38. Abschied nehmen
"Oh Mann, wir werden mit dem Schneiden niemals rechtzeitig fertig", seufzte Emma und stieß sich mit den Händen etwas von dem Tisch ab, wobei ihr eine ihrer dunkelen Locken vorwitzig ins Gesicht fiel. Genervt pustete sie sie weg.
Ich konnte sie verstehen - die vorgerückte Abgabefrist unseres medialen Aufklärungsprojekts zehrten an den Nerven von uns allen. Wir hatten über drei Stunden Video- und Bildmaterial, was wir schneiden mussten, um es dann noch mit einer Tonspur zu unterlegen. Emma hatte sich dem Schneiden angenommen, während Leyla und ich das Skript für den Text schrieben und einsprachen. So verbrachten wir fast jede frei Minute in einem der freien Gruppenräume, um unser Projekt innerhalb der nächsten zwei Wochen fertigzustellen.
Das kam mir gerade Recht, da ich so ohne besonders schlechtes Gewissen die Journalismusvorlesungen schwänzen konnte. An so einer großen Uni, wieder dieser, war es nicht schwer einer Person auf dem Campus aus dem Weg zu gehen, aber im Vorlesungssaal gestaltete sich dies als durchaus schwieriger.
Mir war natürlich klar, dass ich Milan nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, aber ich versuchte es, solange es ging. Ich hatte all seine Anrufe und Nachrichten nach dem Abend ignoriert und ihn schließlich blockiert, um nicht mit ihm reden zu müssen. Auch wenn das vielleicht feige war und ich nur wieder das Unvermeidliche hinauszögerte, wusste ich nicht, wie ich Milan begegnen sollte.
Er war der Auslöser dafür gewesen, dass alles so eskaliert war und in Dylans Unfall gemündet hatte. Aber gleichzeitig wusste ich, dass immer zwei dazu gehörten und ich ihm definitiv falsche Signale gesendet haben musste, denn Milan war niemand, der sich einfach so an eine vergebene Frau ranmachen würde. Außerdem hätte Milan niemals ahnen können, wozu dieser Kuss führen würde. Und genau deshalb konnte ich ihn einfach nicht hassen...
"Valerie, hast du überhaupt zugehört?", fragte mich Leyla in diesem Moment und betrachtete mich amüsiert.
Ich schüttelte den Kopf und merkte, wie sich meine Wangen peinlich berührt rot färbten. "Nein, sorry. Könnt ihr das nochmal wiederholen?"
Emma und Leyla grinsten beide nur und schüttelten leicht den Kopf.
"Ich habe gesagt, dass wir vielleicht einfach für heute Schluss machen sollten. Wir haben jetzt schon wieder ewig an dem Projekt gearbeitet und ich glaube, es kann sich niemand von uns mehr konzentrieren", antwortete Leyla mir.
"Das klingt nach einer wunderbaren Idee", stimmte ich ihr zu und rieb mir die Schläfen. Von der abgestandenen Luft in diesem Raum bekam ich langsam Kopfschmerzen. "Treffen wir uns morgen um die selbe Zeit wieder hier?"
"Können wir machen. Ich kann nur nicht ganz so lange, weil ich noch ein Date mit Jase habe", kam es von Emma zurück und ich nahm wahr, wie ihre Augen bei dem Gedanken an Jase zu funkeln begannen. Es war kaum zu übersehen, wie verliebt die beiden ineinander waren und ich freute mich echt riesig für sie.
"Das ist kein Problem", erklärte Leyla. "Ich wollte auch noch etwas mit meiner Freundin machen."
Ich nickte bestätigend, ich hätte dann etwas mehr Zeit, um Dylan zu besuchen. "Für mich geht das auch in Ordnung."
Damit war die Sache geklärt und wir packten gemeinsam unsere Laptops und die ganzen Zettel mit den Skripten in unsere Taschen. Dabei plauderten wir noch etwas, bis sich unsere Wege auf dem Campusgelände trennten. Ich wartete an der hässlichen Statue noch auf Jase, der sich heute auch Mal dazu bequemt hatte, zur Uni zu gehen, während die anderen beiden sich bereits auf den Weg nach Hause machten.
Da ich auf mein Handy guckte, nahm ich erst spät war, wie sich mir eine Person näherte. Als ich schließlich von dem Bildschirm aufblickte, wäre mir vor Schreck fast das Handy aus der Hand gefallen, denn nicht Jase, sondern Milan stand direkt vor mir!
