Kapitel 11
Jacob Harris betrachtete die Fotos vor ihm, die er gestern Abend in der Bar aufgenommen hatte. Er erkannte den großen Mann nicht, mit dem Jane, oder wie sie sich heute nannte - Eliza, ausgelassen tanzte. Er zog das nächste Bild aus dem Stapel, den er vorhin in der Lagerhalle ausgedruckt hatte. Darauf demonstrierte der Mann gerade seine lächerliche Interpretation des Roboters, die seine Wirkung entfaltete und Eliza zum Lachen brachte. Das jedenfalls spiegelte dieser Moment wider.
Er sah sich die nächste Aufnahme genauer an, auf der bewusst nur der Fremde zu sehen war. Selbst dem Foto war seine beachtliche Größe von 1.90 Meter zu entnehmen, obwohl niemand im eingefangenen Moment neben ihm stand. Er war muskulös, aber nicht so aufgeplustert wie die typischen Fitnessfanatiker der heutigen Zeit, die einen besonders großen Bizeps mit allgemeiner körperlichen Stärke verwechselten und dem Instagram Schönheitsideal für Likes und Ansehen nachliefen.
Nein, dieser Kerl trainierte nicht für Fotos, sondern fürs Leben. Das erkannte Jacob zugleich.
Er bezweifelte jedoch nicht, dass der Fremde Probleme damit hätte, die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zu ziehen. Er besaß all die typischen Merkmale, die das weibliche Geschlecht für gewöhnlich als attraktiv empfanden - hochgeschossene Wangen, volle Lippen, ein gepflegter, mehrtägiger Bart und dunkle Augen, mit denen er wohl vorgaukeln konnte, in die Seele der Frau zu blicken. Zudem verstand er es, seine längeren braunen Haare gekonnt lässig nach Hinten zu frisieren, sodass es den Anschein machte, er hätte sich gerade durchs Haar gefahren. Sein lässiges Karohemd unterstrich sein gespielt lockeres Auftreten zusätzlich.
Auf dem ersten Blick hätte man ihn auch für ein Model, oder einen Schauspieler halten können, wäre da nicht seine disziplinierte Haltung gewesen, die Jacob bei seinen Beobachtungen hatte feststellen können. Diese besondere Ausstrahlung erreichte man nur durch jahrelanges, konditioniertes Training und entlarvte eine militärische Laufbahn.
Er wollte gerade das nächste Foto mustern, als der Hinweiston seiner Gesichtserkennungssoftware, in die er vorhin schon die Aufnahmen hochgeladen hatte, einen Treffer verkündete.
Als das gleiche, jedoch nun kahl rasierte Gesicht des Fremden ihn starr anschaute, lächelte Jacob auf. Wiedermal war seine Vermutung ein Volltreffer gewesen, denn der Mann trug eine Navy-Uniform, die seine militärische Herkunft bestätigte. So so, ein SEAL, stellte er fest.
Er klickte auf die Akte, um mehr über seine militärische Laufbahn herauszufinden, nur um im nächsten Moment überrascht auszupfeifen. Bis auf den Namen des SEALs und dem Geburtsdatum waren jegliche Informationen geschwärzt worden. Interessant, dachte er.
Wer bist du James Wilson? Und was hast du in Buffalo Creek zu suchen?, fragte er sich, als er die dürftige Akte schloss, um weitere Treffer der Software aufzurufen.
Doch seine Suche wurde unterbrochen, als seine Überwachungssoftware ihm verkündete, dass Eliza einen Anruf betätigte, in dem sie ihren Chef bat, früher zum geplanten Barbecue zu erscheinen.
Hmm, dann musst du wohl warten James, stellte er fest und machte sich bereit, schon jetzt zurück in die Stadt zu fahren, um seine Zielperson zu beschatten.
