Kapitel 12
Unruhig kaue ich auf meiner Unterlippe herum, als auf dem Flachbildschirm endlich ein hübsches Fernsehstudio erscheint. Nachdem die Kamera über das aufgeregte Publikum und den heutigen Moderator geschwenkt ist, zoomt das Bild näher an meine Eltern heran, die bereits auf einem weißen Sofa sitzen. Beide sehen wie immer makellos aus. Besonders meine Mutter, die in ihrem rosé farbenen Kleid aussieht als würde sie dieses nach ihrem Interview noch auf dem Laufsteg präsentieren wollen, scheint direkt vom Titelblatt einer angesagten Modezeitschrift abgeblättert zu sein.
Wenn sie nur innerlich genauso atemberaubend wäre wie äußerlich, denke ich. Schiebe diesen Gedanken aber schnell wieder zur Seite. Ich sollte mich wohl besser Voll und Ganz auf das Interview konzentrieren, anstatt irgendwelchen melancholischen Gedanken nachzuhängen.
Nach einer Willkommen-zur-Interview-Midtime-Show-,,Startalk"-Anrede mit dramatischer musikalischer Untermalung, ergreift schließlich der heutige Gastgeber Bruce Wellinger, wie ich der Informationszeile entnehmen kann, das Wort. >>Hallo und herzlich Willkommen hier bei uns. Heute dürfen wir gleich zwei ganz besondere Gäste begrüßen. Josh und Linda Montgomery<<, tönt die Stimme des Blondhaarigen euphorisch durchs ganze Studio, was mich prompt die Lautstärke des Fernsehers um zwei Stufen verringern lässt. Ich hasse es wenn Leute schreien! Auch das darauffolgende Klatschen der Menge, lässt mich meine Entscheidung nicht bereuen. Mein Gott, man sollte grad meinen das Publikum würde in Mikros klatschen. Wenn ich mir das aber so recht überlege, verwerfe ich die Theorie gleich wieder. Das würde wohl mehr ohrenbetäubendes Quietschen und weniger begeisterte Menge vermitteln.
>>Ich und mein Mann danken vielmals für die Einladung. Es ist immer eine Freude bei dieser Show dabei zu sein<<, schleimt sie nach Abklingen des Applauses und setzt dabei ein übertriebenes Lächeln auf. So oft wie ich sie schon, trotz unserer wenigen gemeinsamen Momente, über Midtime Shows habe zetern hören, kann dieses Lächeln nicht echt sein. Doch für irgendetwas müssen ja über fünfundzwanzig Jahre Modelkarriere gut sein.
Mein Vater bleibt wie immer erst einmal still. Er kann zwar überzeugende Reden schwingen, aber ansonsten ist er eher ein ruhiger Zeitgenosse. Besonders wenn er ein Interview fernab von seinem Unternehmen führen muss, überlässt er meist meiner Mutter das Reden. Nicht dass seine Frau ihm viel Gelegenheit geben würde selbst einmal zu Wort zu kommen. Dafür liebt sie es einfach viel zu sehr im Mittelpunkt zu stehen.
>>Immer wieder gerne...<<, erwidert der Moderator schnell, >>...Aber ich finde wir sollten nicht lange um den heißen Brei reden und lieber gleich den Kernpunkt des heutigen Abends ansprechen: eure Tochter Fait. Erst gestern wurde sie zusammen mit eurer anderen Tochter Trish dazu erwählt an der Prinzessinnenwahl teilzunehmen. Doch als ihr Name genannt wurde, war sie plötzlich spurlos verschwunden und auch sonst hat man noch nie etwas von einer zweiten Tochter aus dem Hause Montgomerys gehört. Was hat es also mit ihr auf sich?<< Ja, was hat es bloß mit mir auf sich? Bin ich nur eine schlechtbezahlte Küchenhilfe, die sich zum Ball geschlichen hat? Oder bin ich eine gesuchte Attentäterin, die am Ballabend wichtige Informationen für eine Geheimgesellschaft gesammelt hat? Stimmt jetzt über eure Lieblingsstory ab, denke ich während ich im großen Stil die Augen verdrehe. Ich weiß schon, warum ich es vermeide solche Shows anzuschauen. Wenn ich einmal angefangen habe, kann ich meinen Sarkasmus nicht mehr zurückhalten und muss mir zu allem einen blöden Kommentar ausdenken. Das ist ja fast schon zwanghaft.
