzten Nerv kosten. Er bemühte sich um ein einigermaßen freundliches, wenn auch verkrampftes Lächeln. Heute zog ich sogar in Erwägung, es zu erwidern, doch mein Gesicht war wie erstarrt. Mir war einfach nicht nach Lächeln zumute. Nicht nachdem Chloe sich gestern wieder aufgeführt hatte wie die Mutter einer Zwölfjährigen, und nicht nachdem ich heute Morgen in der Dusche hatte feststellen müssen, dass meine Silberkette verschwunden war. Schon wieder. Vor der Arbeit hatte ich noch einen Abstecher in den Wald gemacht, allerdings war das Glück diesmal nicht auf meiner Seite und die Kette unauffindbar geblieben.
»Oh, okay«, riss Helen mich aus meinen Gedanken. Sie klang ein wenig enttäuscht. »Da macht nämlich ein neues Schwimmbad im nächsten Ort am Montag auf und Duncan und ein paar andere Freunde und ich wollten dort zusammen hingehen. Ich hab gedacht, du hast vielleicht Lust mitzukommen? Aber wir könnten es auch auf Montag verschieben. Da ist zwar die Eröffnung und es ist wahrscheinlich mehr los, aber wir können es ja versuchen.«
Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich aus der ganzen Sache herausreden sollte, ohne Helen vor den Kopf zu stoßen. Wie von selbst wanderte mein Blick zu meinem linken Arm, der sicher unter dem schwarzen Rollkragenpullover verborgen lag. »Das ist echt nett von euch, aber ich bin sowieso keine Wasserratte. Ich gehe nicht so gerne ins Schwimmbad. Geht ihr lieber alleine.«
Obwohl Helens Gesichtszüge immer weiter nach unten sackten, gab sie nicht auf. »Wir könnten auch etwas anderes unternehmen, oder Duncan?«
Von der Kaffeemaschine kam ein wenig begeistertes, aber zustimmendes Grummeln.
»Ins Schwimmbad können wir am Dienstag ja trotzdem gehen, aber am Montag könnten wir was mit Jules machen. Was haltet ihr davon?« Erwartungsvoll blickte sie uns nacheinander an.
»Können wir machen«, nuschelte Duncan.
Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag. Alles in mir sträubte sich dagegen, meinen Abend mit einer Gruppe Fremder zu verbringen. Andererseits hatte ich mir als Ziel gesetzt, neue Kontakte zu knüpfen. Freunde zu finden. Meine Angst zu überwinden. Und wie sollte mir das gelingen, wenn ich immer wieder zurück in alte Muster verfiel? Wie, wenn ich meine Komfortzone, mein Schneckenhaus nicht verließ?
Schließlich rang ich mir ein Lächeln ab. Wie es auf Außenstehende wirkte, wollte ich lieber gar nicht wissen. »Das wäre cool.«
»Okay, perfekt! Ich erstelle eine Gruppe und dann können wir besprechen, was wir machen«, beschloss Helen und klatschte motiviert in die Hände.
Eine Gruppe. Auf WhatsApp. Meine Erinnerungen daran waren nur noch verblichene Fotos in einem Album, verdeckt von der milchig-weißen Schutzfolie.
»Dann lasse ich euch beiden mal alleine und hopse in meinen wohlverdienten Feierabend«, verkündigte sie fröhlich und schulterte ihre Handtasche. Ich sah ihr zu, wie sie die Tür öffnete und anstatt normal über die Schwelle zu treten, einen kleinen Hüpfer machte. Diesmal konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Bevor die Tür ins Schloss fiel, drehte Helen sich noch einmal um und schenkte mir ein unbeschwertes Grinsen.
»Schaust du nach den Gästen?«, murrte Duncan. »Bitte.« Seine Beziehung zu der Kaffeemaschine, wie Helen es nannte, gestaltete sich scheinbar als ziemlich schwierig. So heiß und innig er sie auch liebte, sie brachte ihn durch seine störrische Art zusehends zur Weißglut.
