Kapitel 96
Auf einmal scheint die Welt für einen Moment still zu stehen. Das Geräusch des Schusses hallt in meinen Ohren nach, während ich gleichzeitig die Augen aufreiße und versuche irgendetwas zu tun. Ich mache einen Schritt nach vorne, obwohl ich weiß, dass Daimon mindestens zehn Meter von mir entfernt steht und ich damit nur meine Zeit verschwende. Also mache ich das einzige, was mir übrig bleibt und klammere mich an meine Fähigkeiten wie an ein Rettungsseil.
Ich stelle mir eine Eiswand vor seinem Körper vor die die Kugel abfängt, greife nach all meinen Kraftreserven, doch die bittere Wahrheit ist, dass ich mich vollkommen verausgabt habe. Ich fühle mich so leer wie nie zuvor und obwohl mich eine Welle aus Panik verschluckt, scheinen alle hilfreichen Emotionen wie weggewischt. Normalerweise gibt es immer einen Bereich in mir der vor Wut oder Trauer fast überquillt und mir täglich das Leben schwer macht, doch in den einzigen Sekunden in denen das jemals nützlich sein wird, bleibt mir auch das verwehrt.
Vielleicht erreiche ich meine Reserven durch meinen Strudel aus Angst einfach nicht oder ich habe schon alles für mein Feuerinferno verbraucht, doch egal wie man es dreht und wendet ich habe keinerlei Munition. Verzweiflung steigt in mir auf und frisst sich durch jede meiner Zellen. Es ist gleichzeitig eine Lungen zerquetschende Qual als auch mein letzter Lichtblick, denn plötzlich flammt doch eine klitzekleine Energiequelle in mir auf. Ich schreie vor Schmerz und Kälte auf, als ich das letzte bisschen aus mir heraushole und versuche diese Wand in Sekundenschnelle aus dem Nichts zu erschaffen.
Und dann ist es so als wäre die Blase um mich herum geplatzt, die alles in Zeitlupe verlaufen lässt und meine Augen fliegen automatisch zu der Bewegung, die ich am Rande meines Sichtfeldes wahrnehme. Mein Gehirn kann das Gesehene nicht so schnell verarbeiten – es weigert sich schlichtweg seinem Sehsinn Glauben zu schenken – und so höre ich zuerst die Schreie. Das erste Brüllen kann ich mit Daimon in Verbindung bringen, doch das schrille Ächzen kann ich leider nicht zu ordnen. Mein Herz bleibt stehen und ein Druck lässt sich auf meiner Brust nieder, den ich nicht mal in Worte fassen kann. Es scheint so als ob ein riesiger Ball aus Emotionen sich auf meinem Herzen niedergelassen hat, der mich mit einem Volltreffer in ein tiefes Loch katapultiert.
Was ist geschehen? Ist er...? Lebt er...? Ich meine... Mein Atem geht viel zu schnell und in meinem Kopf herrscht eine derartige Verwirrung, dass ich für einen Augenblick nur spüren kann. Verzweiflung. Angst. Hoffnung, die sogleich von all den negativen Emotionen untergraben wird. Sorge. Trauer. Liebe und Verlust, die sich in diesem Moment zu einer Einheit verbinden. Die Situation ist derartig surreal, dass ich mich am liebsten in den Arm gezwickt hätte, um zu überprüfen ob ich mental noch anwesend bin. Doch nicht einmal das bekomme ich zustande, denn mein Körper läuft genauso wie mein Verstand auf Sparflamme und unterstützt nur die nötigsten Funktionen.
Meine Augen haben sich an einem unberührten Fleckchen Marmor festgesaugt, das weder von Blut noch von Ruß oder Menschenresten besudelt wird. Es scheint das einzig normale hier zu sein und vielleicht bin ich deshalb unfähig meinen Blick abzuwenden. Doch der Augenblick der chaosvollen Ruhe hat ein reges Ende, als sich plötzlich Bilder in meinen Kopf schleichen. Das Geschehene, das zuvor nicht verarbeitet werden konnte, läuft erneut vor meinen Augen ab und füllt somit meine Wissenslücken.
