Kapitel 79
Warum? – Das ist die Frage, die mir auch eine Stunde später einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Es scheint einfach keiner meiner Verdrängungsmechanismen zu schließen und ich kann von Glück reden, dass ich mich trotz meiner kreisenden Gedanken auf das Gespräch konzentrieren kann. Denn sobald die Chefin der Runde erstmal auf ihrem Stuhl am Ende der Tafel Platz genommen hat, gibt es für die anderen Mitglieder plötzlich kein Halten mehr und die Fragen prasseln wie dicke, fette Hagelkörner auf uns herab.
Ich kann gar nicht mehr zählen wie oft ich Rede und Antwort stehen musste, aber immerhin lässt sich sagen, dass wir mit der Planung vorankamen. Anscheinend war die Entscheidung um die Durchführung der Operation schon fast in Stein gemeißelt, denn nach ein paar Formalitäten wurde das ganze still und heimlich mit einem Häkchen versehen und die Fragen verwandelten sich nahtlos in ein Mittel um Probleme zu ermitteln und Lösungsvorschläge durchzugehen.
Leider stecken wir gerade in einer Art Sackgasse, die wohl weniger auf unlösbare Schwierigkeiten und mehr auf die sinkende Motivationsrate zurückzuführen ist. Doch was will man nach drei Stunden regen Diskussionen erwarten? Mein Schädel brummt jedenfalls von dem Stimmengewirr aus kleinen Einzelgesprächen, Ideen und verhörartigen Fragen und ich denke, dass bald mindestens eine Pause von Nöten sein wird, damit wir aufhören uns im Treibsand zu bewegen.
>>Na schön. Ich denke, wir sollten gleich Schluss machen, aber ich habe noch eine letzte Frage an dich, Prinz Daimon<<, richtet die Anführerin das Wort an ihn und ich komme nicht umhin sofort zu ihr zu blicken, um mich ein weiteres Mal zu versichern, dass ich mich bei meiner ersten Musterung nicht getäuscht habe. Aber nein, meine Augen halluzinieren nicht, denn das ist nicht nur irgendeine beliebige Person, die ich mal über einen Bildschirm habe flimmern sehen, sondern jemand der mir schon leibhaftig gegenüberstand.
Ich kann mich noch ganz genau an ihre weich geschnittenen Gesichtszüge und die zierliche Nase erinnern, genauso wie an die Tatsache, dass ihr schwarzer Bob für mich einfach nicht zum Restbild passte. Sie war die Bedienstete, die mir damals Stift und Papier in die Hand drückte, nachdem meine Schwester - auch bekannt als die pinke mit Make-up beschichtete Version eines bösartigen Dämons -meinen gläsernen Armreif zerstörte. Und wer jetzt denkt, dass diese Enthüllung mein dramatisches Gedankenkarussell nicht wert ist, der hat sich die Geschichte noch nicht zu Ende angehört.
Denn es gibt noch etwas, dass ich mir in Bezug auf die geheimnisvolle Bedienstete im Gedächtnis geblieben ist: Sie kam mir trotz einiger störender Tatsachen bekannt vor. Doch damals dachte ich, das läge schlichtweg daran, dass ich sie schon mal irgendwo im Schloss gesehen habe, was, wie sich jetzt herausstellt nur ein Teil der Wahrheit ist. Ich begegnete ihr nämlich zuvor nicht in der Kleidung einer Bediensteten und mit schwarzen geraden Haaren, sondern als elegante, gut gekleidete Rothaarige ganz zu Beginn des Castings.
Die Anführerin ist nämlich niemand geringeres als Jennifer Loran – die erste Moderatorin der Prinzessinenwahl, die mutmaßlich gefeuert wurde, nachdem sie bei einer Aufgabe dem König die Stirn bot, um ihm davon abzuhalten mich aus der Show zu werfen. Und das meine lieben Freunde ist durchaus eine Wendung, die ein paar aufdringliche Gedanken wert ist. Schließlich konnte ich ja nicht ahnen, dass ich hier auf eine Art Halb-Halb-Version ihrer beiden Persönlichkeiten stoßen würde. Denn obwohl sie ihre Tarnfrisur beibehalten hat, erinnert ihre Kleidung eher an ihr Reporterinnen-Ich, was mich dann zusammen mit dem Erkennen ihrer Stimmfarbe zu einem Klick verleitet hat. Ein sinnbildliches Geräusch, das bei der Frage nach dem Grund ihres Handelns leider ausbleibt. Ich meine, warum sollte eine renommierte Moderatorin wie sie, die sogar dafür auserkoren wurde live aus dem Könighaus zu berichten, alles dafür riskieren eben dieses zu stürzen? Oder ist sie eigentlich gar keine echte Oberschichtlerin und spielt nur eine Rolle?