>>Ich muss sagen, dass das eine wirklich lange Geschichte ist, aber da die Sendezeit ja noch etwas dauert, fange ich einfach am Anfang an<<, verkündet meine Mutter und macht eine von ihren berühmten Kunstpausen. Ja, zwanzig Minuten Sendezeit geben dir natürlich die Möglichkeit eine ganze Lebensgeschichte zu erzählen, denke ich. In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich es noch nie erlebt wie meine Mutter sich kurzgefasst hat. Also fange ich an mir darüber Sorgen zu machen, ob es zu diesem Interview nicht vielleicht einen zweiten Teil gibt.
>>Vorweg ist es wichtig zu wissen, dass Fait nicht unsere leibliche Tochter ist, sondern von uns adoptiert wurde. Wir fanden sie im Alter von fünf Jahren völlig verhungert und verängstigt in unserem Garten. Natürlich versuchten wir erst einmal ihre Eltern zu finden, doch auch nach mehrwöchiger Suche meldete sich niemand. Also statteten wir dem nächsten Waisenhaus einen Besuch ab, um dort genauere Informationen über sie zu erlangen. Denn mittlerweile waren wir schon zu vernarrt in das kleine Mädchen, um sie jemals wieder gehen zu lassen. Deshalb überredeten wir das Waisenhaus dazu uns die Adoptionspapiere zu überschreiben und gaben dem Mädchen ein neues Zuhause. Die ersten Jahre mit ihr waren nicht einfach und ich würde auch behaupten, dass es uns immer noch schwerfällt einen Draht zu ihr zu finden. Irgendetwas in ihrer Kindheit muss sie wohl tief traumatisiert haben, so dass es für uns außer Frage stand sie in den Mittelpunkt der Medien zu rücken. Das hätte ihren psychischen Zustand zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nur verschlechtert. Aber auch als sie älter wurde und selbst hätte entscheiden können, stellte sie sich strikt gegen ein Leben in der Oberschicht und zog lieber mit Leuten aus der Unterschicht um die Häuser. Später ließ sie sich dann auch noch dieses schreckliche Tattoo stechen. Ich weiß nicht, was in diesem Moment in sie gefahren ist! Trotzdem versuchten wir als Eltern unser Bestes zu geben und respektierten sogar ihren Wunsch den königlichen Ball zu besuchen, auf dem sie sogar von einem Prinz erwählt wurde. Wer hätte das gedacht?<<, erzählt sie möglichst dramatisch und versetzt mir mit jeder weiteren Minute einen tieferen Stich in mein Herz.
Allein schon offiziell vor aller Öffentlichkeit den Titel als ihre leibliche Tochter aberkannt zu bekommen, sorgt in mir nicht gerade für Glücksgefühle. Dann aber noch als traumatisiertes Problemkind dargestellt zu werden, lässt mich einfach nur fassungslos zurück. Vielleicht bin ich wirklich nicht einfach zu handhaben. Aber anders als in Mutters Geschichte, hatten sie sich ja nicht mal die Mühe gemacht mich in irgendeiner Weise zu erziehen.
Ich kann von Glück reden, dass Rocelyn so ein gutes Herz besitzt und für mich extra in die Mutterrolle geschlüpft ist. Ich weiß nicht, was ansonsten aus mir geworden wäre. Vielleicht hätte ich mich ja tatsächlich zu einem traumatisierten Problemkind entwickelt? Oder würde ich schon lange fernab von meinen leiblichen Eltern leben, weil mich in den leeren Wänden meines Zuhauses nichts mehr gehalten hätte? Ich kann es wirklich nicht sagen, aber was nun umso deutlicher aus meinem Gefühlswirrwarr heraussticht ist die Sehnsucht nach Rocelyn. Jetzt schon vermisse ich ihre Umarmungen und Mütterlichkeit, und das obwohl wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen haben.