Zuerst sehe ich die kleine Minimauer, die trotz meiner Anstrengungen nicht mehr als ein paar Zentimeter beträgt und spüre wie das Bewusstsein in mich eindringt, dass ich es nicht schaffen werde. Dann nehme ich eine Bewegung im Augenwinkel wahr und als mein Blick zu Daimon zuckt, sehe ich wie eine Gestalt in Alltagskleidung sich vor ihn wirft. Wieder ertönt das Brüllen des Prinzens, doch es ist kein Schmerzensschrei sondern eher ein Ausdruck des Schocks. Denn in genau diesem Moment trifft die Kugel den Körper der Person und obwohl ich nicht genau sehen kann, wo genau der Unbekannte getroffen wurde, weiß ich, dass es kein direkter Schuss ins Herz war. Noch taumelt die Gestalt nämlich und versucht sich an Daimon anzulehnen, der zwar sein bestes tut um den Verletzten zu stützen, schließlich aber nichts mehr für ihn tun kann, als ihn sanft zu Boden gleiten zu lassen.
Daimon lebt, ist das erste, was durch meinen Kopf schießt, als die Erinnerung verblasst und ein Stein von der Größe einer ganzen Felsformation von mir abfällt. Eine Träne der Erleichterung rinnt mir aus dem Augenwinkel und ich brauche noch eine Sekunde um das Stadium des Glaubens vollständig zu erreichen. Sofort zuckt mein Blick zu Daimon damit ich mir wirklich sicher sein kann, dass es ihm gut geht und als hätte er mein Vorhaben erahnt, wendet er sich in diesem Augenblick in meine Richtung.
Der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht ist ein einziger Schlag in die Magengrube, der meine kleine Erleichterungsblase, in der kurzzeitig die Einhörner tanzten, platzen lässt. Denn erst da dringt wieder zu mir durch, dass es noch nicht vorbei ist und dass Sken und ein Teil seiner Soldaten immer noch leben. Doch vor allem die Tatsache, dass die Person in Zivilkleidung einer von uns ist und jetzt in Lebensgefahr schwebt, herrscht in meinem Gehirn vor.
In diesem Moment presst Daimon eine Hand auf seinen Mund, was seine geschockte Miene noch zusätzlich unterstreicht. Sofort breitet sich wieder Angst in meiner Magengegend aus, denn bisher konnte ich das Gesicht des Retters nicht erkennen und der Trauer in Daimons Augen nach zu schließen, kannte er die Person. Für eine Sekunde versuche ich mir noch einzureden, dass ich nicht hinsehen soll. Dass das gerade überhaupt keine Relevanz hat und dass ich mich lieber um die verbliebenen Koslower kümmern soll, doch meine Stärke ist noch immer nicht zurückkehrt und die Ungewissheit nagt mit einer Heftigkeit an mir, die mich einen Augenblick später einknicken lässt.
Meine Augen schweifen von Daimons Augen hinunter zum Boden und folgen den Beinen der Person hinauf zu einer hundertprozentig weiblichen Brust. Und dann ein paar Zentimeter weiter rechts, stoße ich plötzlich auf das Gesicht. Blanker Horror macht sich in mir breit, während jedes Glied in meinem Körper vollständig erkaltet. Ich blinzele, einmal, zweimal, dann nochmal, doch das Bild vor meinen Augen will einfach nicht verschwinden. Es bleibt bestehen, während die Gewissheit sich langsam in mir einnistet und dafür sorgt, dass ich nicht atmen kann.
Ich kann es einfach nicht und vielleicht will ich es auch nicht. Nicht, wenn das hier die Realität ist und ich mit dem Heben und Senken meiner Brust dafür sorge, dass ich weiterhin darin bestehe. Das ist sie nicht, sondern nur eine verdammt gute Täuschung meiner Sinne!, denke ich, doch ich weiß noch im selben Moment, dass ich mir eine Lüge auftische. Mein Gehirn spuckt immer weitere Gründe aus, die die Wirklichkeit verleugnen. Ein verlorener Zwilling. Ein Traum. Unter Drogen entstandene Halluzinationen.