>>Was ist mit ihren Brüdern? Könnten sie sich vorstellen, dass sie uns bei unserem Plan unterstützen würden?<<, fährt Ms. Loran fort und erweckt damit sofort die Erinnerungen an mein allererstes Interview, das von ihr an meinem ersten Tag im Schloss geführt wurde. An der Art wie sie die Wörter und ins besondere das Fragezeichen betont, kann man immer noch ihre Tätigkeit als Reporterin feststellen und ich frage mich, ob sie das je wieder ablegen wird. Doch in Bezug auf sie gibt es noch so einige andere ungelöste Rätsel, die weitaus bedeutender sind als eine besondere Angewohnheit.
>>Ich glaube nicht, dass einer von beiden uns helfen würde<<, erwidert Daimon gefasst, obwohl ich durch einen Seitenblick erkennen kann, dass sein Kiefer bis zum Zerreißen angespannt ist. Anscheinend beliebt es ihm nicht, dass die Anführerin das Gespräch auf seine Geschwister gelenkt hat und auch die Tatsache, dass es im Raum beinahe gespenstisch still ist, erweckt wohl in niemandem ein Gefühl des Wohlbefindens. Ich persönlich würde wahrscheinlich auch keinen Begeisterungstango hinlegen, wenn jemand der mir nahe steht in einen Krieg miteinbezogen werden soll.
>>Macen ist nicht wirklich für dieses Business geschaffen. Er ist eher eine sorglose Frohnatur, die nichts von Gewalt hält und ich wüsste auch keinen Grund, warum er sich besonders für diese Organisation und ihre Belange interessieren sollte. Und was Adrien angeht, sollte man sowieso vorsichtig sein, weil er von klein auf am stärksten unter der Beobachtung des Königspaares stand. Er ist sein ganzes Leben lang noch nie aus der Reihe getanzt und sich immer dem Willen des Königs gebeugt, daher sehe ich keinen Grund, warum sich das nun ändern sollte. Er ist eben der Erstgeborene - auch wenn er nur vier Minuten vor mir das Licht der Welt erblickte – und deshalb ist es schwer zu sagen, ob er dem Königshaus wirklich so treu ergeben ist oder ob er eigene Pläne hat, wenn er den Thron besteigt<<
Adrien ist also der Kronprinz, schießt es mir durch den Kopf und ich bin nicht im Mindesten überrascht. Diese unglaubliche Gefasstheit und Höflichkeit, die er immer zur Schau stellt ist, dem eines Königs wirklich würdig, doch ich würde auch behaupten, dass in seinem Inneren nicht alles so geordnet verläuft wie es den Anschein macht. Diese Romanze mit Miri ist einfach zu leidenschaftlich und die Verzweiflung der beiden zu greifbar, als dass der brave, gehorsame Junge seine einzige Persönlichkeitseigenschaft ist. Ansonsten würde er wohl kaum die Prinzipien der Gesellschaft über Bord werfen, um heimlich mit einer Zofe in der Bibliothek rumzuknutschen. Und wie sagt man so schön? Stille Wasser sind tief.
Doch davon weiß Daimon genauso wenig, wie von Macens Homosexualität, die in ihm durchaus den Wunsch wecken könnte hier mitzumischen. Zudem wäre da noch das Entsetzen über das Video seines Vaters, das ihm sicher auch noch einen Anstoß bieten würde, aber den Hundewelpenprinzen in diese Sache mit einzubeziehen halte ich genauso wie Daimon für eine schlechte Idee. Er hat schon genug Probleme, mit denen er fertigwerden muss, da ist es schlichtweg undenkbar ihm noch die Beteiligung an einem politischen Umwurf aufzuhalsen. Und was Adrien angeht, ist die Entscheidung für mich ebenso klar. Das Risiko eines Verrates wäre einfach zu hoch und außerdem ist eine geheime Romanze vielleicht nicht das stärkste Motiv, um gegen sein eigen Fleisch und Blut vorzugehen.
>>Wenn das so ist, werden wir dieser Idee natürlich nicht weiter nachgehen. Ich würde sowieso sagen, dass wir die Konferenz für heute auflösen und uns erst morgen wieder hier zusammenfinden<<, schalt Jennifers Stimme laut und deutlich durch den Raum, >>Aber wenn ihr zwei wollt können wir uns gerne noch kurz unterhalten. Ich habe das Gefühl, dass es noch einige Fragen eurerseits gibt << Dieses Mal sind ihre Worte speziell an mich und Daimon gerichtet und während die anderen damit beginnen sich von ihren Stühlen zu erheben, bleiben wir beide wie zwei synchron nickende Wackeldackel zurück. Denn Miss Dreifach-Leben hat absolut Recht: Es gibt noch einiges zu klären.
