Kapitel 4 ~ Der verlorene Zwilling
Ellie
Ich bin Zuhause. Nicht auf Malfoy Manor, nicht im Grimmauldplatz, sondern am Meer. Unter meinen Füßen kann ich den Sand spüren, der mit jeder weiteren Welle, die sanft um meine Waden spült, langsam herausgespült wird. Zärtlich fährt der salzige Wind in meine Haare und spielt vergnügt mit ihnen. Die untergehende Sonne wärmt mein Gesicht. Für einen Moment ist einfach alles perfekt und die Einsamkeit, die mir in den letzten Tagen das Herz schwer machte, trägt der Wind mit sich fort.
Mein Leben besteht nur noch aus Quidditch und Unterricht. Auf Dumbledores Wunsch erteilen mir alle Lehrer Privatstunden, angeblich weil ich im richtigen Unterricht mein Potential nicht entfalten könnte und zu wenig gefordert sei. Ich weiß immer noch nicht, ob er mir damit wirklich helfen will oder ob er mich damit irgendwie für etwas bestrafen möchte. Mit Hermine habe ich seit Wochen nicht mehr wirklich geredet, sie verbringt sogar noch mehr Zeit mit Potter und dem kleinen Wiesel als vor Weihnachten und wenn ich in den Gemeinschaftsraum komme, ist es entweder so spät, dass schon alle schlafen gegangen sind oder ich bin so müde, dass ich einfach mitten in den Gesprächen meiner Freunde einschlafe.
Aber hier in diesem Moment fühle ich mich nicht allein. Leises Lachen dringt an mein Ohr und überrascht drehe ich den Kopf. Neben mir steht ein Junge, ungefähr in meinem Alter, lässig ganz in schwarz gekleidet. Strähnen seines dunklen Haares fallen ihm elegant ins Gesicht, das er genießerisch der Sonne entgegenreckt. Seine Augen sind geschlossen, als würde auch er genau jetzt nur in seinem perfekten Moment leben wollen.
„Wer bist du?", fragen ich fasziniert und seine Mundwinkel zucken.
„Erkennt du mich denn nicht?", erwidert er und ich verdrehe nur die Augen. Als ob ich fragen würde, wenn ich die Antwort schon wüsste. Deshalb verschenke ich die Arme vor der Brust, schließe die Augen und warte.
„Helena", murmelt der Junge sanft. „Sieh mich an. Bitte"
Wie in Trance öffne ich die Augen und treffe den Blick der seinen. Ich versinke in ihrem Schwarz. Langsam taucht ein Name in meinen Gedanken auf. Am Anfang nur als zages, hoffnungsvolles Wispern, das bald anschwillt und mein ganzes Denken einnimmt. Ein Zittern erfasst meinen ganzen Körper.
„Castor?", hauche ich jede Silbe auskostend und blicke voller Hoffnung in sein schönes Gesicht. Seine Lippen verziehen sich zu einem strahlenden Lächeln. „Wie ist das möglich?"
Rasch greift seine Hand nach meiner und drückt sie sanft. Kurz weicht er meinem Blick aus, doch dann begegnet er ihm erneut und in seinen Augen glüht so viel Liebe, dass ich schluchzend meine Arme um ihn werfe und ihn fest an mich drücke.
„In dir, geliebte Schwester", raunt er mir schluchzend ins Ohr. „Lebt ein Teil von mir weiter. Wir waren und sind eins. Solange einer von uns beiden lebt, kann der andere nicht sterben. Es war so schrecklich für mich deinen Schmerz zu spüren und nicht für dich da sein zu können. Sie haben es mir nicht erlaubt"
Verwundert schiebe ich ihn ein Stück von mir fort, sodass ich ihm ins Gesicht schauen kann. Verwirrt will ich wissen, wer es ihm verboten habe.