Doch je länger ich ihr Gesicht betrachte, desto realer wird die Situation und irgendwann verstummt auch noch die letzte meiner selbstbetrügerischen Stimmen. Denn es ist unverkennbar Rocelyn, die dort auf dem kalten Boden liegt und sich vor Schmerzen windet. Ich erkenne es an ihren schwarzen Locken, mit denen ich als kleines Kind mit Vorliebe spielte. Ich erkenne es an dem Schwung ihrer Lippen, der besonders gut zur Geltung kommt, wenn sie einem ihr liebevolles Lächeln schenkt, das immer dafür sorgt, dass sich auch meine Mundwinkel etwas heben. Und ich erkenne es an ihren Augen, die trotz der Schmerzen und ihrem Tanz auf Messerschneide immer noch ein Stückchen ihres Leuchtens enthalten. Dieses ganz bestimmte Strahlen, das mich durch jeden trüben Tag, jede Sportverletzung und jede Abweisung meiner biologischen Eltern geführt hat.
Sie ist alles für mich und jetzt liegt sie dort. Angeschossen. Mutig. Und dem Tode nahe, denn mit nur einem Blick auf den riesengroßen Blutfleck, der zum Teil von ihrer Hand bedeckt wird und sich gerade durch ihr graues Shirt frisst, kann ich erkennen, dass die Wunde lebensgefährlich ist. In Dans Unterricht habe ich nämlich außerhalb von Kampftechniken und Waffenkunde auch gelernt, welche Punkte sich besonders gut für einen Stich eignen. Neben dem Herzen und der Hauptschlagader, die zu einem schnellen, kurzen Tod führen, wären da auch noch andere lebenswichtige Organe und weitere Arterien. Und gemessen an dem vielen Blut, das bereits aus der Schusswunde ausgetreten ist und der Position von Rocelyns Hand, muss Sken mit seinem Schuss wohl die Unterschlüsselbeinarterie getroffen haben.
Man sollte meinen, dass mich die Informationen klarer im Kopf werden lassen und meine ruhige Soldatenseite wieder ans Licht bringen, doch stattdessen hämmert mein Herz noch stärker in meiner Brust. Ich werde sie verlieren, echot es in meinem Verstand. Immer und immer wieder schallt dieser Satz durch mein Hirn bis er mir von jeder einzelnen Stimme entgegen geschrien wird. Ich versuche davonzulaufen, doch es zieht mich immer weiter nach unten bis ich nicht nur das Gefühl habe zu ertrinken. Nein, das ist ein viel zu kleiner Begriff. Mein Körper befindet sich nämlich nicht nur in einem zähen See aus Verzweiflung und Trauer, es dringt mir auch von innen aus jeder Pore und füllt mein Selbst.
Es herrscht Chaos hier. Du weißt weder wo der Arzt ist, noch hast du irgendeine Ahnung wie man eine solche Wunde behandelt, denn einfach ein Stück Stoff auf die Verletzung zu drücken wird in diesem Fall nicht ausreichen.
>>Sei still<<, flüstere ich vor mich hin, während in mir das Gefühl aufkommt in jeder Sekunde explodieren zu können. Du schaffst es nicht! Du schaffst es nicht!, höhnt die Stimme. Du konntest Daimon nicht retten und bei Rocelyn werden deine Versuche ebenfalls fehlschlagen. Du hast verloren, doch statt deine Strafe selbst zu bezahlen, bleibt es an ihnen hängen.
>>Sei still!<<, murmele ich ein zweites Mal und obwohl mein innerer Dämon auch jetzt nicht die Intension hat meiner Forderung nachzukommen, höre ich keine seiner bitteren Worte. Denn genau in dem Moment als er zu einer weiteren verbalen Attacke ansetzt, wird er von einer anderen Stimme übertönt. >>Tja, das lief nicht ganz nach Plan, aber es soll mir Recht sein<<, flötet Sken, während ein Klicken ertönt, das ich dem Laden einer Pistole zuordnen kann, >>Ich bin nicht wählerisch, was das Morden angeht und ich denke, ich habe meinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Außerdem kann ich den kleinen Verräter hier immer noch abknallen. Das liegt ganz an dir, Schätzchen. Weißt du, ich will dir wirklich nicht noch mehr Kummer bereiten. Zudem schadet dieses ganze Tränenvergießen deiner Schönheit! Du bist ja ganz verquollen, Zuckerpüppchen. Es scheint so als wäre mir noch ein viel besserer Fang vor meine eigentliche Zielscheibe gehüpft.... Na ja, es wird Zeit, dass du -<<
>>Ich sagte: SEI STILL<<, brülle ich und in diesem Moment zerberste ich. Die Wut und Trauer, die mir zuvor für eine Rettung fehlten, fließen plötzlich im Überfluss und obwohl ich bisher geistig nicht präsent genug war, um über einen erneuten Angriff nachzudenken, starte ich ihn noch in derselben Sekunde. Skens Worte haben sich wie Nadeln in mein Gehirn gebohrt und dafür gesorgt, dass mein Innerstes vor emotionalem, teerartigen Schleim endgültig überläuft. Und deswegen serviere ich ihm jetzt meine Rache.