Kopfschüttelnd wende ich mich wieder dem Interview zu. Über all das kann ich mir schließlich nachher noch den Kopf zerbrechen. >>Also hätten sie nicht erwartet, dass einer der Prinzen ihre Tochter erwählt?<<, hakt der Gastgeber interessiert nach und auch ich bin gespannt, was meine Mutter auf diese Frage antworten wird. Vorsichtshalber schotte ich meine Gefühle schon einmal ein wenig von mir selber ab. Das würde ihre Antwort hoffentlich weniger schmerzvoll machen.
>>Also bei meiner Tochter Trish war ich mir natürlich hundert prozentig sicher. Ich meine, sie ist wirklich ein Goldstück. Bei meiner Tochter Fait hingegen zweifelte ich jedoch stark daran, dass jemand sie erwählen würde. Aber wie wir nun sehen, lag ich mit dieser Einschätzung anscheinend falsch. Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht erwartet habe, dass sich die Prinzen für...<<, meine Mutter hält einen Augenblick inne. Wahrscheinlich ist sie gerade auf der Suche nach einem Wort, dass nicht zu sehr in die Kategorie Beleidigung fällt, >>... exotische Mädchen interessieren<<, beendet sie schließlich ihren Satz.
Ein humorloses Lachen entweicht meinen Lippen. Exotisch? Ich bin mir sicher, dass meine Mutter eigentlich an ganz andere Bezeichnungen gedacht hat. So etwas wie Missgeburt, der größte Fehler meines Lebens oder eine sittenlose Wilde waren da schon eher Begriffe, die sie in Bezug auf mich verwenden würde. Im Gegensatz dazu klang exotisch ja sogar in ihrem abfälligen Tonfall richtig nett. Trotzdem bezweifle ich, dass irgendjemand ihr die Rolle als liebende Mutter abnehmen würde. Pardon, ich meine natürlich die Rolle der liebenden Adoptivmutter.
>>Aber sie sind doch sicher trotzdem stolz darauf, dass sie es in den Wettbewerb geschafft hat, oder?<<, fragt der Blonde deutlich überrascht von ihrer abwertenden Antwort. >>Natürlich sind wir stolz auf unser Mäuschen. Das hat sie sich auf jeden Fall verdient<<, ergreift Josh nun das Wort und spielt die Elternrolle deutlich besser als meine Mutter. Würde ich nicht schon neunzehn Jahre mit ihm unter einem Dach leben, hätte ich ihm das vielleicht sogar abgekauft. Nicht weil meine Beziehung zu ihm so gut ist, dass ich sogar seine beste Lüge durchschauen würde, sondern einfach weil er mich seit meiner Kindheit wie Luft behandelt. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich die wenigen Wortwechsel mit ihm nicht einfach nur geträumt habe.
>>Und wie schätzen sie ihre Chancen im Wettbewerb ein?<<, stellt der Moderator gleich die nächste Frage. Anscheinend möchte er so viel wie möglich über mich herausfinden so lange seine Sendezeit noch läuft. >>Das ist schwer zu beurteilen. Die Wege des Herzens sind schließlich unergründlich<<, sagt meine Mutter schlicht und lächelt der Kamera verschwörerisch zu.
Mein Mund klappt daraufhin auf wie das Maul eines Krokodils. Die Wege des Herzens sind unergründlich? Aus welchem Schnulzenroman hat sie denn bitte diesen Satz ausgegraben. Für dieses Interview fährt sie wirklich große Geschütze auf, wenn sie schon derart romantische Worte in den Mund nimmt. Ich könnte wetten, dass sie nach der Nachhause Fahrt erst einmal eine Stunde mit Mundwasser gegurgelt hat, um den Geschmack von Zuneigung und Rosen wieder loszuwerden.