»Ja, ich ziehe mich nur noch um.«
Im Hinterzimmer öffnete ich meinen Spind und beförderte meinen weißen Hoodie mit dem TEA UpTEAll 10 Logo zutage. Ich würde mich wieder zu Tode darin schwitzen, aber das T-Shirt war keine Alternative. Auch nicht in ein paar Tagen, auch nicht im Sommer, auch nicht bei dreißig Grad im Schatten. Niemals.
Mein Handy vibrierte und ich zog es aus meiner Tasche. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Helen hatte mich soeben zu einer neuen Gruppe hinzugefügt und die Zahl der Mitglieder stieg und stieg. Früher hätte ich damit noch kein Problem gehabt, doch jetzt lagen die Dinge anders. Mein Lächeln verblasste, als ich durch die Liste der unbekannten Nummern scrollte. Insgesamt zählte ich acht, darunter Helen – die einzige Person, deren Nummer ich kannte.
Seufzend warf ich das Handy zurück in meine Tasche und verstaute alles in meinem Spind. Ich hatte mir gerade meinen Pullover über den Kopf gezogen und in den Schrank geworfen, als sich die Tür schwungvoll öffnete. Erschrocken keuchte ich auf. Zwar trug ich über meinem BH noch ein Unterhemd, doch es konnte nicht verdecken, wofür ich mich am meisten schämte.
Es war Duncan, der durch die Tür schlüpfte und diese wieder hinter sich schloss.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fuhr ich ihn an und griff geistesgegenwärtig nach meinem Hoodie. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich umziehen gehe.«
»Sorry«, stieß Duncan hervor, machte jedoch keine Anstalten, sich von mir abzuwenden. Als er meinen wütenden Blick bemerkte, schluckte er. »Ich habe in der Eile nicht mehr dran gedacht. Lass es mich erklären, okay?«
Zögernd nickte ich und zerrte den Hoodie weiter über meine Arme, um auch das letzte Bisschen Haut zu verdecken. Nur meine Schultern lagen jetzt noch frei. Duncan kam langsam näher, seine Stirn lag in Falten. Mir war seine Nähe unangenehm. Wenn ich daran dachte, dass meine Arme lediglich von einem losen Kleidungsstück bedeckt wurden, das jederzeit verrutschen oder gar herunterfallen könnte, türmte sich eine Welle der Übelkeit in mir auf. Mein Puls beschleunigte sich in so kurzer Zeit, dass jedes Rennauto vor Neid erblassen würde.
Schließlich blieb Duncan kurz vor mir stehen und senkte die Stimme. »Da ist ein seltsamer Gast«, flüsterte er und kam noch ein bisschen näher, als glaubte er, besagte Person könne an der Tür stehen und sein Ohr gegen das Holz pressen oder durchs Schlüsselloch spähen.
Skeptisch hob ich eine Augenbraue. »Definiere seltsam.«
Er raufte sich die Haare, bis die einzelnen Strähnen in sämtliche Himmelsrichtungen abstanden. »Er schaut sich die ganze Zeit im Laden um. Zuerst dachte ich, er könnte ein Restauranttester sein, aber dann -« Er stockte. »Es kam mir eher so vor, als suche er nach etwas oder jemandem.«
»Ähm, okay.« Ich zuckte die Schultern und verstärkte den Griff um meinen Pulli. »Vielleicht wartet er auf sein Date.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete er, »aber bist du jemals mit einer Pistole am Gürtel zu einem Date gegangen?«
»Ich war noch nie -«, setzte ich an. Meine Augen weiteten sich. Duncan erwiderte meinen Blick grimmig. »Und du bist dir ganz sicher? Ist er nicht von der Polizei? Vielleicht von der Kripo; die tragen ja normalerweise keine Dienstuniformen.«
»Scht, nicht so laut«, zischte mein Kollege.
»Und was gedenkst du jetzt zu tun?«, fragte ich seufzend, diesmal etwas leiser.
»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht so überstürzt hereingeplatzt.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
»Keine Ahnung«, formte er verzweifelt mit den Lippen. »Kannst du nicht mit raus kommen und dir auch in Bild davon machen?«
»Klar«, sagte ich überrumpelt. Bis jetzt war Duncan mir eigentlich nicht vorgekommen wie die Art von Menschen, die andere gerne um Rat fragten. Noch immer verharrte er an Ort und Stelle. Ich sah ihn eindringlich an und nickte dann in Richtung der Tür. »Vorher würde ich mich gerne noch anziehen.«
»Oh. Sorry.« Er fuhr sich noch einmal nervös durch die Haare, ehe er sich umdrehte und den Raum durchquerte. Auf Höhe des Badezimmers blieb er einen Moment lang stehen, um durch die offene Tür einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu werfen. Ich rollte die Augen.