Mindestens zehn riesengroße Eiszapfen mit spitzem Ende bohren sich von einer Sekunde auf die andere durch seinen Körper und lassen ihn als missbrauchte Voodoopuppe zu Boden sinken. Doch es ist nicht genug. Denn in meinem Herzen klafft immer noch das Loch, das er verursacht hat und Rocelyn liegt immer noch halbtot am Boden, während sich der Blutfleck immer weiter ausbreitet. Und was noch viel wichtiger ist, es reicht auch meinen Fähigkeiten nicht aus, denn sie pulsieren wie ein zweiter Herzschlag in meinen Adern und lechzen danach erneut von der Leine gelassen zu werden.
Mein emotionaler Haushalt scheint nur noch aus Trauer und Wut zu bestehen. Ersteres, weil mich die Gewissheit, dass jede Chance für sie verloren ist, sich bereits in jede meiner Zellen gefressen hat und sie genauso gut schon tot sein könnte. Und Letzteres, weil diese Koslower es sich erlauben in ein fremdes Land zu strömen, um die Herrschaft an sich zu reißen und dabei eine Spur aus Zerstörung hinterlassen. Das Ganze mischt sich noch zusätzlich mit meinem Zorn gegenüber meiner eigenen Unfähigkeit und bildet damit die explosivste Mischung, die je durch meinen Blutkreislauf zirkulierte.
>>Niemand - Ich betone niemand – verletzt die Leute, die ich liebe<<, stoße ich zwischen zusammengepressten Zähnen aus, während ich mich wieder zu den Koslowern drehe, die zum Teil entweder festgefroren oder auf ihrer Flucht nicht allzu weit gekommen sind, >>Ich hoffe, ihr merkt euch diesen Leitsatz fürs nächste Leben<< Und mit diesen Worten öffne ich erneut die Pforten für mein Feuer, das bereits ungeduldig gegen die massive Tür randalierte und es mir somit schwer machte, überhaupt den Zeitpunkt meines Kontrollverlustes zu bestimmen.
Es ist also eine große Erleichterung, als die Flammen aus meinen Händen strömen und sich blitzschnell auf den Körpern der Koslower festsetzen. Zum zweiten Mal an diesem Tag strömt der unangenehme Geruch von verbranntem Fleisch durch den Saal, doch dieses Mal bleibt mein Würgereiz aus. Ich habe meinen Tunnelblick aufgesetzt und einzig und allein meine Aufgabe, jeden einzelnen der übrigen Soldaten auszulöschen, dringt durch mein Hirn.
Trotzdem bedeutet das nicht, dass meine Emotionen in weite Entfernung gerückt sind. Ganz im Gegenteil, sie überschwemmen mich immer noch bei jedem meiner Atemzüge, doch anstatt vollständig darin zu versinken, schreie ich sie heraus und lasse sie in meine Flammen fließen. Am Rande meines Bewusstseins nehme ich wahr, dass mein Feuer beinahe noch mächtiger als mein vorheriges ist und trotz der großen Menge an Koslowern treten keine Komplikationen mehr auf.
