Widersprüchlich
Es herrschte eine angespannte Stille im Wagen. Ich konnte nur hoffen, dass er bemerkte, wie ungern ich hier sein wollte.
Wir fuhren schweigend den Lincoln Boulevard entlang, während ich versuchte, innerlich nicht auszuticken.
Was sollte diese ganze Szene überhaupt? Wollte er mir damit mal wieder beweisen, wie gerne er mich herum kommandierte und mich auf die Palme brachte?
Pf, wenn er's nötig hat...
"Hör mal, Rosanna."
Erstaunt drehte ich meinen Kopf.
Was, diesmal kein Fettklops oder Schwabbelarsch?
Ich war zutiefst erschüttert.
Jones sah mich schief von der Seite an.
"Was denn? Hab ich Scheiße an der Wange oder warum glotzt du so?"
Ich verdrehte genervt die Augen.
"Was wollten Sie sagen?"
Eigentlich war es mir scheißegal, aber hey. Ich saß in seinem Wagen, ich konnte eh nicht flüchten.
Obwohl...
Okay, nein, blöde Idee.
Er schien zu zögern, was mir bereits seltsam vorkam, doch dann schoss er den Vogel ab.
"Ich weiß, dass heute dein freier Tag ist, aber deine Einheit für diese Woche ist noch nicht beendet. Wir werden joggen gehen, ich habe auch deine-"
"Woah, woah, woah! Bitte was?"
Ich dachte gar nicht daran, die Empörung in meiner Stimme zu unterdrücken. Was fiel diesem arroganten Arsch eigentlich ein?
Zu allem Überfluss wurde nun auch er sauer.
"Wo liegt dein verdammtes Problem, hm?"
Die Wut benebelte meinen Verstand. Ich hatte Lust, irgendwem gewaltig die Visage zu polieren.
Ja, auch Mädchen haben dieses Bedürfnis.
"Ich will eben nicht!"
"Du bist so ein verdammter Stubenhocker!"
"Das ist überhaupt nicht wahr! Ich kann nichts dafür, dass es in meinem Zimmer so gemütlich ist...es ist fast wie ein kuscheliges Gefängnis."
Keine Ahnung, wieso ich ausgerechnet das zugegeben hatte.
"Nein. Weißt du, was zu einem Gefängnis geworden ist? Dein Kopf. Deine Einstellung. Deine Zweifel halten dich dort fest. Du hast Schiss, das du's nicht schaffst."
Es traf mich so hart wie ein Brett vor den Kopf, und es brachte mich zum Nachdenken.
Natürlich hatte ich Zweifel, das hat jeder irgendwo, aber...
"Es ist nur..."
Ich hatte einfach nicht die Kraft, zu widersprechen. Mal wieder fühlte ich mich wie vor den Kopf geschlagen.
Und Andrew Jones sollte dies wieder einmal überbieten.
Er seufzte tief, fast ein wenig reuevoll, bevor er sprach.
"Hör mal zu. Du bist zwar 'ne verdammte Nervensäge, aber dumm bist du nicht. Ebenso wenig bist du faul oder ohne Ergeiz. Du brauchst nur mal ein bisschen Selbstvertrauen. That's it."
Ich glaubte, diesen Moment nie vergessen zu können. Wie damals die Palmen an uns vorbei zogen, der Motor surrte und sein Blick mit den scharfen Augen starr nach vorn gerichtet war.
"Ist das jetzt Ihr Ernst...oder wieder nur ein dummer Scherz?", traute ich mich zu fragen.
Zu meiner Überraschung bildete sich ein minimales Grinsen auf seinen Lippen.
"Keine Sorge, diesmal war es ernst gemeint."
Ich schnaubte aufgrund des letzten Kommentars auf.
"So, da das jetzt geklärt ist, können wir endlich laufen gehen."
Und somit hielt er den Wagen am Pier an und stieg aus.
Natürlich machte er sich nicht einmal die Mühe, mir die Tür aufzuhalten.
Fazit des Trainings: Ich hasste diesen Typen. Und ganz offensichtlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. Später war er nämlich derselbe arrogante Spaßvogel wie zuvor.
"Du hast absolut keine Ausdauer. Das muss dich doch nerven. Stell dir vor, du begegnest Mal einem Vergewaltiger, oder einem Dieb. Da kannst du nicht mal wegrennen, weil er dich sofort einholt!"
Über diesen sowas von überhaupt nicht lustigen Witz musste er kurz kichern. Ich war fast soweit, mein Gesicht gegen das Fenster im Auto zu rammen.