Der Moderator scheint aber anders als ich nahezu verzückt von ihrer Antwort zu sein. >>Wie recht Sie doch haben<<, pflichtet er ihr bei und nickt zur Bekräftigung wie ein geölter Wackeldackel. >>Kommen wir jetzt aber zur letzten Frage des heutigen Abends. Was würden sie sagen, was ist Fait Montgomery für ein Mensch?<<, fragt er und seine Worte sorgen prompt dafür, dass sich das Mittagessen in meinem Bauch mit einem Ruck umdreht. Ein böses Gefühl nistet sich zwischen meiner Leber und meinem Magen ein. Eigentlich möchte ich das Interview jetzt sofort abschalten, möchte die geheuchelte Antwort meiner Eltern auf keinen Fall hören, doch ich bin wie erstarrt.
>>Wie schon gesagt ist sie ein wirklich schwieriger Mensch. Es ist schwer einen Draht zu ihr zu finden, aber das könnte auch daran liegen, dass sie mit der Oberschicht wenig anzufangen weiß. Sie besitzt einfach nicht das Starpotenzial von Trish. Sie ist in dieser Hinsicht eher gewöhnlich, aber ansonsten scheint sie niemanden in Ungewöhnlichkeit übertreffen zu können. Ihr Traum ist es tatsächlich seit Jahren Soldatin zu werden und das als Frau! Ich würde sie also als sehr speziell und eigensinnig bezeichnen, aber auch ungehorsam und rebellisch sind äußerst treffende Worte für ihren Charakter<<, schildert meine Mutter und in diesem Moment zweifle ich nicht daran, dass ihre Aussage wirklich ihrer Meinung entspricht. Vielleicht eine abgeschwächte Verfassung ihres eigentlichen Blickwinkels auf mich, aber dennoch.
Und das tut mehr weh als alles andere, dass sie es in diesem Aspekt nicht mal geschafft hat vor den Kameras zu lügen. Das ihre fehlende Zuneigung für mich so unumstößlich ist.
Die Abschiedsworte und der Abspann rauschen an mir vorbei wie die Landschaft einer nächtlichen Autofahrt. Ich kann mich auf keines der Worte mehr konzentrieren und es ist als ob ich durch den Fernseher durchsehen könnte. Erst als mir FTP eine Liste ähnlicher Ergebnisse vorschlägt, erwache ich aus meiner Taubheit und schalte den Fernseher mit einem Druck auf den Knopf aus. Die Gedanken und Gefühle wirbeln nur so in meinem Inneren.
Raus, denke ich, ich muss dringend hier raus. Wie von einer Tarantel gestochen stehe ich auf und öffne die Balkontür, doch das ist mir nicht genug. Ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird bis mein Gefühlschaos irgendeinen Schaden verursachen wird. Also rausche ich aus meinem Zimmer. Ich bin so neben der Spur, dass ich nicht einmal daran denke mir eine Alibijacke mitzunehmen, um einer anderen Person Kältegefühl vorzutäuschen.
Schneller als ich es je für möglich gehalten habe, erreiche ich die Tür zum Garten, die ich ohne weiteres passiere. Anscheinend bewachen die Soldaten die Grenzen des Schlosses, anstatt das Schloss selbst. So können Angreifer erst gar nicht auf das Grundstück gelangen und Nachtstreifer wie mich in Gefahr bringen. Praktisch, besonders da ich jetzt absolut keinen Nerv gehabt hätte mich mit einem sturen Wachmann auseinander zu setzen.
In einem hohen Schritttempo nähere ich mich dem Wald auf der linken Seite des Schlosses. Wenn ich mich erst einmal im Windschatten der Bäume befinde, könnte ich es im Notfall wagen meine Kräfte bewusst einzusetzen, um spätere Schäden zu vermeiden. Innerliche Aufgewühltheit ist immer ein großes Risiko und vor laufender Kamera auszubrechen ist nicht gerade die Top Idee.