Die Flammen knistern immer noch hungrig und vermehren sich wie die Parasiten, während sie sich einen Weg durch die Soldatenschar fressen. Zu keiner Sekunde scheint ihre Stärke nachzulassen und diese Tatsache gibt mir Kraft. Denn obwohl ich so lange Zeit damit verbrachte, meine Fähigkeiten abzulehnen, erkenne ich sie plötzlich als einen Teil von mir an, den ich weder negativ noch positiv bewerten würde. Ich hasse die Art und Weise wie sie den Menschen keinerlei Chance lässt, sich aus ihren Fängen zu winden und der dicke, fette Freak-Stempel, der damit einhergeht und mich damit von allen anderen absondert.
Aber gleichzeitig finde ich Gefallen an dem Gefühl, das es mir verleiht. Es ist wie Freiheit und ein lang verlorener Freund in einem und in diesem Moment kommt es in vielerlei Hinsicht auch einem Anker gleich. Das Züngeln der Flammen und seine spielende Art zwischendurch über meine Finger zu lecken wie ein liebevolles Haustier sorgt dafür, dass ich keinen Kopfsprung in ein schwarzes Loch unternehme, das mir keine Rückfahrkarte ausstellt. Meine Kräfte geben mir die Chance meinen Emotionen freien Lauf zu lassen ohne mich vollständig darin zu verlieren und in diesem Moment brauche ich diese Eigenschaft so dringend wie die Luft zum Atmen.
Und genau deshalb unternehme ich eine weitere Reise in das Land der vergessenen Zeit und verliere dort jegliches Gefühl für Sekunden, Minuten oder Stunden. Ich weiß nur, dass sich vor mir irgendwann ein leeres Feld erstreckt. Wo vorher eine Armee Stellung bezogen hat, türmen sich jetzt nur noch rußige Gliedmaßen auf dem schmutzigen Marmorboden. Noch immer züngeln kleine Flämmchen über die Leichen und es braucht ein paar heftige Blinzler, um mich dazu zu bewegen sie vollkommen auszulöschen und mein Feuer wieder in meinem Inneren zu verstauen.
Es fühlt sich tatsächlich an wie ein schmerzlicher Abschied, denn nur wenige Sekunden nach der Beendung meiner Aufgabe zerplatzt auch die Blase, die mich zuvor vor meinem Innersten schützte. Gedanken prasseln auf mich ein und meine Gefühle nehmen überhand, während mich gleichzeitig eine Leere erfüllt, die mich im ersten Moment zur Salzsäule gefrieren lässt. Es ist als ob mit einem Schlag all mein Wissen ausgelöscht wurde, denn ich weiß nichts mit mir anzufangen. Durch meinen Kopf dröhnen gleich mehrere Stimmen und leisten sich eine heftige Debatte, doch ihr Gespräch driftet nie zu dem Thema ab, was ich jetzt verdammt noch mal tun soll. Ich bin verloren in einer Welt, die sich gleichzeitig viel zu surreal und schmerzlich echt anfühlt und mich damit fast um den Verstand bringt.
Schließlich werfe ich träge einen Blick über die Schulter und begegne dabei dem blinkenden Licht der Kamera, die die Geschehnisse im Schloss in Echtzeit überträgt. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, denn irgendwann im Eifer des Gefechts habe ich die Tatsache verdrängt, dass nicht nur die eben Anwesenden sondern das gesamte Land gerade von meinen Fähigkeiten erfahren hat. Plötzlich fühle ich mich schmerzlich entblößt und Angst fährt wie ein Blitz in meine Eingeweide. Was mache ich jetzt? Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss fliehen. Ich –
>>Fait<<, stöhnt Rocelyn in diesem Moment und sofort schnellen meine Augen zu ihrem schmerzverzerrten Gesicht. Erst da wird mir auch bewusst, dass sie nun ebenfalls von meinen Fähigkeiten weiß und das sie es ausgerechnet auf diese Art und Weise erfahren musste. Tränen treten mir in die Augen und mein Herz zieht sich mit einem Ruck zusammen, weil man ihr die Nähe zum Jenseits bereits ansehen kann. Bitte, lass sie nicht sterben, Gott! Sie hat es nicht verdient!, bete ich stumm, obwohl ich nie einen engen Bezug zu irgendeiner Religion hatte. Doch in diesem Moment fühlt es sich einfach richtig an wenigstens ein einziges Mal, um ein Wunder zu bitten.
