Kapitel 2 | Parker
Die dunklen Mauern des Evernight reckten sich vor ihr in die Höhe, als Parker die Treppen der U - Bahn - Station hinaufstieg. Seit sie das erste Mal hier vorbeigekommen war, hatte der Club sie regelrecht magisch angezogen. Damals war sie auf dem Bürgersteig plötzlich zwischen allen Fußgängern stehen geblieben und hatte das Gebäude wie hypnotisiert angestarrt. Alles am Evernight strahlte ein Verlangen und eine Verruchtheit aus, die seit Parkers Kindheit ein Tabu gewesen war. Doch es war genau dieses Gefühl der Verbotenheit, das sie hineingezogen hatte.
Obwohl sie seither regelmäßig hierherkam, breitete sich jedes Mal, wenn sie die Türen passierte, dieses wohlige, aufgeregte Prickeln auf ihrer Haut aus. Eine Sündhaftigkeit überkam sie, die in ihr eine Seite weckte, die sie für gewöhnlich tief in ihrem Inneren verborgen hielt. Eine Dunkelheit, die über sie rollte, wenn das Licht der Stadt um sie herum verglühte und die roten Neon-Lichter über der Eingangstür auf ihrer Haut illuminierten.
Einen Moment lang schloss sie die Augen und sog den in der Luft klebenden Geruch ein, während sich die Stimmen der Gäste mit der Musik vermischten und ihren Körper elektrisierten. Das war ein Gefühl ohne Gleichen.
Plötzlich realisierte Parker, dass sie noch immer die kleine Pflanze in den Händen hielt und schlug ruckartig die Augen auf. An jedem anderen Ort wäre sie sich vermutlich dumm vorgekommen. In diesem Augenblick störte sie das jedoch überraschend wenig.
Langsam löste sie sich von der Stelle und ließ sich einige Meter vom Besucherstrom mitreißen. Dabei fiel ihr Blick auf die Bühne zu ihrer Rechten. Dort beendete eine junge Frau mit langem braunen Haar in diesem Moment ihre Performance, als die letzten Klänge der Musik verklungen. Kaum war das Licht der Scheinwerfer erloschen, erinnerte sie sich daran wieso sie hierher gehetzt war und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Eigentlich wäre Parker nun an der Reihe, auf die Bühne zu treten.
„Mist", formten ihre Lippen, doch der Laut wurde von den Geräuschen des Clubs übertönt. Ihre Kehle war staubtrocken, als sie sich zwischen den Gästen vorbeischob. Mit den Augen suchte sie die Wände nach dem Personaleingang ab. Obwohl sie schon unzählige Male hier gewesen war, ließ sie ihre Orientierung in Anbetracht der plötzlich aufkommenden Panik im Stich. Es konnte nicht wahr sein, dass sie es trotz allem rechtzeitig hierher geschafft hatte und es nun schaffte sich selbst doch noch einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Als sie die Tür mit der Aufschrift ‚Personal' letztendlich ausmachte, kämpfte sie sich zwischen zwei Frauen vorbei, die mitten im Gang standen. Ihre Beine übernahmen die Kontrolle und führten sie auf geradem Weg zu ihrem Ziel, während sie in Gedanken durchging, wie sie ihre Kleidung so schnell wie möglich loswerden konnte. Kaum hatte sie den Eingang mit den roten Lettern erreicht, stieß sie die dunkle Tür mit einer Hand auf.
Kaum war sie hineingestolpert, vernahm sie die Stimme der Frau, die gerade von der Bühne getreten war.
„Endlich bist du da", Erleichterung schwang deutlich in Bryns Stimme mit, als sie auf Parker zukam: "Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen. Wir sind heute unterbesetzt."
„Jaja, ich weiß. Tut mir leid", war das Einzige, was sie herausbrachte: "Ich hab die Zeit voll verpennt. Passiert nicht wieder, versprochen."
„Schon gut", ein verständnisvoller Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Parker war davon ausgegangen, dass Bryn es verstehen würde. Schließlich verfügte ihre Kollegin selbst nicht über das beste Zeitgefühl. Trotzdem konnte sie das in diesem Augenblick nicht beruhigen.
Ohne lange darüber nachzudenken, drückte sie der Brünetten den Blumentopf in die Hand, bevor sie in rekordverdächtiger Zeit ihre Jacke loswurde und ihre Haare im Spiegel überprüfte.