Völlig außer Atem halte ich ein ganzes Stück von den normalen Wegen entfernt an. Mittlerweile befinde ich mich soweit im Inneren des Waldes, dass man mich von den offiziellen Pfaden mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann. Dafür wäre dann schon ein Nachtsichtgerät oder eine Taschenlampe nötig und ich bezweifle, dass in naher Zukunft jemand mit einem dieser Gerätschaften an diesem Waldstück entlangspaziert.
Also lasse ich es zu, dass sich so etwas wie Ruhe in meinen Knochen niederlässt, die ich seit meiner Ankunft nicht mehr gespürt habe. Genießerisch recke ich mein Gesicht in den Himmel, lausche meinen sich langsam beruhigenden Atemzügen. Bilder von meinen Eltern und Fetzten des Interviews laufen vor meinem inneren Auge ab und ich verhindere es nicht, als die altbekannte Hitze in mir aufsteigt. Das Gefühl beflügelt mich. Lässt mich die Welt in einem ganz anderen Licht sehen. Die Nacht wirkt dunkler. Die Konturen der Bäume noch intensiver.
Tief atme ich den anbahnenden Geruch nach Rauch und Zedernholz ein. Manchmal vergesse ich in den Stunden und Tagen in denen ich meine Fähigkeiten verstecken muss, welches befreiende Gefühl seine Nutzung mit sich bringt. Lächelnd lasse ich eine kleine Flamme in meiner Hand entstehen. Am liebsten würde ich natürlich einer meiner berühmten Feuerbälle gegen den nächstbesten Baum schleudern, doch ich kann es nicht riskieren Spuren zu hinterlassen. Also begnüge ich mich damit die Form der Flamme in meiner Hand zu verändern. Von einem Fisch zu einer Blume und schließlich zu einem Schmetterling mit flammenden Flügeln. Impulsiv schließe ich die Augen, lasse mich von meinen Gefühlen leiten. Diese Übung habe ich mir vor langer Zeit beigebracht, um meine innere Aufgewühltheit, meine Angst und meine Wut mit einem Mal gehen zu lassen.
Ich spüre wie etwas in mir selbst zur Ruhe kommt und als ich die Augen öffne fliegt der eigens von mir erschaffene Schmetterling mit kräftigen Flügelschlägen den Himmel hinauf. Ein seliges Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Genauso faszinierend und wunderschön wie beim ersten Mal, denke ich. Natürlich könnte ich auch meine Eiskräfte nutzen, doch ich habe für mich entdeckt, dass der Flammenschmetterling die schnellste und effektivste Art ist um mich zu beruhigen.
Nachdem ich dem Schmetterling noch ein paar Minuten zugesehen habe, lasse ich ihn mit einer Handbewegung wieder verschwinden und das Feuer gesellt sich wie von selbst wieder zurück an seinen Platz in meinem Herzen. Jedenfalls stelle ich mir das so vor. Wirklich wissen kann ich es natürlich nicht. Ich weiß nur, dass nach der Nutzung meiner Fähigkeiten die dafür aufzubringende Kraft nicht verfliegt, sondern wieder zu mir zurückkehrt. Genauso wie ein treuer Hund, der jedes Mal wieder den Weg zurück zu seinem Besitzer findet.
Das bedeutet natürlich auch, dass ich meine Kräfte auch aus mir selbst ziehe und nicht etwa aus einem echten Feuer oder der umliegenden Energie, so wie es in Fantasy Romanen oft beschrieben wird. Trotzdem fühle ich beim Nutzen meiner Fähigkeiten keinerlei Anzeichen von Schwäche. Es ist eher so als würde dieser Teil meiner selbst kurzzeitig ein Eigenleben in einigen Metern Entfernung führen und sich danach wieder in meinem Körper mit mir selbst vereinen.
Na ja, aber genug davon. Wahrscheinlich sollte ich sowieso wieder ins Bett gehen, damit ich morgen Misses Swans Unterricht mit neuer Kraft entgegenstehen kann. Aber als ich mich wieder auf den normalen Pfad begebe entscheide ich mich doch dafür noch einen kleinen Umweg zu nehmen. Die paar Minuten frische Luft mehr oder weniger werden mich sicherlich nicht umbringen.