Mit einem Mal ging meine Atmung ganz flach und ich fühlte mich vollkommen eingeengt, auch wenn Milan mit genug Abstand zu mir stand. Seine plötzliche Erscheinung brachte mich vollkommen aus der Fassung, da ich absolut keine Ahnung hatte, was er jetzt von mir wollte und wie ich reagieren sollte.
Milan musste bemerkt haben, was für einen Schrecken er mir eingejagt hatte, denn er wich einen Schritt zurück und musterte mich aus traurigen Augen. "Hey, Valerie. Es ist alles gut, ich wollte nur kurz mit dir reden, aber wenn du das nicht willst, gehe ich wieder", sagte er mit rauer Stimmer.
Meine Abweisung schien ihn ganz schön zu treffen und trotzdem reagierte er so verständnisvoll. Automatisch fühlte ich mich etwas schuldig, denn Milan war schließlich kein böser Mensch. Vielleicht würde es mir helfen, mich mit ihm auszusprechen.
"Nein, tut mir leid. Du hast mich einfach nur erschreckt", entgegnete ich deshalb und strich mir nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Was möchtest du mir denn sagen?"
Ich sah, wie Milan erleichtert aufatmete. Die Anspannung wich jedoch trotzdem nicht aus seinem Gesicht. "An erster Stelle möchte ich sagen, dass es mir unfassbar leid tut. Es tut mir so leid, was mit Dylan passiert ist. Ich hoffe wirklich, dass es ihm mittlerweile wieder besser geht", murmelte Milan. Seine Stimme klang ganz belegt, als würde er sich selber die Schuld an Dylans Unfall geben.
"Es geht ihm schon deutlich besser", sagte ich deshalb schnell. "Das war einfach eine Verkettung von unglücklichen Ereignissen", versuchte ich Milan seine Schuldgefühle etwas zu nehmen, denn ich wusste selber, wie schwer so eine Last auf den Schultern wog.
"Trotzdem, ich hätte dich niemals ungefragt küssen dürfen!", erwiderte Milan, wobei sich seine Stimme etwas hob. "Es tut mir so unfassbar leid. Ich habe an dem Abend zu viel getrunken und als wir so miteinander getanzt haben, habe ich einfach die Beherrschung verloren. Das ist keine Rechtfertigung, aber ich schwöre dir hoch und heilig, dass ich niemals deine Beziehung mit Dylan kaputtmachen wollte. Ich wollte dich niemals als Freundin verlieren."
Milan sah mich aus feucht glänzenden Augen an und ich merkte, wie sich in meinem Bauch ebenfalls ein Ziehen breit machte. Ich hatte Milan auch niemals als Freund verlieren wollen, aber mit dem Wissen, dass er mehr für mich empfand, war unsere Freundschaft einfach nicht mehr wie zuvor möglich.
"Ich glaube dir, Milan", murmelte ich leise. "Manchmal läuft alles anders, als geplant."
"Ich weiß, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie vor dem Kuss, aber ich will nur nicht, dass du mich hasst. Das würde ich nicht aushalten", fuhr Milan mit brüchiger Stimme fort.
Ich sah ihm fest in die Augen. "Ich hasse dich nicht. Du hast mir in einer schweren Phase viel geholfen, das werde ich dir nie vergessen. Wer weiß, vielleicht lässt das Schicksal unsere Wege nochmal unter anderen Umständen kreuzen."
Milan nickte und langsam schien die Anspannung etwas von ihm abzufallen.
"Okay", antwortete er und klang schon nicht mehr ganz so traurig und mitgenommen.
"Alter, verpiss dich du mieser Hund! Du hast nichts mehr in Valeries Nähe zu suchen!", ertönte in diesem Moment eine aufgebrachte Stimme hinter uns.
Augenblicklich schnellte mein Kopf herum und ich sah, wie Jase wutentbrannt auf uns zu stürmte. Es schien, als würde sein ganzer Körper vor Wut pulsieren und bevor ich mich versah, hatte er Milan schon erreicht und schlug ihm mit einem Krachen mitten ins Gesicht.
"Jase, höre auf!", schrie ich panisch, denn Milan war durch die Wucht des Schlages zu Boden gegangen und es sah nicht so aus, als würde Jase jetzt von ihm ablassen.
"Wir haben alles geklärt, bitte lasse Milan einfach in Ruhe!", versuchte ich zu erklären, doch Jase schien mich gar nicht wahrzunehmen.
Angefeuert von seiner Wut schlug er immer weiter auf den am Boden liegenden Milan ein, der schützend seine Hände vors Gesicht hob. Ich wusste, dass ich nicht den Hauch in einer Chance hatte, meinen aufgebrachten Freund von Milan wegzuziehen, deshalb griff ich in einer Kurzschlussreaktion nach meiner noch halbvollen Wasserflasche und schüttete sie Jase ins Gesicht.