Ohne dass ich es verhindern kann dringt ein leises Schluchzen über meine Lippe und genau in diesem Moment setze ich mich endlich in Bewegung. Meine Schritte werden schneller und schneller je weiter ich mich ihr nähere, denn erst jetzt fällt jeglicher Schock über ihre Schussverletzung von mir ab und hinterlässt das dringende Bedürfnis in ihren letzten Minuten bei ihr zu sein. Ich habe schon viel zu viel Zeit für meine Angriffe verbraucht, wird mir klar, doch ich kann diese Tatsache nicht mit voller Inbrunst bedauern, weil ich damit auch gleichzeitig sicher stellte, dass niemand mehr verletzt wird.
Endlich komme ich bei ihr an und lasse mich schwerfällig neben ihr sinken, wobei ich kurzzeitig Daimons warmherzigen Augen begegne. Mittlerweile hat er sein Schlafshirt ausgezogen und auf Rocelyns Wunde gedrückt, doch es ist schon fast vollständig mit Blut getränkt und ihr sonst so strahlendes Lächeln ist nur noch ein Schatten ihrer früheren Schönheit. >>Es tut mir leid<<, flüstere ich ihr mit brüchiger Stimme zu, während ich nach ihrer Hand greife, die neben ihr auf dem Boden ruht und sie vorsichtig drücke, >>Es tut mir so leid<<
>>Aber nicht doch, Schätzchen. Es gibt -<<, würgt sie hervor, doch ich unterbreche sie, bevor sie ihre wertvollen Sekunden auf diese Beteuerung verschwendet. >>Nein, es war meine Aufgabe Daimon zu beschützen nicht deine, aber ich habe versagt. Ich hatte nicht mehr genug Kraft und jetzt... Jetzt liegst du hier und das ist alles meine Schuld. Und das Feuer und das Eis... Ich hätte dir davon erzählen sollen. Du hast es nicht verdient es auf diese Art herauszufinden, aber ich hatte immer solche Angst davor, dass du mich dann nicht mehr lieben würdest. Du warst lange Zeit alles was ich hatte. Die einzige Person in meinem Leben, die sich um mich gekümmert hat und die mir zeigte, was es bedeutet sich irgendwo zuhause zu fühlen. Du hattest so viel Geduld mit mir... Und ich... ich bin dem Universum so dankbar dafür, dass du ein Teil meines Leben warst, denn ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte. Und ich weiß auch jetzt nicht, was ich ohne dich tun soll... Gott, es tut mir so leid. Weißt du, ich habe dich eigentlich gar nicht verdient. Wahrscheinlich solltest du in das Leben eines anderen Kindes Licht bringen, das nicht all diese scheußlichen Dinge getan und dich die ganze Zeit belogen hat. Aber... Ich kann deshalb irgendwie kein schlechtes Gewissen entwickeln. Denn ich... Ich liebe dich einfach, okay? Ich habe es schon immer getan und werde es auch weiterhin tun<<
Nun laufen die Tränen in Sturzbächen über mein Gesicht, während meine Unterlippe so heftig zittert, dass es schwer ist all diese Worte aus meinem Mund zu locken. Doch trotz all der Schluchzer, die mich zwischendurch schüttelten, konnte ich mir alles vom Herzen reden, was dort in Großbuchstaben stand. Und trotzdem ist es noch voll von winzig kleinen Buchstaben, die ich ihr wahrscheinlich niemals werde sagen können. Ich werde niemals wissen, aus welchen Gewürzen ihre Geheimmischung besteht. Ihr nie die gesamte Geschichte über meinen Aufenthalt hier im Schloss erzählen können. Himmel, ich werde ihr nicht mal in allen Einzelheiten berichten wie ich mich das erste Mal verliebt habe. Und das tut so sehr weh, dass es sich wie Säure in mein Herz ätzt und dort als stetiger Schmerz weiter pulsiert.