Also folge ich einem Weg, der in Richtung des rechten Waldstückes und vorbei an einigen Blumenbeeten führt. Die Stille der Nacht umhüllt mich mit einer Decke aus tiefem Frieden, den ich nur sehr selten empfinde. Nur ein Blick in den Sternenhimmel genügt und meine Sorgen scheinen meilenweit entfernt zu sein. Weit entfernt und im Gegensatz zum Universum so klein, dass ich mich frage, ob meine Ängste überhaupt berechtigt sind.
Ich liebe die Wirkung der Nacht. Kein einziger Sonnenstrahl könnte mich je das fühlen lassen, was ich gerade empfinde. Dabei ist die Sonne ja eigentlich auch nichts anderes als ein Stern, doch bei Nacht sind Sterne Glitzer am Fundament, zu denen man aufschaut und die man jedes Mal bewundert, obwohl wir die Konstellationen der Sterne vor einem Monat nicht vom jetzigen unterscheiden können. Währenddessen die Sonne alles Unglück der Welt in helles Licht taucht, bis sie wieder untergeht und die Menschen in der Nacht vergessen lässt.
Wahrscheinlich interpretiere ich viel zu sehr in Tag und Nacht hinein, aber ich denke, dass in jedem von uns ein Funken Poet steckt. Während er bei einigen beim Fußball oder Schachspielen zum Vorschein kommt, lässt sich meiner Blicken, sobald der Himmel sich schwarz tönt und...
Ein leises Gemurmel ganz in der Nähe lässt mich aufhorchen und wirft mich sogleich aus meinen philosophischen Gedankengängen. Mittlerweile bin ich am anderen Waldstück angekommen und eine leise Stimme scheint irgendwo im Schatten der Bäume zu sprechen. Verwundert hebe ich eine Augenbraue. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch andere Leute gibt die nachts im Wald herum stehen. Aber das Leben überrascht einen echt immer wieder.
Neugierig kneife ich die Augen zusammen und kann tatsächlich die Umrisse einer Person neben einem hochgewachsenen Baum erkennen. Meine Neugier stiftet mich natürlich dazu an herauszufinden, wer das gleiche seltsame Hobby wie ich zu teilen scheint. Doch die Stimme der Vernunft in mir belehrt mich, dass es wohl besser wäre auf dem Absatz kehrt zu machen und die Person ihr Ding durchziehen zu lassen. Ich wäre immerhin auch mehr als aufgeschmissen, wenn mich jemand bei meinen Nachtpraktiken erwischt hätte.
Also versuche ich mich leise vom Acker zu machen, scheitere aber sofort daran als ich auf einen morschen Ast trete, der natürlich mit einem übertrieben lauten knacks zu Bruch gehen muss. Am liebsten hätte ich mir den Kopf gegen den nächstbesten Baum geschlagen, aber jetzt wäre es wohl besser nicht noch einen Mucks von sich zu geben.
Langsam löse ich meine verkrampft zusammengekniffen Augen, die wie von selbst in den Wenn-ich-dich-nicht-sehe-siehst-du-mich-auch-nicht-Modus übergegangen sind und luge zu dem Baum hinüber, an dem die Gestalt bis eben noch seelenruhig gestanden hat. Und muss geschockt feststellen, dass ich jetzt deutlich die Vorderseite einer Person erkennen kann. Nur weil sich die Person umgedreht hat, muss sie dich noch lange nicht sehen, rede ich mir gut zu. Als aber keine Minute später ein harsches Wer ist da? in einer mir leider viel zu bekannten Stimme erklingt, gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass ich gerade entdeckt wurde. Na toll, denke ich. Hätte mir das Schicksal davor nicht wenigsten eine Wahlliste von Menschen zukommen lassen können mit denen ich diesen Moment teilen muss? Dann würde ich jetzt wenigstens nicht dabei zusehen müssen, wie der vorletzte Kandidat dieser Liste mit kräftigen Schritten auf mich zukommt. Pech, dass das Schicksal schon immer ein fieses Miststück war.
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