„Ich darf es dir nicht sagen", meint er kraftlos. „Du musst es selbst herausfinden. Unsere gemeinsame Zeit hier ist nur begrenzt, wir sind beide noch nicht stark genug. Deshalb hör mir jetzt einfach nur zu. Komm und finde mich, Schwester. Finde uns. Es tut mir so leid, dass du diese Last allein tragen musst"
Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, als würde sie aus immer weiterer Entfernung zu mir sprechen. Langsam verliert der Körper meines Bruders an Substanz, verblasst.
„Komm, Helena", flüstert er. „Hör auf dein Herz. Ich liebe dich"
Bevor ich noch irgendetwas zu ihm sagen konnte, versank der letzte Sonnenzipfel in den Wellen und mein Bruder war fort.
Im Kamin knallt ein Holzscheit und schreckt mich aus meinem Schlaf. Irritiert sehe ich mich um, endlich erkenne ich im spärlichen Licht des Feuers den Gemeinschaftsraum. Ich muss wohl mal wieder eingeschlafen sein.
Müde reibe ich mir übers Gesicht. Nach diesem Traum werde ich so schnell nicht wieder einschlafen können. Castors verzweifelt drängende Stimme hallt noch in meinen Ohren nach und ich spüre noch seine Wärme auf meiner Haut. So viele Fragen schwirren mir durch den Kopf. War das alles wirklich nur ein Traum?
Plötzlich blitzt etwas an meinem linken Handgelenk im schwachen Feuerschein auf. Neugierig taste ich mit der anderen Hand danach und fahre vornichtig über das vertraute Gold: die Sonne am braunen Lederarmband, auf die sein Name graviert ist. Castors Armband, welches Mutter mit ihm begraben ließ.
Mit einem Satz bin ich auf den Beinen und renne hinaus. Ich renne ziellos umher, bis ich keuchend in einer Nische zusammenbreche. Ich kann meinen Blick nicht mehr von Cas Armband nehmen. Denn bevor ich die Augen geschlossen hatte, habe ich noch das Armband mit dem silbernen Mond getragen. Der Helenahalbmond, der sich so perfekt an Cas' Sonne schmiegte, zusammen eins. War es möglich, dass...
„Was ist los, Mädchen?", holt mich eine unsichere Stimme zurück in die Realität. Ich zittere am ganzen Körper vor Kälte. Vor mir hocken zwei mitfühlend dreinblickende, identische Gesichter.
„Lasst mich!", stöhne ich und vergrabe das Gesicht in meinen Händen.
Von Fred kommt nur ein entrüstetes Schnauben, während George mir sanft die Hände vom Gesicht zieht.
„Lass uns die doch helfen, Kleine", murmelt er beruhigend auf mich ein, als würde er mit einem verletzten Tier sprechen. Doch ich schüttle nur den Kopf, versuche meine Hände zu befreien und schluchze immer wieder, dass sie mir nicht helfen können und dass es zu spät sei. Fred wechselt einen verwirrten Blick mit seinem Zwilling und fragt dann, wobei sie mir nicht helfen könnten.
„Es ist zu spät", schluchze ich erneut. „Niemand kann mir noch helfen. Er ist tot. Castor ist tot"
Plötzlich heben mich zwei warme Arme hoch und vertreiben die Kälte langsam aus meinem Körper.
„Was hast du vor?", höre ich von Weitem George flüstern. „Wir können sie um diese Zeit unmöglich zum Krankenflügel bringen. Was sollen wir da sagen, sie ist keine Gryffi..."
Doch da wird er auch schon von Fred unterbrochen: „Wir bringen sie in die Küche"
„Die Hauselfen werden kein Wort sagen", fügt er bestimmt hinzu. Wenig später sitzen wir drei in der fast verlassenen Küche. Eine Hauselfe stellt mir eine dampfende Tasse vor die Nase. Ihr süßer Duft kriecht mir in die Nase. Langsam hebe ich die Tasse an den Mund, schließe die Augen und trinke in winzigen Schlucken meine heiße Schokolade. Tausend Erinnerungen kommen in mir hoch und fliegen vorbei ohne wirklich gesehen zu werden. Schweigend sitzen die beiden Brüder mir gegenüber und warten. Als ich die Tasse absetze und die Augen wieder öffne, will George wissen, was passiert sei. Trotz der wohligen Wärme erschaure ich.