„Was? Warte, was soll ich mit dem Ding?", protestierte Bryn und beäugte die Pflanze in ihrer Hand verwundert: "Wieso hast du sowas überhaupt dabei?"
„Ist doch egal", wies sie die Frage ab, während sie nach einem roten Lippenstift griff: "Pass bitte einfach drauf auf oder such einen guten Platz, an dem sie nicht kaputtgeht."
„Aber ...", setzte Bryn an und tauchte hinter ihr im Spiegel auf.
„Bitte, Bryn", sie warf durch die spiegelnde Oberfläche vor sich einen Blick zu ihrer Freundin herüber, während sie mit dem Stift über ihre Lippen fuhr: "Es ist mir wichtig."
Als sie fertig war, griff sie nach einem Taschentuch und klemmte es zwischen ihre Lippen. Dabei besah sie Bryn aus ihren tiefgrünen Augen mit einem bittenden Blick.
„Dann übernehme ich auch das nächste Mal deine Schicht, wenn du jemanden brauchst", versprach sie ehrlich, während sie das Tuch in den Müll warf und sich vom Tisch löste, auf dem sie sich abgestützt hatte.
„Na gut", gab sich Bryn aufgrund des Versprechens geschlagen: "Dann mache ich mich mal auf die Suche nach einem geeigneten Platz für dein Schätzchen."
Parker grinste kopfschüttelnd, bevor sie nickte: "Mach das. Ich muss jetzt raus auf die Bühne, sonst werden die Leute nervös."
„Viel Spaß dabei, den Männern die Köpfe zu verdrehen", erwiderte Bryn mit einem schelmischen Lächeln, bevor sie sich von Parker abwandte.
Die junge Blondine nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie sich in Bewegung setzte. Als sie auf den Vorhang zuging, der den Backstagebereich von der Bühne abschirmte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Mit einer Hand schob sie den Stoff zur Seite und entblößte sich damit den Blicken der Besucher.
Obwohl die Bühne noch immer vollkommen im Dunkeln lag, spürte sie, wie sich die Augen sämtlicher Zuschauer auf sie hefteten. Doch obwohl sie nichts am Körper trug als die schwarze Spitzenunterwäsche, fühlte sie sich nicht nackt, nicht ausgeliefert. Stattdessen überkam sie ein überwältigendes Gefühl der Stärke. Mit jedem Schritt übermannte es sie weiter und ergriff jede Faser ihres Körpers.
Als sie die Mitte der Bühne erreichte, kam sie zum Stehen und das Geräusch ihrer High Heels auf dem Boden verklang. Ihre Augen wanderten durch die Dunkelheit über die Gäste, die an den Tischen wenige Meter von ihr entfernt saßen. Doch sie konnte nichts anderes erkennen als Umrisse, die sich vor ihr abzeichneten.
Parker nahm einen tiefen Atemzug und zählte innerlich runter. Drei! Ihre Finger schlossen sich um die Stange, die neben ihr aus dem Boden wuchs. Das Metall war kalt gegen ihre warme Handfläche. Zwei! Die ersten Klänge des Liedes ‚Still don't know my name' drangen durch den Raum und erfüllten ihn. Ihr Herz schlug im Einklang mit dem Takt der Musik. Das Wummern des Basses schien ihren ganzen Körper zu elektrisierten. Eins! Die Scheinwerfer flammte auf und tauchten sie in goldenes Licht.
Die langen Wimpern, die ihre grünen Augen umrahmten, senkten sich, während sie sich an der Stange zu bewegen begann. Mit der linken Hand fuhr sie von ihrer Hüfte aufwärts mit den Fingern über ihre Haut, als würde sie einer unsichtbaren Linie folgen. Die Berührung hinterließ ein Prickeln auf ihrer Haut. In ihrem Kopf gab es nichts als diesen Moment, in dem sie sich unangreifbar fühlte. Es war ein überwältigendes Gefühl der Vollkommenheit, das sie süchtig machte und vollständig in seinen Bann zog.
Während sie sich um die Strange wandte, wanderte ihr Blick über die Zuschauer, die sie mit gebannten Blicken verfolgten. Bei einem Mann in der Mitte blieben ihre Augen hängen.