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>>Also, wie kam das mit Ihnen und dieser Organisation?<<, falle ich sofort mit der Tür ins Haus, als sich der kahle Raum endlich vollständig geleert hat. Geduld war ja bekanntlich noch nie meine Stärke, aber seid mich die Fragezeichen rund um Daimon und sein Bündnis mit den Koslowern tagtäglich verfolgen, ist mein Repertoire wirklich restlos aufgebraucht. Ich sitze also was die Geduldsfäden angeht völlig auf dem Trockenen und kann dabei nicht einmal hoffen, dass bald mal wieder welche angespült werden oder wie Siedlerkrebse angekrochen kommen. Denn leider gibt es da immer noch diesen entscheidenden Haken, der von mir verlangt für diese Antworten ein Informationstauschgeschäft mit diesem neugierigen Trottel einzugehen, weswegen ich mich wohl mit einer leeren Kiste an mentalem Durchhaltevermögen abgeben muss.
>>Na ja, das ist eine längere Geschichte<<, erwidert Jennifer und lächelt uns über den Tisch hinweg schmallippig an, als ob sie noch nicht ganz sicher wäre, ob sie sich diesem Verhör wirklich unterziehen möchte. Denn obwohl sie zuvor noch die natürliche Stärke einer Führungsposition ausgestrahlt hat, wirkt sie auf ihrem Stuhl plötzlich wie ein verunsichertes Schulmädchen und ich frage mich, wie persönlich diese lange Story wohl werden wird. >>Keine Sorge, wir können noch etwas Lebenszeit erübrigen, Ms. Loran<<, kommt prompt eine Retourkutsche von Daimon, der schon seit ihrem Eintritt immer mal wieder misstrauische Blicke in ihre Richtung geschossen hat.
Zuerst fragte ich mich, ob das einfach seine 0815 Musterung für Personen ist, bei denen das Vertrauenfassen eher schwerer fällt, doch schlussendlich kam ich zu dem Schluss, dass er sie ebenfalls erkannt haben muss. Schließlich stand er ihr, als in die Gesellschaft eingeführter Oberschichtler mit Extra-Krönchen, öfters gegenüber als ich und das Prinzessinnencasting war auch sicherlich nicht ihre erste Chance einen Fuß ins Schloss zu setzen. Da ändert auch der schwarze Bob nichts, den ich damals einfach nicht mit dem Bild der Reporterin in Verbindung bringen konnte. Obwohl eine andere Haarfarbe selbstverständlich keinen neuen Menschen macht, auch wenn uns das manchmal in Filmen vermittelt wird. Damals senkte die vermeintliche Bedienstete eben einen Großteil der Zeit ihren Kopf und die Idee, dass sich eine Oberschichtlerin als Zofe verkleiden könnte, ist mir in den wenigen Minuten unseres Aufeinandertreffens nun mal nicht durchs Hirn geschossen.
>>Na schön, dann sei es so<<, erklärt sie steif, bevor sie einen tiefen Atemzug nimmt, als müsste sie sich für das Kommende emotional wappnen, >>Ich hatte nicht immer so viel Verständnis für die Umstände der Unterschicht wie das nun der Fall ist. Auch ich war einer dieser Oberschichtlerinnen, die ein sorgloses Leben führten, ohne dabei auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen oder wahrzunehmen, was um mich herum alles falsch läuft. Der Aufprall mit der Realität folgte dann ein paar Monate nachdem ich einundzwanzig geworden bin. Ich war langsam dabei mich in meiner Moderatorinnenkarriere hochzuarbeiten und bezog damals schon allein ein Haus in einer schönen Wohngegend, als ich plötzlich eine Nachricht von meinem Vater bekam. Er bat mich um ein Treffen und als ich dann dort zusammen mit meiner drei Jahre älteren Schwester eintraf, erzählte er uns, dass er krank sei. Seine Niere funktionierte nicht mehr wie gehabt und eine lebend Organspende war dringend notwendig. Also...<<
>>Was hat dieses Blabla über hübsche Wohngegenden und kaputte Nieren bitteschön mit dem Grund zu tun, warum du heute hier bist?<<, unterbricht Daimon sie harsch und es scheint so als seien nicht nur mir die Geduldsfäden ausgegangen. Doch immerhin besitze ich noch den Mindestrest an Anstand, der es mir ermöglicht meine mangelnden Fähigkeiten nicht auf unschuldige Personen loszulassen, wie der griesgrämige Volltrottel neben mir. Böse mustere ich ihn von der Seite, doch er ist ganz auf die Frau vor uns konzentriert, die seinen bohrenden Blick mit erhobenem Kinn über sich ergehen lässt.