„Ich...", setze ich an, unterbreche mich aber sofort. „Es war nur ein Traum. Ich habe nur schon lange nicht mehr von ihm geträumt, das hat mich irgendwie aus der Bahn geworfen"
Kein Wort glaube ich mir. Wieder wechselten Fred und George einen kurzen Blick. Fred sieht mir tief in die Augen, beugt sich über den Tisch, greift nach meiner Hand und öffnet den Mund. Doch bevor er etwas sagen kommt, zupft eine Elfe an Georges Pulli und quickt: „Sie müssen jetzt gehen, die junge Meister und die junge Meisterin! Hausmeister Filch kann jeden Moment hier erscheinen, Sir und Ihre Anwesenheit würde Pip in große Schwierigkeiten bringen, Sir!"
Vorsichtig ziehe ich meine Hand weg und stehe auf.
„Danke, Pip", sage ich und knickse leicht vor der Elfe, dann wende ich mich den Zwillingen zu. „Ich danke euch von ganzem Herzen. Aber wir sollten alle noch eine Runde schlafen. Morgen ist ein langer Tag voller Prüfungen. Gute Nacht"
Am nächsten Morgen verkündet Dumbeldore, während ich verschlafen mit meinem Toast kämpfe, dass alle Prüfungen aufgrund besonderer Ereignisse dieses Jahr ausfallen würden. Wäre ich wacher, hätte ich begeisterter reagieren können. Stattdessen klatschte ich nur lahm, wobei mein Blick wieder vom goldenen Armband angezogen wurde. Ich werde ihn finden.
Drei Tage später ist die große Halle in unseren Farben dekoriert. Der Hauspokal gehört uns. Glücklich stolzieren wir an unseren Tisch. Selten habe ich alle so ausgelassen erlebt. Bis Dumbledore sich erhebt und verkündet, dass es noch weitere Hauspunkte zu verteilen gebe. Ungläubig hören wir ihm zu, rechnen Punkt für Punkt mit, den er den Gryffindors gibt. Bis die schrecklichen Worte aus seinem Mund schlüpfen: „Nun söllten wir noch etwas um dekorieren"
Vergnügt wedelt er seinen Zauberstab und unser schönes Grün weicht Scharlachrot, unsere silbrige Schlange dem goldenen Löwen.
Entsetzt suchte ich nach irgendeinem Zeichen, das dies alles nur ein schlechter Scherz auf unsere Kosten sei. Eine Art Ritual in Hogwarts. Doch es war keiner. Wir hatten verloren.
„Ellie ...", murmelt Draco sanft in mein Ohr. Seufzend öffne ich die Augen und sehe ihn verschlafen an. Lachend schüttelt er den Kopf, sodass ein paar Strähnen sich lösten und ihm wirr ins Gesicht fallen. „Du tust ja gerade so, als hättest du seit Monaten nicht mehr geschlafen, dabei verpasst du mal wieder das Meiste"
Grummelnd drehe ich mich zum Fenster und will mich gerade über seine Belustigung ärgern, als ich die Umgebung dort draußen erkenne. Das da ist keine Natur, wie ich gedacht habe. Wir sind...
„Wir sind da", spricht Draco meine Gedanken aus. Mit großen Augen sehe ich ihn an. Lächelnd hält er mir die Hand hin, was bei ihm immer Forderung und Bitte zugleich ist. Wir sind da. Endlich Ferien. Sein Lächeln erwidernd, ergreife ich seine Hand, lasse mich von ihm auf die Beine ziehen, gemeinsam verlassen wir den Zug, tauchen ein ins Menschengewimmel und bahnen uns den Weg zu Dracos wartenden Eltern.
Als sich Tante Narcissas Arme um mich legen und ihr vertrauter Duft in meine Nase steigt, legt sich mit einem Mal diese Unruhe, die ich seit meinem Traum mit Castors Nachricht erfasst hatte.
Ich werde dich finden, Bruder.
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