Eliza saß in ihrem Garten, rauchte eine Zigarette und dachte an den restlichen Verlauf des Barbecues. Obwohl ihr eine riesige Last von den Schultern genommen wurde, als sie Curtis über ihre Verletzung und deren Komplikationen erzählte, hatte sie sich dennoch nicht wirklich entspannen können. Es hatte sie all ihre Kraft gekostet, eine ausgelassene und glückliche Miene vor seiner Tochter und ihren Freunde aufzusetzen und es hatte sie noch mehr Kraft gekostet, nicht bei jedem Klingeln nachzusehen, ob sich James und nicht Teenager Nummer xy der Party endlich anschloss.
Trotz Curts Ankündigung war er jedoch nicht erschienen und jedes Mal hatte sie sich dennoch dabei ertappt, wie sie gespannt auf die Gartentür blickte und jedes Mal enttäuscht wurde, als nur ein weiterer pubertierender Gast eintrat.
Selbst schuld, ermahnte sie sich. Warum hatte sie ihm auch so viel Einblick in ihr innerstes gewährt, obwohl sie ihn gar nicht kannte? Und warum hatte es ihr so viel ausgemacht, dass er heute doch nicht aufgetaucht war? Sie waren ja nicht verabredet gewesen und außerdem sollte sie sowieso diese Gedanken schnellsten beiseite räumen, bevor sie ein Eigenleben entwickelten. Sie schüttelte ihren Kopf.
Zum Glück ist er nicht erschienen, dachte sie. Sie musste diese Gefühle unbedingt wieder in die Schublade verbannen, aus der sie gestern in ihrem verletzlichen Zustand entschlüpft waren. Reiß dich zusammen Jane, er war nur nett zu dir und du einsam und traurig. Mach daraus keine große Sache, wies sie sich selbst zurecht.
Vergiss nicht, was beim letzten Mal passiert ist. Halt dich von ihm fern.
Sie drückte ihre Zigarette aus und versprach sich, emotionalen Abstand von ihm zu nehmen, ganz egal, wie sehr es sie dagegen sträubte.
Er wird sowieso bald wieder verschwinden und dann kannst du ihn einfach vergessen, dachte sie, als sie ihre Augen schloss und versuchte, einzuschlafen. Trotzdem konnte sie den Impuls nicht unterdrücken, an die Erinnerungen der letzten Nacht zu denken und so sah sie sein lachendes Gesicht, das sie auf der Tanzfläche unterhielt und ablenkte.
Fuck, dachte sie, bevor sie in einen unruhigen Schlaf glitt.
Ein lautes Pochen schreckte sie auf. Obwohl es bereits hell war, konnte es nicht später als sieben sein, stellte Eliza fest. Wer könnte bitte so früh gegen ihre Tür hämmern? Sie lauschte, doch das Klopfen erstarb.
„Genau, hau ab", murmelte sie, als sie sich wieder umdrehte und weiterschlafen wollte. Keine zwei Sekunden später pochte jemand erneut gegen ihre Eingangstür, diesmal jedoch lauter und in immer kürzer werdenden Abständen.
„Was zur Hölle?", entschlüpfte es ihr, als sie ihre Decke wütend von sich trat, aufstand und ihren Morgenmantel überwarf. Bevor sie das Schlafzimmer verließ, steckte sie jedoch vorsichtshalber das Messer ihres Vaters, das ihn während seiner Zeit bei der Navy stets begleitete, samt Scheide in den Hosenbund am Rücken.
Das Klopfen wurde immer lauter und als sie vor der Tür stand, umgriff sie mit der rechten Hand den Messerschaft, während ihre Linke die Schlösser entriegelte.
„Was auch immer Sie verkaufen, ich habe kein Interesse", sagte sie beim Öffnen der Tür. „Außerdem sollten Sie mal auf die Uhr schauen", entkam es ihr scharf, bevor sie die Person an ihrem Eingang erkannte.
„James, was zur Hölle tust du hier?"
„Dir wohl nichts verkaufen", antwortete er verschmitzt.
„Das wird meiner Staubsauger Firma nicht gefallen."