Ich verdrehe die Augen und fühle mich zugleich an meine Anfangszeit im Schloss erinnert, in der mich Daimon mit einem ähnlichen Blick durchleuchtet hat. So wie es aussieht, lag das nicht nur an meiner trotzigen Persönlichkeit und meinen Kontern, sondern auch an dem massiven Vertrauensproblem, das den Prinzen zu verfolgen scheint. Tja, und da ich die einzige hier bin, die gerade nicht mit einem Starrduell beschäftigt ist, liegt es wohl an mir kluge Entscheidungen zu treffen und das Gespräch weiterzutreiben.
>>Was Daimon mit diesen liebevoll ausgewählten Worten zu vermitteln versucht ist, dass wir vielleicht doch nicht genug Lebenszeit erübrigen können, um uns ihre Story bis ins kleinste Detail anzuhören. Wenn Sie also einfach zum wichtigen Teil vorspulen könnten, wären wir ihnen sehr verbunden<< Mein versucht schlichtender Tonfall bringt mir eine hochgezogene Augenbraue und ein schiefes Grinsen von Daimon ein, der endlich von seinem Durchbohrobjekt abgelassen hat. Was definitiv ein Gewinn ist, weil ich ihm nun mit meinen Augen zu verstehen geben kann, dass er seine miese Laune besser zügeln sollte und ich seine misstrauische Cop-Nummer vielleicht etwas zu überzogen finde.
Er hat daraufhin natürlich nichts Besseres zu tun, als mir frech zuzuzwinkern und lässig mit den Achseln zu zucken, was mir eindeutig zu verstehen gibt, dass seine übertriebene Ablehnung größtenteils nur Show ist und dazu dient unserer neuen Anführerin etwaige Leichen im Keller etwas einfacher zu entlocken. Und obwohl die Kernidee nicht einmal so schlecht ist, kann ich ein Augenrollen meinerseits nicht verhindern. Er sucht doch nur einen Vorwand um mal wieder den arroganten, provokanten Idioten raushängen zu lassen.
>>Hkkk...hkkk..mhhh<<, räuspert sich Jennifer auffällig und an den unnatürlichen Geräuschen, die sie dabei ausstößt kann ich schnell festmachen, dass sie nicht nur einen Frosch im Hals loswerden wollte, >>Ob ihr es glaubt oder nicht, die Informationen, die ich euch bisher genannt habe, sind durchaus relevant für den Grund meiner Anwesenheit. Und genau deshalb werde ich jetzt einfach mal unbeeindruckt weitererzählen... Mein Vater brauchte also eine neue Niere und da wir seine nächsten Verwandten sind, wurden wir natürlich zuerst überprüft. Das alles hatte aber eine unvorhergesehene Nebenwirkung, denn während mein Organ als Spende durchaus infrage kam, konnte bei meiner Schwester keinerlei Ähnlichkeit zu seiner festgestellt werden<<
Für kurze Zeit ist es still im Raum und der letzte Satz steht wie eine unausgesprochene Tatsache in der Luft, während die Moderatorin mühsam schlucken muss – fast so als müsste sie dieses Mal wirklich einen Kloß gewaltsam ihre Kehle hinunterpressen. >>Zur Sicherheit wurde danach noch ein Vaterschaftstest durchgeführt, doch das Ergebnis blieb bestehen: Silvie war nicht die Tochter meines Vaters. Anscheinend hatte meine Mutter, die schon lange vor diesem Debakel gestorben ist, eine Affäre mit jemand anderem, bei dem schlussendlich meine ältere Schwester entstand. Zunächst wussten wir nicht wer es war, doch nachdem die Neuigkeit in unserem Haus die Runde gemacht hatte, meldete sich plötzlich unser Chauffeur und gestand zu etwa der Zeit Sex mit meiner Mutter gehabt zu haben. Ein weiterer Vaterschaftstest bestätigte dies und ich verfluche bis heute noch den Tag, an dem wir das überprüfen ließen. Denn danach kamen sie, um Silvie zu holen<<
Ihre Stimme ebbt plötzlich ab und ich kann Tränen in ihren Augen glitzern sehen, während sie auf einen Punkt an der Decke starrt und dabei so wirkt, als wären ihre Gedanken meilenweit entfernt. Auch mein Herz zieht sich anlässlich des riesigen Damoklesschwertes zusammen, das über uns zu baumeln scheint und darauf wartet zuzustoßen. Vielleicht waren die vorherigen Informationen alle notwendig, um die Geschichte zu verstehen, doch mein Gefühl sagt mir, dass wir jetzt zum Kernpunkt voranschreiten. Und an ihrem schmerzerfüllten Gesicht kann ich ablesen, das die Story kein Happy End aufweist.