Dieser war daraufhin für einen Moment aus der Fassung gebracht und so gelang es mir nach seinen Handgelenken zu greifen und sie festzuhalten.
"Jase, sieh mich an", sagte ich streng und sah ihm fest in die Augen. "Milan und ich haben alles geklärt, wenn ich dich jetzt loslasse, lässt du ihn einfach gehen. Du kannst doch nicht einfach so auf ihn einschlagen."
Jase erwiderte meinen Blick, doch ihn seinen Augen loderte immer noch der Zorn. Für ihn schien das hier eine Vergeltungsaktion zu sein und es fiel ihm selbst jetzt, wo ich ihn festhielt, schwer, sich zu kontrollieren.
"Ich kümmere mich um Jase, sieh du nach Milan", vernahm ich in diesem Moment noch eine andere Stimme und im nächsten Moment wurde Jase auch schon von Ace auf die Beine gezogen.
Die beiden Jungs entfernten sich etwas und verwickelten sich dabei offensichtlich in eine hitzige Diskussion. Ich hingegen ging neben Milan auf die Knie, der sich die blutende Nase hielt. Ansonsten sah er aber nicht so demoliert aus, wie ich es befürchtet hatte. Schnell holte ich eine Packung Taschentücher aus meiner Tasche und hielt sie ihm entgegen. Dann half ich ihm beim Aufrichten.
"Es tut mir so leid", wiederholte ich dabei immer wieder, denn ich stand immer noch etwas unter Schock.
"Ist schon okay, ich hab's verdient. An Jase' Stelle wäre ich wahrscheinlich auch so wütend", winkte Milan ab. "Es ist ja nichts passiert."
Ich schüttelte den Kopf, Milan würde niemals einfach auf einen anderen Menschen losgehen, aber ich war beruhigt, dass er Jase nicht allzu böse war.
"Brauchst du einen Krankenwagen?"
Dieses Mal schüttelte er den Kopf. "Nein, es geht schon. Ich glaube, ich gehe jetzt einfach nach Hause. Mach es gut, Valerie."
Milan blickte mir tief in die Augen und mir wurde schmerzlich bewusst, dass dies keine normale Verabschiedung, sondern viel mehr als das war. "Du auch", murmelte ich mit belegter Stimme und blickte Milan noch einen Moment hinterher, während er ging.
Dann wandte ich mich wieder Ace und Jase zu, die sich anscheinend etwas beruhigt hatten. Mit wenigen Schritten war ich bei ihnen.
"Was zu Hölle war das eben?", fauchte ich Jase an.
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Ace besorgt die Stirn runzelte, offensichtlich befürchtete er, dass sich hier schon wieder der nächste Streit anbahnte.
Doch anstatt ebenfalls wieder hochzufahren, hob Jase abwehrend die Hände. "Ich habe überreagiert. Ich kann zwar nicht sagen, dass es mir leid tut, aber ich hätte nicht direkt auf Milan losgehen sollen", entgegnete er, was für ihn beinahe wie eine Entschuldigung war.
Deshalb ließ auch ich meine Angriffshaltung sinken. "Das hättest du definitiv nicht tun sollen, aber Milan scheint es den Umständen entsprechend gut zu gehen. Wir haben nur gesprochen und jetzt ist endlich alles zwischen uns geklärt und ihr müsst euch nie wieder Sorgen machen."
Jase und Ace beäugten mich beide skeptisch - offensichtlich schienen sie dem plötzlichen Frieden nicht zu trauen, aber ich tat es. Mir hatte es gut getan, mich mit Milan auszusprechen und mich richtig von ihm zu verabschieden.
"Habt ihr vielleicht Lust, mit ins Krankenhaus zu Dylan zu kommen?", fragte ich deshalb, um das Thema zu wechseln.
Jase und Ace tauschten einen kurzen Blick aus, dann nickten sie und so machten wir uns gemeinsam auf den Weg zur U-Bahn-Station, um ins Krankenhaus zu fahren.
Moin!👋
Na hat euch der Titel des Kapitels erstmal auf die falsche Fährte gelockt?😂 Ich bin fies, ich weiß.😂😇
Ich hoffe, ihr habt euren ersten Schultag oder eure ersten Studiums-/Arbeitstage gut überstanden. 😊
Was denkt ihr nach diesem klärenden Gespräch von Milan? Also mir tut er ehrlich gesagt echt leid :/
Ich wünsche euch noch einen schönen Abend und eine schöne Woche!😊
Bis nächsten Dienstag :)
Eure Amy
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