Ein wenig später betrat ich den Cafébereich. Möglichst unauffällig sah ich mich um und fand meinen Kollegen an der Theke. Vor ihm stand ein Mann in den Mittvierzigern. Nur nebenbei bemerkte ich sein rundes Gesicht und das dunkelblaue Jackett, das über seinem Bauch spannte. Duncans Hinweis wegen stach mir der Gürtel des Fremden sofort ins Auge. Nur den angeblichen Revolver entdeckte ich auf die Schnelle nicht.
Betont beschäftigt hantierte ich an der Theke und versuchte währenddessen herauszufinden, worüber die beiden sprachen. Die Kaffeemaschine funktionierte noch immer nicht einwandfrei, aber immerhin hatte Duncan sie inzwischen so weit, dass sie sich nicht länger verhielt wie eine sabbernde Bulldogge vor einem saftigen Steak. Um nicht untätig herumstehen zu müssen, bereitete ich einen Milchkaffee zu. Falls kein Kunde ihn bestellt hatte, würde ich ihn einfach selbst kaufen. Koffein konnte ich jetzt gut gebrauchen.
Das erste Mal beugte sich die Kaffeemaschine tatsächlich meinen Willen und beförderte unter Rattern, Sirren und Quietschen eine Ladung der braunen Flüssigkeit zutage. Anschließend folgte sogar Milch und das tatsächlich nur durch die vorgesehene Öffnung. Die Bulldogge bekam ihr Speichelproblem langsam in den Griff.
Durch die Geräuschkulisse konnte ich allerdings nur wenig von Duncans Gespräch mit dem fremden Mann verstehen. Hin und wieder drangen Satzfetzen wie »testen« und »offizielle Kontrolle« an mein Ohr. Vielleicht handelte es sich bei ihm wirklich nur um einen Restauranttester und bei seiner angeblichen Waffe um ein besonders großes Walkie-Talkie. Zu hoffen wäre es.
»Jules?« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Duncan sich umgedreht hatte. Auch der Blick des Fremden huschte nun zu mir.
»Ja?« Ich schaute von meinem Kaffee auf.
»Schaust du nach den Gästen? Hier ist ein ... Restauranttester.« Obwohl er seinen leicht sarkastischen Tonfall mit einem freundlichen Lächeln retuschierte, kam die Botschaft bei mir an. Duncan glaubte dem Mann kein Wort.
Ich zögerte nur kurz. »Mhm, mach ich.« Mein Kollege würde seine Gründe für sein Misstrauen haben.
Der Fremde kräuselte die Lippen zu einem Lächeln. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er zu Duncan, doch sein Blick ruhte auf mir, bis die beiden im Lagerraum verschwanden. Eine Schauder lief mir über den Rücken wie eine kalte Dusche.
Eine junge Frau winkte mich zu sich und bat um die Rechnung für ihren Smoothie. Als ich zurückkehrte, fiel mein Blick auf die Anrichte, wo jemand eine Visitenkarte hatte liegen lassen. Misstrauisch überflog ich die Zeilen.
Charles Hemingway
Gastronimiekritiker
Darunter waren seine Kontaktdaten vermerkt. Ehe ich sie allerdings länger unter die Lupe nehmen konnte, ließ mich ein gedämpftes, aber eindeutig männliches Brüllen aufschrecken. Es kam aus dem Lagerraum.
Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte von außen. Mit eiskalten Klauen griff die Angst nach meinem Herzen. Ich näherte mich der Tür und lauschte, doch entweder die Hintergrundgeräusche im Café waren zu laut, oder aber im Lagerraum blieb es jetzt tatsächlich still. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Ob etwas passiert war? Die schlimmsten Szenarien spielten sich in winzigen Frequenzen wie in einem Daumenkino voller unterschiedlicher Bilder vor meinem inneren Auge ab. Nur: was, wenn ich mich irrte? Was, wenn Duncan lediglich einen Fluch ausgestoßen hatte, weil eine Kiste umgefallen war?