>>Wir waren damals so dumm. Ich, mein Dad, Steve, unser langjähriger Chauffeur, der plötzlich von einem Tag auf den anderen Vater wurde... Wir hatten alle bei dem ganzen Trubel und dem Bedürfnis danach, die Lüge, die meine Mutter gesponnen hat, aufzulösen eine wichtige Tatsache vergessen: Silvie war Profitänzerin. Sie war eine der besten Primaballerinas und ihre Shows waren regelmäßig ausgebucht, doch das bedeutete auch, dass sie einen Beruf der Oberschicht ausübte. Doch durch ihren Vater, der der Unterschicht angehörte, war sie eigentlich eine gebürtige Unterschichtlerin... Und genau deshalb...<<
Nun hat Jennifer deutlich Mühe ihre Tränen zurückzuhalten und ich verstehe plötzlich, warum sie zu Beginn dieser Unterhaltung so unsicher wirkte: Diese Geschichte versetzt sie jedes Mal in eine emotionale Phase, die sie verletzlich werden lässt, doch anscheinend ist es ihr wichtig genug, unser volles Vertrauen zu gewinnen, um diese Bürde auf sich zu nehmen. >>Und genau deshalb - <<, wiederholt sie nun wieder etwas gefasster, >>beschuldigte die Polizei sie des Schichtbetrugs. Sie drehten es so hin, als hätte sie es ihr Leben lang gewusst und es dabei bewusst niemandem erzählt, um der natürlichen Ordnung zu entgehen. Und ehe wir uns versahen nahmen sie Silvie mit sich. Uns wurde gesagt, dass sie zunächst in U-Haft kommen würde, wo sie kurz darauf ein fairer Prozess erwartet. Ich schrie die Polizisten an, dass sie nichts davon gewusst habe und auch meine Schwester beteuerte ihr Unschuld, doch sie glaubten uns nicht und es gab keine Beweise, auf die wir unsere Aussage hätten stützen können<<
Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und wie von selbst tastet meine Hand nach der von Daimon, die sich kurz darauf bereitwillig um meine schließt und dabei mit der kreisenden Bewegung eines Fingers über meinen Handrücken streicht. Erst da wird mir wirklich bewusst, dass sich mein Körper wiedermal verselbstständigt hat und das keineswegs unter eine rein geschäftliche Beziehung fällt. Sofort möchte ich meine Hand wieder zurückziehen, doch noch ehe ich genug Zug aufbauen kann, hat der Prinz seinen Griff schon verstärkt und verwöhnt meine Haut weiterhin mit sanften Berührungen, die ein verräterisches Kribbeln hinterlassen.
Schnell fokussiere ich mich wieder auf Jennifers tragische Geschichte und versuche den Fakt zu verdrängen, dass ich kein zweites Mal die Selbstbeherrschung aufbringen kann, meine Hand wieder für mich zu beanspruchen. Die Moderatorin starrt immer noch mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen ins Leere, bevor sie vorsichtig ihre Lippen befeuchtet und mit rauer Stimme fortfährt. >>Sie wurde also einfach mitgenommen und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Die Informationen, die wir in den kommenden drei Wochen zu ihrer Person bekamen waren beinahe schon lächerlich geringfügig. Uns wurde nicht mal ihr genauer Standort verraten, wir durften nicht mit ihr sprechen und besuchen konnten wir sie schon dreimal nicht. Und dann in der vierten Woche sagte man uns, sie wäre...<<
Kurz schließt sie die Augen als müsse sie sich sammeln. >> - von uns gegangen. Bei ihrer Umsiedlung von einem Gefängnis zum nächsten sei es zu einem Autounfall gekommen, der sie und den Fahrer das Leben kostete. Wir konnten es alle nicht fassen. Schließlich war sie noch so jung und wir hatten gehofft, dass wir sie nach diesen vier Wochen Funkstille vielleicht doch noch irgendwann wiedersehen würden, doch dem war leider nicht so. Noch dazu schien das alles so abstrus. Immerhin hat jedes zulässige Fahrzeug egal wie alt und billig es auch gewesen sein mag, mittlerweile einen Mechanismus, der den Wagen sofort stoppt, wenn er von der Fahrbahn abkommt oder ins Schlingern gerät. Vielleicht war das früher vollkommen gewöhnlich, aber mittlerweile sind selbst die jährlichen Sterberaten von Unfällen mit Leitern höher als die von Autounfällen. Das ganze kam mir komisch vor. Also begann ich damit nachzuforschen<<