Sein Anblick verschlug ihr den Atem. Er war das Bild eines Mannes. Ein Adonis ohne Gleichen. Seine Beine steckten in einer dunklen Jeans, die er mit einem weißen Shirt kombiniert hatte, das deutlich um seine muskulösen Arme spannte. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar fiel ihm in die Stirn und an seinem Kinn waren die Ansätze eines Dreitagebarts auszumachen.
Das weitaus markanteste an ihm waren jedoch seine stechenden, blauen Augen, mit denen er sie regelrecht zu durchbohren schien. Er durchdrang jede Faser, als könnte er direkt in ihre Seele blicken und jede kleinste Sünde erkennen. Dort, wo sein Blick ihre Haut streifte, machte sich ein heißes Prickeln breit, als würde es nur seine Berührung brauchen, um ihren Körper in Flammen zu versetzen.
Ihre Lippen teilten sich und sie sog scharf die Luft ein. Seit sie hier arbeitete, hatte sie viele gutaussehende Männer im Publikum entdeckt. Doch keinem von ihnen war es gelungen, ihre Gedanken auf solch eine Art für sich zu beanspruchen. Seine Präsenz nahm sie vollkommen ein.
Sie löste ihren Körper von dem kalten Metall und machte einen Schritt zur Seite, um die Stange langsam zu umkreisen. Das blonde Haar fiel ihr über die Schultern und ergoss sich über ihren Rücken. Den Blickkontakt mit dem Fremden brach sie nur für wenige Sekunden. Als er erneut in ihrem Sichtfeld auftauchte, bemerkte sie, dass auch er sich nicht von ihr abgewandt hatte.
Seine langen Finger schlangen sich fester um das Glas in seiner Hand und er hob es an die Lippen. Als er es wieder absetzte, schimmerte der Alkohol auf seinen Lippen. Wie von selbst kam ihr der Gedanke, wie es wäre seinen Griff um ihre Hüften und seinen Mund auf ihrer Haut zu spüren.
Ihre Wangen wurden heiß, als sie die Realisation traf. Was dachte sie da? Er war ein Fremder. Trotzdem gelang es ihm, sie auf eine Weise einzulullen, die sie selbst erschreckte. Schnell ließ sie den Blick weiter wandern, in der Hoffnung niemand würde merken, wie er sie für einen Moment alles vergessen lassen hatte. Dabei spürte sie weiterhin das Brennen seines Blickes, das ihr tief unter die Haut ging. Die Luft schien zu vibrieren und sie musste all ihre Selbstkontrolle aufbringen, um keinen verstohlenen Blick zu ihm herüber zu werfen.
Als die letzten Töne ihres Liedes verstummten, breitete sich Stille im Raum aus. Einige Sekunden lang stand Parker regungslos da. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Herz schlug so laut, dass sich die Angst in ihr ausbreitete, jemand könnte es bemerken. Nun, da nur noch ihr Umriss zu sehen war, löste sie sich von der Stange und atmete tief durch. Das Brennen in ihren Lungen ließ sie realisieren, dass sie die Luft angehalten hatte, während der Fremde sie musterte.
Ein Tuscheln entstand zwischen den Besuchern. Parkers Zeichen, um Platz für die nächste Stripperin zu machen. Schnell huschte sie von der Bühne. Dabei glitt ihr Blick erneut über den Tisch, an dem der hypnotisierende Fremde gesessen hatte. Doch er war verschwunden. Sein halbleeres Glas war das einzige Zeugnis seiner Existenz.
Bevor sie sich in der Menge nach ihm umsehen konnte, hatte sie den Backstagebereich erreicht und strich die dunklen Vorhänge auseinander. Kaum war sie hindurchgetreten, wurde die Stille, die sie auf der Bühne umfangen hatte, dahin geweht und mit ihr das Gefühl, das der Fremde bei ihr hinterlassen hatte. Doch sein Gesicht hatte sich fest in ihre Erinnerung eingebrannt.
„Du warst fantastisch", Bryns Stimme bebte vor Enthusiasmus: "Seit wann hast du solche Blicke drauf?"
„Blicke?", Parker blinzelte verwundert.
„Ja, die Art, wie du heute die Gäste angeschaut hast. Als würdest du es für jemand bestimmten tun", erläuterte sie, da sie Parkers Verwunderung bemerkt haben musste.