>>Ich liebe dich auch, Süße<<, erwidert Rocelyn und kurz glüht wieder ein Funke ihrer früheren Stärke in ihren Augen auf, >>Und ich will, dass du weißt, dass ich schon seit du das erste Mal in meinen Armen lagst über deine Kräfte Bescheid wusste. Deine Eltern haben es mir gesagt, aber ich wollte dir die Chance geben es mir eigenständig zu erzählen. Du... Du solltest dir deine Vertrauensperson selbst aussuchen dürfen, also behielt ich mein Wissen für mich. Aber ich habe dich immer geliebt. Wie könnte ich auch nicht? Du bist das Beste, was mir in meinen vielen Jahren passiert ist und obwohl ich dir sicherlich eine Stütze war, warst du eigentlich diejenige die Licht in mein Leben brachte. Und ich bin so, so stolz auf dich. Das kannst du mir glauben. Du hast immer dein Bestes gegeben und deshalb ist das hier keineswegs deine Schuld<<
Nun schütteln mich noch heftigere Schluchzer, während der Schock über ihr Geständnis langsam abflaut. Sie wusste es, wird mir klar. Sie wusste es schon immer. Mein Hirn scheint einfach nicht fähig diese Information zu verarbeiten und so wiederholt mein Verstand ihre Worte wie eine beschädigte Schallplatte. Verdammt, all die Jahre habe ich all die Gefühle und Gedanken, die mir täglich zu meinen Fähigkeiten durch den Kopf strömten tief in mir begraben und sie niemals ausgesprochen. Und dabei war die beste Zuhörerin immer direkt vor meinen Augen.
Eine Welle aus Zuneigung und Enttäuschung rollt über mich hinweg, während ich mir fahrig über beide Wangen wische, um wenigstens einen Teil der Tränenspuren zu entfernen. >>Gott, ich hätte einfach nicht so viel Angst haben sollen<<, erwidere ich mit einer seichten Bitterkeit in der Stimme, >>Jetzt komme ich mir irgendwie so unglaublich dumm vor, weil ich mich nie getraut habe mit dir zu reden. Und ich... Danke, einfach danke. Ich kenne keine andere Person, die so warmherzig und liebevoll ist wie du und das du ausgerechnet mich derartig ins Herz geschlossen hast... Na ja... Keine Ahnung, ich finde irgendwie nicht die richtigen Worte. Meine Schlagfertigkeit funktioniert unter Zeitdruck wohl nicht besonders gut<<
Der schwache Witz, der mir über die Lippen kommt, zupft kurz an meinen Mundwinkeln, doch selbst dieses gequälte Lächeln verschwindet sofort wieder von meinem Gesicht. Mittlerweile hat sich meine Hand wie ein Schraubstock um Rocelyns gelegt und es würde mich nicht wundern, wenn es sich für sie so anfühlt als würde dieses Glied in einem Fleischwolf stecken. Nichtsdestotrotz schaffe ich es einfach nicht locker zu lassen und es ist fast so als würde ein Teil von mir glauben, dass sie nicht ins Jenseits überwandert, wenn ich nur ihre Hand fest genug drücke.
Doch ich glaube nicht, dass es von hier an noch ein Zurück gibt. Rocelyns sonnengeküsster Teint wirkt auf einmal fürchterlich fahl und wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass ihr Gesicht einfach nur Mehl bestäubt ist. Zudem weichen langsam die Lebensgeister aus ihr und ihre Augenlider flattern immer öfters, dennoch schafft sie es irgendwie sich ein letztes Mal aufzubäumen. Fast krampfartig drückt sie meine Hand, während sie quälend langsam ihre Lippen befeuchtet.
>>Eins noch Fait, habe bitte keine Angst mehr dich anderen zu öffnen, okay, mein Kind? Ich weiß es fällt dir schwer und du sorgst dich wegen deiner Kräfte nicht zum Rest der Menschen zu passen..., aber schließe nicht länger jegliche Personen aus deinem Herzen aus. Es ist schön jemanden zu lieben und selbst geliebt zu werden. Und ich denke, dass du das schon ganz bald herausfinden wirst. Ich glaube an dich, Liebes. Ich habe dich lieb<< Ihre Stimme ist nicht mehr als ein erschöpftes Flüstern und automatisch verrät mir mein Bauchgefühl, dass es jetzt zu Ende geht. Ein letztes Mal drückt Rocelyn meine Hand und sorgt damit dafür, dass ein weiterer Stoß Tränen meine Wangen hinunterläuft und dann schließt sie plötzlich die Augen.