Eine böse Ahnung steigt in mir auf und für einen kurzen Moment sehe ich wieder die Bilder der brennenden Frau vor mir, die wegen etwas Ähnlichem angeklagt wurde. Möglichweise musste Silvie ja dasselbe Schicksal erfahren? >>Zuerst sah ich mir die vermeintliche Unfallstelle unter dem Vorwand an dort einen kleinen Altar aufbauen zu wollen, doch selbst mit dieser Ausrede kostete es mich enorm viele Anrufe, um an diese Information zu gelangen. Ich wurde immer stutziger, vor allem als ich einen Tag später wirklich dort stand und nichts sah. Es gab keine Reifenspuren im Gras um die Straße herum und obwohl es sich um eine Standartfrage handelt, wurde uns nicht die Möglichkeit geboten, sie in einem offenen Sarg zu begraben. Und genau deshalb verwendete ich auch nach der Beerdigung so viel Zeit darauf der Sache nachzugehen und ich wurde mehr als fündig. Ich konnte noch andere Familien mit ähnlichen Schicksalsschlägen ausmachen und da selbst ich als Oberschichtlerin die Legenden über die Königsfamilie gehört hatte, zählte ich irgendwann eins und eins zusammen. Silvie starb nicht bei einem Autounfall, sondern musste denselben grausamen Feuertod sterben wie die Frau auf dem Video, das ich aufgenommen hatte.
Und ja, das mit dem Video war ich. Es ist wirklich unsagbar schwer einen Job im Schloss zu bekommen, da alle Mitarbeiter bis auf die Nieren überprüft werden. Wir hatten lange versucht jemanden von uns als Bedienstete einzuschleusen, doch wir scheiterten jedes Mal. Da kam mir das Prinzessinnencasting und die damit einhergehende Arbeit im Schloss gerade Recht. Immerhin fehlten uns zur Enthüllung dieser grausamen Geschichte noch stichhaltigere Beweise, die das Volk endgültig auf unsere Seite ziehen sollte. Ich schlich also schon zuvor öfters nebenher als Zofe verkleidet im Schloss herum, doch nachdem mir dieser königliche Bastard kündigte, wurde es mein Ganztagsjob, bis ich schließlich meine Chance bekam eine Kamera in seinem Kerker zu installieren. Noch bevor das Video veröffentlicht wurde, verschwand ich dann wieder von dort, um nicht geschnappt zu werden. Ihr müsst wissen, dass diese Organisation mein Lebenswerk ist. Meine Chance Gerechtigkeit einzuholen. Und zwar nicht nur für Silvie und die anderen Opfer, sondern auch für die gesamte Unterschicht, die auch so einige Dinge ertragen musste, die nicht unter den Teppich gekehrt werden sollten. Ich danke Euch beiden also von Herzen dafür, dass ihr mit an Bord seid<<
Jennifer scheint ihre letzten Worte wirklich ernst zu meinen und zugleich durchströmt mich auch eine Art Verbundenheit, die mir schon zuvor in Bezug auf dieses Team untergekommen ist, obwohl seit unserer ersten richtigen Begegnung erst ein paar Tage vergangen sind. >>Danke, dass Sie sich uns anvertraut haben, das war sicherlich nicht leicht. Jedenfalls tut mir Ihr Verlust aufrichtig Leid, Ms. Loran. Ich bin sicher, dass Silvie stolz auf Sie wäre und ich verspreche Ihnen, dass wir diese einmalige Chance bestmöglich nutzen werden. Es wird Zeit etwas gegen König Henry zu unternehmen<<, erwidere ich, bevor die unangenehme Stille im Raum uns erdrücken kann.
>>Mir tut es ebenfalls Leid<<, steigt Daimon mit ein, was in mir einen kleinen Funken Überraschung entlockt. Nicht, dass ich ihn immer noch für herzlos halten würde – auch wenn das früher der Fall war. Immerhin schien er so viel Sympathie aufzuweisen wie ein toter Fisch, dem noch dazu jegliche Erinnerungen an nervige Seemöwen und leckeren Plankton genommen wurde – Doch obwohl ich jetzt besser Bescheid weiß, kommt diese Mitleidsbekundung nach der offenen Ablehnung zu Beginn dieser Unterhaltung, beinahe einer hundertachtzig Grad Wendung gleich.