Da war aber kein Poltern, hielt eine Stimme in meinem Kopf dagegen.
Andererseits würde ich mich vollkommen blamieren, wenn ich umsonst hereingestürzt käme wie eine hysterische Helikoptermutter mit Kontrollzwang. Duncan würde einmal mehr an der Gesundheit meines Geisteszustands zweifeln. Und vor allen Dingen: Was sollte ich sagen?
Dennoch, wenn ihm tatsächlich etwas geschehen war, konnte ich nicht einfach abwarten, bis einer der beiden Männer den Raum wieder verließ. Was, wenn es dann längst zu spät wäre?
Ich sammelte all meinen Mut und atmete versuchsweise einige Male tief durch. Gegen mein wild schlagendes Herz konnte das zwar nichts ausrichten, aber egal. Einfach ignorieren.
Kurzerhand griff ich nach der Klinke und drückte sie hinunter. Es klackte leise, doch im Zimmer regte sich nichts. Ich schob die Tür einen Spalt breit auf, sodass ich hindurch lugen konnte, wenn ich ein Auge zusammenkniff. Im Schein der Neonröhren machte ich nur einige Kartons Kaffee und die neusten Lieferungen der Konditorei aus dem Nebenort aus. Die Kisten stapelten sich in einem wilden Durcheinander über- und nebeneinander, darüber lag ein gräulicher, menschlicher Schatten. Ich wagte einen Versuch, die Tür noch etwas weiter zu öffnen, doch die beiden Männer blieben außerhalb meines Sichtfelds. Dafür hörte ich nun Duncans gepresste Stimme. Dann verklangen die Worte und mehr animalisch als menschliches Röcheln trat an ihre Stelle.
Mein Herz überschlug sich fast vor Angst und jagte das Blut so schnell und heftig durch meinen Körper, dass ich meinen Puls in den Ohren schlagen hörte. Gelbe Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen, dabei war mir eigentlich kein Bisschen schwindelig.
Verdammt. Jetzt bloß keine Panikattacke. Nur keine Panikattacke. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt. Dabei waren die Sternchen eigentlich nie Anzeichen dafür gewesen. Nicht bei mir jedenfalls. Und auch die lähmende Angst, die sich für gewöhnlich in meinem Körper ausbreitete, wurde nicht so übermächtig, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Dafür verdichteten die Punkte vor meinen Augen sich nun und formten sich zu einem Muster aus symmetrischen Gebilden, Kreisen, Dreiecken, Blumen, Sternen mit zahlreichen Zacken. Nur noch blass sah ich die Welt dahinter durch den Vorhang, auf dessen dunklem Grund sich die bunten Linien weiter trennten, zusammenschlossen und neue Formen schufen. Ein hohes Fiepsen, das ein wenig an das eines Meerschweinchens erinnerte, ertönte in meinen Ohren und gewann von Sekunde zu Sekunden an Lautstärke. Es schien förmlich nach Gefahr zu schreien.
Bevor ich mir überhaupt darüber bewusst werden konnte, was vor sich ging, hatte ich mich auch schon weiter ins Zimmer geschoben. Ich stand nun in der Tür. Nur noch wenige Schritte trennten mich von Duncan und dem Gastronomiekritiker. Ein Kribbeln und Prickeln breitete sich in mir aus. Erst spürte ich es nur auf der Haut, doch dann erfasste es meinen gesamten Körper und ließ diesen erzittern. Das Kribbeln wanderte und konzentrierte sich schließlich auf meine Fingerspitzen, von wo ich ein leises Knistern zu hören meinte.
Nope. Definitiv keine Panikattacke. Allerdings konnte ich nicht sagen, ob mich das beruhigen oder noch mehr aufwühlen sollte.
Ich machte einen weiteren Schritt nach vorne, stand nun direkt neben den Regalen. Als ich den Kopf drehte, entdeckte ich die beiden Männer in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers. Der spitze Schrei, der kurz davor war, sich aus meiner Kehle zu lösen, blieb mir im Hals stecken.
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