Sie schluckte. War das so offensichtlich gewesen? Für einen Moment hatte sie tatsächlich jeden um sie herum vergessen und ihre Aufmerksamkeit nur ihm geschenkt.
„Ach so, ja", murmelte Parker und winkte mit der Hand ab, als hätte Bryn eine Banalität angesprochen: "Ich wollte heute nur einmal etwas Neues ausprobieren und schauen, wie es ankommt."
Bevor Bryn die Chance bekam, darauf zu antworten, wechselte sie zügig das Thema: "Hast du diesen Mann im Publikum gesehen, der ganz in der Mitte saß?"
„Du musst schon etwas genauer sein", Bryns dunkle Augenbrauen schoben sich in die Höhe: "Hier gibt es mehr als nur einen Mann, der irgendwo in Richtung Mitte saß."
Kurz überlegte Parker, ob sie genauer werden konnte. Doch sie fürchtete, einen zu tiefen Einblick in ihre Gedankenwelt zu gewähren, wenn sie seinen markanten Kiefer und die mysteriösen Augen erwähnte, die von langen Wimpern umrahmt wurden.
„Schon gut. Ist ja auch nicht so wichtig", wehrte sie deshalb letztendlich ab. Es mochte sein, dass Bryn die Kollegin war, zu der sie die engste Bindung hatte - nicht umsonst war daraus schnell eine Freundschaft geworden. Allerdings musste selbst sie nicht wissen, welche Gedanken ihr während des Auftritts durch den Kopf gegeistert waren.
„Wie du meinst", erwiderte Bryn schulterzuckend. Glücklicherweise schien sie an diesem Abend bereit dazu zu sein, das Thema einfach ruhen zu lassen, anstatt wie gewöhnlich weiter nachzubohren.
„Falls du aber doch später darüber reden willst, sag mir Bescheid", bat sie mit ernstem Blick, als würde sie ihrer Freundin das Gefühl geben wollen, immer dazu sein, falls sie sich aussprechen wollte. Gerade wollte Parker jedoch nichts weniger als das.
Sie war von sich selbst überrascht, doch etwas egoistisches tief in ihrem Inneren wollten diesen Moment nicht teilen. Zu viel Angst hatte sie davor, dass es ihm die Magie rauben würde, wenn sie es aussprach. Als wäre es besser, wenn er nur in ihren Gedanken existierte, wie ein verboten gutaussehendes Phantom.
„Deine komische Pflanze habe ich übrigens dahinten hingestellt", rief ihr Bryn zu, bevor sie durch den Vorhang glitt. Parker wandte sich um, um einen Blick auf den Sims zu erhaschen, in dessen Richtung Bryn gedeutet hatte. Dort hatte sie den kleinen Topf bedrohlich weit an den Rand des Vorsprungs gestellt.
„Sie ist nicht komisch", entgegnete Parker, obwohl sie wusste, dass ihre Kollegin bereits längst aus Hörweite war. Dabei hechtete sie herüber und schob ihm zur Sicherheit ein Stück weiter rückwärts. Dann ließ sie sich auf einen freien Stuhl daneben sinken und betrachtete sich im Spiegel. Das Make-up, das sie für gewöhnlich nicht in solch einer Stärke auftrug, ließ keinen ihrer Makel durchscheinen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Lider.
Wenn sie auf der Bühne war, fühlte sie viele verschiedene Dinge. Alle davon waren auf ihre eigene Weise erfüllend. Doch noch nie hatte sie sich gefühlt, wie in dieser Nacht.
Die verschiedensten Gäste gingen im Evernight ein und aus. Manche besuchten den Club einmal und kamen ihr danach nie wieder unter. Andere schien es, ähnlich wie sie selbst, immer wieder hierher zurückzuziehen. An manche Gesichter erinnerte sie sich, manche Namen schnappte sie auf, während sie andere wieder vergessen hatte, sobald sie ihren Blick abwandte.
Doch noch nie war ihr so etwas passiert, wie in dieser Nacht. Niemand war ihr bisher auf die gleiche Weise unter die Haut gegangen wie er. Dabei hatten sie nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt. Seine Blicke hatten den Raum regelrecht elektrisiert. Und obwohl es ihr missfiel, konnte sie nicht verleugnen, dass sie ihn wiedersehen wollte.
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