>>Ich weiß aus erster Hand, was für ein Bastard mein Vater sein kann und deshalb bin ich froh, Sie und ihre Organisation unterstützen zu können. Außerdem hat Flämmchen Recht, es wird Zeit das Richtige zu tun<< Bei seinen letzten Worten bohrt sich sein stürmischer Blick direkt in meinen und das Nicken, das ich ihm daraufhin mit ernster Miene gebe, fühlt sich an wie die entscheidende, alles besiegelnde Unterschrift auf einem wichtigen Dokument. Und als er einen Mundwinkel leicht hochzieht und mir ebenfalls eine kurze Auf- und Abbewegung seines Kopfes zukommen lässt, weiß ich, dass er seinen Namen gerade auch auf diesem Schriftstück hinterlassen hat.
Denn jetzt ist es endgültig: Das hier ist unser Team. Und egal wie wenig Zeit uns bleibt und wie irrsinnig sich die Idee beim ersten Mal anhört, wir werden verhindern, dass die Koslower den Thron erringen und König Henry die Krone entreißen.
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TipTipTipTip hallt es durch den Raum und ich senke meinen Blick auf mein vollgekritzeltes Papier und den Kugelschreiber, den ich in regelmäßigen Abständen auf den Schreibblock niedersausen lasse. Seit unserer Begegnung mit der Anführerin ist nun über eine Woche vergangen und wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den großen Tag, den ich mir wohl dick und fett im Kalender markiert hätte, wenn das keine Fragen aufwerfen würde. So trage ich nur eine mentale Erinnerung mit mir herum, die meinen Körper in ein angespanntes Dauerstadium versetzt, das nicht nachzulassen scheint. Und ich habe wirklich schon alles versucht: Meditieren, Yoga, Miris ekligen Beruhigungstee, dem sie magische Kräfte nachsagt. Doch bis auf mein tägliches Training mit Dean kann nichts meinen neuentdeckten Bewegungsdrang stillen. Und genau deshalb ist dieser Teil des Tages zu meinem absoluten Highlight geworden, obwohl mir der arme Dean langsam schon leidtut, weil ich immer so fest zuschlage.
Unser Band ist jedoch nicht nur wegen dem intensiveren Kampftraining noch enger geworden, sondern auch, weil er mittlerweile ebenfalls bei der Organisation eingestiegen ist. Während dem Planen bemerkten wir nämlich, dass es zwingend notwendig ist einen Wachmann in unserem Team aufzunehmen. Deshalb entschieden wir uns kurzerhand für Dean, obwohl niemand von uns sicher sein konnte, dass er Ja sagen würde. Schließlich äußerte er in meiner Gegenwart niemals einen besonderen Groll gegen die Königsfamilie und ich hatte nur eine Handvoll Reaktionen als Indizienbeweise, doch es war nicht so als hätten wir groß eine Wahl.
So kurz vor dem großen Tag ist die Einschleusung eines Mitglieds fast unmöglich und auch Daimon kannte niemand von den Wachen, der ein niedrigeres Risiko darstellen würde. Also wagte ich es und weihte ihn vor ein paar Tagen ein, was dafür sorgte, dass mir ein Stein in der Größe eines überdimensionalen Meteoriten vom Herzen fiel, als er zustimmte uns zu helfen. Scheinbar hat er in seiner Zeit als Soldat einige Dinge erlebt, die er für politisch falsch und nicht vertretbar hält, weshalb er die Gefahr erwischt zu werden mit dem größten Vergnügen eingeht.
Ich dagegen bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob das wirklich eine kluge Idee war. Zum einen gibt es natürlich wieder diese kleine zweifelnde Stimme, die mir zuflüstert, dass er sich längst mit dem König kurzgeschlossen hat und uns alle hinter Gitter bringen wird und zum anderen habe ich schreckliche Angst davor, dass ihm auf Grund dieser Entscheidung etwas zustößt. Beides Dinge, die eigentlich total lächerlich sind, wenn man mal genauer darüber nachdenkt. Immerhin habe ich Dean ausgewählt, eben weil ich ihm nicht zutrauen würde mich zu verraten und passieren kann ihm bei diesem Job jeder Zeit was. Ein gezielter Pfeil hier, ein Angriff der Koslower mit Großbrand dort. Himmel, ein Mensch kann quasi in jeder erdenklichen Lebenslage umkommen, wenn das Schicksal sich dazu entscheidet ihm mit dem Stempel ,,Überreif – Eliminierung einleiten" versieht. Zum Beispiel wenn man sich nur mal eine Pause in der Küche gönnt, dem Koch kurz darauf das Messer aus der Hand flutscht und es dann im denkbar ungünstigsten Winkel auf dich zufliegt und deinem Herzen mit einem Stich ein Ende setzt.