„Es ist sechs Uhr morgens", erwiderte sie trocken, ohne auf seinen Witz einzugehen.
„Puh, da ist jemand wohl kein Morgenmensch."
„Das ist keine Erklärung."
Er seufzte übertrieben auf, bevor er wieder das Wort ergriff.
„Ich hatte da einen Einfall und dachte, er könnte dir gefallen."
„Um sechs Uhr morgens?"
„Ne, schon um vier, aber ich dachte, das wäre dann doch zu früh, um dich aus dem Bett zu werfen."
Eliza verdrehte ihre Augen.
„Und sechs ist eine passende Uhrzeit?"
Diesmal nickte James nur. Er wirkte müde, obwohl sein Gesicht sie belustigend musterte.
„Verrätst du mir auch deinen tollen Einfall?"
„Erst wenn du deine Hand von der Waffe an deinem Rücken nimmst. Bei deiner fröhlichen Stimmung muss ich sonst das Schlimmste befürchten."
Erst jetzt realisierte Eliza, dass sie das Messer noch fest umschlossen hielt und ließ es zugleich los, um ihrem morgendlichen Gast die leeren Hände entgegenzustrecken.
„Sorry, ganz vergessen. Besser?", fragte sie und versuchte, zu lächeln. Es war viel zu früh und außerdem hatte er sie erschrocken.
Selbst schuld, dachte sie.
„Du bist ja echt lieblich am morgen", schmunzelte er.
„Lässt du mich nun endlich rein?"
Eliza stöhnte übertrieben genervt auf, trat jedoch einen Schritt beiseite und ließ ihn eintreten.
„So, was ist jetzt dein toller Einfall, den du um vier Uhr morgen hattest?"
„Ich dachte mir, wir könnten wandern gehen."
Bitte was? Hatte sie sich verhört?
„Wandern?", wiederholte sie erstaunt seine Worte.
„Ja, wandern. Wir sind ja schließlich in den Rocky Mountains."
„Entweder ich träume, oder mein müdes Gehirn hat sich verhört. Jedenfalls brauch' ich erstmal einen Kaffee und eine Zigarette. Dann kannst du reden", erwiderte sie trocken und lief in die Küche, während James ihr folgte.
„Süßer Bademantel übrigens. Ich hätte nicht gedacht, dass du auf rosa stehst", kommentierte er ihren Morgenrock, als sie ihn beim Anschmeißen der Kaffeemaschine ignorierte.
Trottel, beschimpfte sie ihn stumm und zog endlich das Messer samt Scheide aus ihrem Hosenbund, das sie als stille Mahnung etwas zu harsch auf der Theke ablegte.
„Ich hatte mich schon gefragt, was du da in der Hose versteckst. Ein beachtliches Ding."
Er lachte über seinen eigenen Witz und sie ignorierte ihn weiterhin.
„Gib' mir zehn Minuten. Bitte. Ich muss erstmal wach werden und eine rauchen. Bin gleich zurück."
„Rauchen ist schlecht für dich", erwiderte er.
Sie warf ihm jedoch nur einen vernichtenden Blick zu, ergriff die Kaffeetasse unter der Maschine und lief in den Garten. Diesmal blieb er zu seinem Glück zurück und so atmete sie genüsslich das Nikotin ein, trank einen Schluck des braunen Goldes und dachte an ihr Vorhaben von gestern Abend, ihm aus dem Weg zu gehen.
Läuft ja wirklich super, bemerkte sie stumm und zog ein weiteres Mal an ihrer Zigarette.
Manchmal fragte sich Eliza, ob das Schicksal sie gerne auf den Arm nahm. Oder ob es gar kein Schicksal gab und sie einfach nur vom Pech verfolgt wurde. Wie auch immer, sie drückte die Zigarette aus und machte sich für den grandiosen Einfall bereit, der auf sie wartete.
Ein kleiner Teil in ihr freute sich jedoch darauf.
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