Und in diesem Moment ist es beinahe so als hätte sie selbst auf die Aus-Taste ihres menschlichen Weckers gedrückt, denn noch während ich meine Fingernägel in ihre Handoberfläche drücke, weil mich ein schlimmer Schluchzer schüttelt, wird alles still. Jegliches Geräusch im Raum scheint zu verstummen und das beinhaltet leider auch Rocelyns Atemgeräusche, denn plötzlich stellt ihr Brustkorb seine Heb- und Senkbewegungen einfach ein. >>Nein. Bleib bei mir<<, schluchze ich, während ich mich davon abhalten muss ihr keine Herzmassage zu verpassen. Ich hätte sowieso keine Chance sie zu retten und es war deutlich, dass sie große Schmerzen hatte, weshalb es wohl besser ist, ihr den gewonnenen Frieden nicht wieder wegzunehmen.
Aber verdammt.... Das kann doch nicht echt sein! Das kann nicht wirklich passieren. >>Warum du? Was hast du hier überhaupt gemacht?<<, murmele ich vor mich hin. Und erst da fällt mir auf, dass Rocelyn eigentlich gar nicht hätte hier sein sollen. Ihre Hauptaufgabe in der Organisation war es für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen und Streitereien zu schlichten, weshalb es eigentlich nicht vorgesehen war, dass sie beim Angriff dabei ist. Trotzdem ist diese Angelegenheit kein besonders großes Mysterium, denn ich bin mir sicher, dass Rocelyn keine Sekunde gezögert hat und sofort ins Auto gesprungen ist als sie gehört hat, dass der Angriff vorverlegt wurde. So ist sie eben... Oder besser gesagt: So war sie.
Die Vergangenheitsform in Bezug auf sie zu verwenden ist ein weiterer Schlag in die Magengrube, der dafür sorgt, dass mein Körper von weiteren Schluchzern geschüttelt wird. Sie kann einfach nicht tot sein, denke ich, während ich mich vorbeuge um ihr einen letzten Kuss auf die Stirn zu geben. Es fühlt sich an als würde ich jetzt endgültig Abschied nehmen und in diesem Moment wird der Schmerz in meiner Brust so groß, dass mein Atem stockt.
Was soll ich jetzt nur tun?, frage ich mich, während meine Augen weiterhin auf Rocelyns lebloser Gestalt liegen und darauf warten, dass sie sich doch wieder bewegt. Aber diese Sache ist natürlich genauso aussichtlos wie sich von einem Hochhaus zu stürzen und auf magische Flügel zu hoffen. Wieder einmal muss ich mir die Tränen von den Wangen wischen, weil es sich so anfühlt als wäre ich gerade eben aus einem See gestiegen.
>>Hey, ich bin hier. Ich bin hier<<, flüstert mir Daimon in diesem Moment ins Ohr und erst da bemerke ich, dass er direkt hinter mir sitzt und die Arme um mich geschlungen hat. Dankbar lehne ich mich gegen seine nackte Brust und genieße die Wärme, die diese ausstrahlt. Ich weiß, dass ich eigentlich etwas tun sollte. Um mein Leben fürchten. Einen Plan entwickeln. Fliehen. Aber gerade bin ich so verdammt müde, dass ich nichts anderes tun kann, als mich von Daimon halten zu lassen. Und so sitze ich da, während ich insgeheim darauf warte, dass wieder die Hölle um mich herum losbricht und dieses Mal ich diejenige bin, die den Bösewicht mimen muss...
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Ich war mir sooo sicher, dass das das letzte Kapitel werden wird und dann war ich plötzlich bei 6.800 Wörtern und immer noch nicht fertig, weshalb ich jetzt einfach irgendwo einen Cut einsetzen musste...
Aber jetzt mal ein anderes Thema... Seid ihr geschockt, dass ich Rocelyn habe sterben lassen und vor allem, habt ihr geweint? Wenn nicht, dann kann ich euch versprechen, dass ich genug Tränen für uns alle vergossen habe. Ich saß nämlich während der gesamten Szene schluchzend vorm Laptop und habe fast meine Tasten nicht mehr gesehen...
Tja, dann wünsche ich euch noch eine schöne Woche ^^
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