Warum mache ich mir also überhaupt solche Gedanken darum, dass er meinetwegen umkommen könnte? Frustriert höre ich auf mit dem Kugelschreiber auf den Untergrund zu klopfen und werfe erneut einen Blick auf meine Notizen, die wirr und nur für mich leserlich auf das Blatt Papier gebannt sind. Noch eine Angewohnheit, die sich mittlerweile entwickelt hat. Denn obwohl Daimon und ich weit aus genug Zeit in diesem Konferenzraum verbringen und mit den anderen die Köpfe zusammenstecken, gibt mein Hirn auch zuhause keine Ruhe. Es dreht sich unaufhörlich darum den Plan weiterzuentwickeln oder zu verbessern, Sicherheitslücken zu finden oder das Worst-Cast-Szenario in meinem Kopf auszuschlachten wie Herde Hühner auf dem Schlachthof.
Tja, und wenn dann noch Zeit übrig bleibt, schleicht sich meist auch noch ein Gedanke an Daimon mit ein, obwohl ich die Sache ansonsten eigentlich im Griff habe. Unsere Beziehung hält sich auf einer geschäftlichen Ebene und wenn wir miteinander reden geht es meistens um die Mission. Außerdem scheint er sich an unsere Abmachung zu halten, denn er hat meine Kräfte schon länger nicht mehr erwähnt und er hält sich auch mit seinen scharfen, andeutenden Bemerkungen zurück. Selbst meinen Körper habe ich irgendwie in den Griff gekriegt, doch trotzdem lässt sich mein Verstand immer wieder dazu hinreißen Gedanken zu formen, die nicht mal annährend geschäftsmäßig sind. Zudem vermisse ich ihn irgendwie, was in Kombination mit der Tatsache, dass wir uns tagtäglich sehen, völlig abstrus ist.
Doch mein Innerstes hört trotzdem nicht auf sich zu wünschen, ihn nicht nur zu sehen oder sich mit ihm über den Plan zu unterhalten, sondern ihn auch zu berühren. Zu küssen. Neben ihm zu liegen und gemeinsam an die Decke zu starren. Meine dunkelsten Geheimnisse mit ihm zu teilen... Gott, wenn ich mich selbst so denken höre, merke ich, dass ich definitiv krank bin. Ich weiß nicht ob das die Hirnverlustgrippe oder die Pest der unlogischen Wünsche ist, doch dass ich auch nur einen Moment daran denke ihm mein letztes Herzstück, zusammen mit meinem Geheimnis zu überreichen, sagt schon echt alles aus. Doch trotzdem...
Mitten in meinem Gedankenchaos horche ich plötzlich fast unbewusst auf, weil irgendetwas gegen meine Tür gedonnert ist oder jedenfalls wäre das meine erste Theorie zu dem seltsamen Rums von gerade eben. Was zur Hölle?, denke ich, während ich mich gleichzeitig frage, ob sich ein Bulle hier im Schloss rumtreibt. Genau in dem Moment als ich mich dazu entscheide aufzustehen um nachzusehen, wird auch schon meine Tür mit einem energischen Ruck aufgerissen und meine Soldatensinne aktivieren sich. Sofort nehme ich eine Abwehrhaltung ein, doch es ist kein Soldat des Königs, der mich für meinen Verrat festnehmen will sondern... Cameron?, schießt es mir verwirrt durch den Kopf, weil das Gesicht des völlig aus der Puste geratenen Prinzen unter einer Haartolle begraben liegt, die ein noch größeres Chaos darstellt als sonst.
>>Du musst mir helfen, Fait... Macen... Er... Er...<<, keucht er panisch und stützt sich dabei erschöpft auf seinen Knien ab, während sich in meinem Inneren eine böse Vorahnung breit macht.
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Bambambam... Ich glaube, wir wollen nicht darüber reden, dass das Kapitel um die 4.800 Wörter hat, weil ich unbedingt diesen Cliffhanger einbauen wollte... Denn irgendwie war das Kapitel nicht wirklich interessant, weshalb ich wenigstens zum Schluss ja noch ein bisschen Würze einbauen musste...
Ach so und bevor ich es vergesse, Woche 5 (?): Check!!!
Des Weiteren gehen Grüße an meine lieben Daimon-ist-der-Kronprinz!-Das-ist-Fakt!-Leser raus... Mein Gott habe ich lange auf diesen Moment gewartet, denn jedes Mal, wenn ich schrieb ,,Leute, es wurde nie erwähnt. Es könnte auch jemand anderes sein" wollte ich eigentlich schreiben ,,Oh, little do you know", aber ich wollte ja auch nicht zu auffällig vorgehen und das Überraschungsmoment zerstören...
Tja, dann sehen wir uns hoffentlich beim nächsten Mal :P
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