Wenigstens fuhr er mich nach Hause zurück. Meine Beine fühlten sich an wie geschmolzener Käse.
Wir kamen in unserem Viertel an und Jones parkte vor unserer Einfahrt. Ich wunderte mich, dass auch er aus dem Wagen stieg.
"Was ist? Ich hole nur mein Gehalt von letzter Woche ab."
War ja klar. Wie viel bekommt er wohl für mein Leid?
Wir wollten gerade zu meinem Haus gehen, als hinter uns eine furchtbar provokante Stimme ertönte.
"Hey, Miss Jordan! Na, bist'e endlich am Abspecken? Kannst du gleich lassen, das wird noch Jahre dauern, bis du nicht mehr aussiehst, wie ne aufgedunsene Moorleiche!"
Ich drehte mich um und entdeckte drei Jungen aus meinem Jahrgang. Ausgerechnet diese Wichser waren in meinem Sportkurs und liebten es, mich fertig zu machen.
Der zweite Typ nickte lachend.
"Haha, genau, Jordan! Und was ist mit dem Typen? Bezahlst'e den etwa, damit er mit dir rumhängt? Hast dir extra 'nen Hübschen gesucht, oder? Wie erbärmlich! Mit diesem Körper will dich eh keiner haben!"
Ich versuchte krampfhaft, nicht zu weinen. Diese Jungs hatten Probleme im Leben, das war mir bewusst, aber das gab ihnen noch lange nicht das Recht, mich so fertigzumachen.
Tja, und dann passierte etwas Unglaubliches.
"Hey, ihr Pissköpfe! Genau, ihr mit den schleimigen Frisuren! Eure Fressen sind wohl größer als eure Schwänze? Habt ihr nicht mal den Mut, ihr das aus nächster Nähe an den Kopf zu werfen, oder besser noch ohne Publikum? Ne, ihr wollt ja eh nur Aufmerksamkeit. Anscheinend bekommt ihr die von Mami nicht, was? Aber ich sag euch eins: Lasst die Kleine in Zukunft in Ruhe, oder ich breche euch eure Knochen in alphabetischer Reihenfolge. Und jetzt verpisst euch."
Die Typen sahen aus, als hätte ihnen jemand ins Gesicht gespuckt. Völlig sprachlos liefen sie davon.
Und ich war einfach nur...baff.
Hatte mich Andrew Jones gerade tatsächlich auf offener Straße verteidigt?
An seinem Blick erkannte ich die Selbstzufriedenheit. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und sah mich an.
"Du musst noch eine Menge lernen, Rosanna. Kein Typ sollte ein Mädchen jemals so fertig machen. Mal ehrlich, lässt du dir das immer gefallen?"
Am liebsten hätte ich gefragt: "Und was genau gibt Ihnen dann dieses einzigartige Privileg?", doch ich war zu baff, um zu antworten.
Stattdessen spuckte ich ihm vor die Füße und ging ins Haus. Das letzte, was ich von ihm hörte, war: "Aus dir wird auf keinen Fall 'ne feine Dame. Bäh."
Drinnen angekommen rannte ich sofort in mein Zimmer (was nach dem Training sicher aussah, als hätte ich eingeschissen) und knallte die Tür zu. Meine triefnasse Kleidung landete auf dem Boden, und mein Körper sehnte sich nach einer Dusche.
In meinen Augen gab es nichts Besseres, um die Gedanken vollends zu reinigen.
Ich beobachtete, wie das Wasser meinen Arm entlang floss. Doch ich genoss diesen Anblick nicht lange, denn mein Blick fiel auf meinen Bauch. Er war so gewölbt und weit und schwabbelig, dass ich fast heulen wollte. Ich wusste, dass es eigentlich nicht normal war, wenn der Bauch das Geschlechtsteil verdeckte. Und trotzdem redete ich mir immer wieder ein, ich müsse mich selbst so akzeptieren und lieben, wie ich war.
Aber das ist schwer, wenn dir jeder zu erklären versucht, dass du dich ändern solltest.
Das war falsch. Nicht jeder wollte mich davon überzeugen, sondern nur die, die mein Innerstes nicht kannten. Denn unter all den Fett lag mehr als ein Gewicht verborgen.
Und trotzdem war es in dieser Welt eine Sünde, eine bestimmte Zahl zu überschreiten.
"Ich wünschte, alle Menschen wären blind."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro