Wer ist hier ein Lügner? (2. Kapitel)
Es war vormittags, als James aus dem Haus ging und den Gartenweg nutzte um in die Richtung des Waldes zu laufen. Peter folgte hinter ihm her und war erstaunt, dass die beiden problemlos aus dem Haus rausgehen durften.
»Natürlich war es nicht schwierig. Wir sagen ja einfach, wir gehen in den Wald und bleiben dort. Schließlich habe ich das schon immer so gemacht.«
»Aber du müsstest doch ganz am Anfang auch erklärt haben, warum du plötzlich alleine zum Wald gehen wolltest. Schließlich wurdest du ja auch damals danach gefragt, als du spätabends im Dunkeln wieder zurückkamst.«
»Das war nicht schwierig. Solange ich erkläre, dass ich im Wald Erfahrungen sammeln möchte und damit freiwillig den Hausunterricht für mich erweitere, reicht denen diese Erklärung vollkommen aus. Das ist für die Erwachsenen ja fast schon wie Musik in den Ohren, dass ihr Nachfolger freiwillig wissensdurstig lernen will«, lächelte James beim letzten Satz Peter an.
»Aber du warst doch nicht immer nur im Wald gewesen. Du warst auch außerha-«
»Psst!«, James legte den rechten Zeigefinger an seinen Lippen. »Man könnte uns noch hören. Reden wir erst, wenn wir im Wald sind«, flüsterte er.
Peter kam James beim Gehen näher ran und flüsterte zurück: »Du hast es doch gerade eben selber gesagt und bestätigt.«
James presste seine Lippen leicht zusammen und schaute kurz auf dem Boden.
Eher er noch darauf antwortete bemerkten die beiden, dass sie schon auf einem Trampelpfad im Wald liefen.
James lief in einem schnelleren Tempo vor und gab Peter ein Zeichen, dass er ihm nachlaufen solle. Er lief ihm hinterher, was mit seiner Kleidung, wie auch am Tag davor, nicht gerade einfach war. James müsste es auch bemerkt haben, denn er lief nach einigen Metern deutlich langsamer.
Wir müssen uns ja auch immer ach-so-toll anziehen, selbst in unserer Freizeit, dachte er sich, als er beim Laufen rüber zu Peter schaute, Wie sollen wir da noch wie normale Kinder leben, wenn uns unterbewusst nicht mal das wirklich gegönnt wird.
Im Nachhinein gab noch es einen weiteren Grund, weshalb James aufpasste, dass Peter immer in seiner Nähe blieb. Auch wenn die Jungs zwar durch einen Trampelpfad reingekommen waren, so waren sie schon nach einigen Meter nicht mehr auf diesem besagten Weg. Peter hatte manchmal das Gefühl gehabt, dass die beiden in Gebieten des Waldes reinliefen, wo noch nie jemand langelaufen war. Natürlich stimmte das nicht, schließlich lief James ohne irgendwelche Schwierigkeiten durch die verschiedensten Bereiche. Es wirkte schon, als hätte er im Kopf einen Kompass mit Karte drin gespeichert. Er lief pausenlos geschmeidig um jedes Hindernis und gab Peter vorher schon Hinweise, wie und wo er laufen müsste.
Sie liefen schon etliche Minuten durch den endloswirkenden Wald, bis James langsam anhielt und vor einen riesigen, abgestorbenen Baumstamm stand. Der Baumstamm war gerade mal so hoch wie James selbst, der weitere obere Rest vom Baumstamm war nicht mehr auffindbar. Trotz dieser niedrigen Höhe, war dieser knorpelige Baumstamm sehr, sehr breit, weshalb man schätzte, dass dieser Baum früher einmal eine sehr stämmige und sehr, sehr alte Eibe gewesen war.
»Sind wir etwa schon da?«, fragte Peter keuchend, der neben James anhielt.
»Nicht ganz«, antwortete er, »Zwischenstation passt eher.«
James ging näher zum Stamm, setzte sich dabei auf die Knie und begann am Boden nach was abzutasten. Peter beobachtete ihn dabei und merkte, dass am Boden vom Stamm eine kleine Senke war. Man konnte es auf dem Blick nicht erkennen, das viele kleine Äste und Steine im Weg waren. Das wäre ein perfekter Ort gewesen, um etwas gut verstecken zu können.
»Das ist doch ein perfekter Ort, um was hier gut zu verstecken, denkst du doch jetzt bestimmt, oder, Peter?«, sagte auf einmal plötzlich James das zu ihm, als hätte er seine Gedanken gelesen.
»Wie konntest du...?«, stammelte Peter nur vor sich hin.
»Ach, dafür gab es keinen bestimmten Grund. Das war doch klar, dass jeder das so denken würde«, antwortete er trocken, während er gleichzeitig einen dunkelgrünen Stoffbeutel herauszog.
»Was ist das? Und warum versteckst du hier so etwas?«, fragte Peter verwundert.
James holte aus dem Stoffbeutel was heraus und stand wieder auf. Er hatte eine dunkelbraune Schiebermütze in der Hand, setzte sie auf und drehte sich in Peters Richtung.
»Ich nenne es Normale-Jungen-Tarnkleidung«, antwortete er und hielt mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand das vordere Ende der Mütze fest. Es war zwar nur diese eine Mütze gewesen, aber sie löste bei Peter durch diesen Anblick den Gedanken aus, dass James ihm an einem wohlhabendem Oliver Twist erinnern ließ.
James holte noch eine weitere Schiebermütze in grau und zwei dunkelbraune Strickjacken heraus.
»Damit sehen wir schon mehr bodenständiger und weniger penibel aus«, sagte er zu Peter, als er ihm die Mütze und eine Jacke gab.
Peter nahm diese Sachen entdecken und betrachtete sie genauer. Die Größe dieser Kleidung wäre zu klein für James, aber auch zu groß für Peter gewesen. Dennoch hatten sie die perfekte Mitte getroffen, dass Peter die ohne Probleme tragen könnte. Es wirkte, wie es bei James' normaler Kleidung auch der Fall war, als würde man die nur tragen, um reinzuwachsen. Die Sachen wirkten noch relativ neu, aber der Stil hatte dennoch was altmodisches an sich.
»Bodenständig – ja. Wenn wir in den 1930ern gelebt hätten.«
»Zeit ist egal. Hauptsache bodenständig.«
Nachdem die beiden die Sachen angezogen haben, liefen sie – diesmal in einem gemütlicheren Spaziertempo - noch einige Meter, bis sie an einer kleinen, leicht geneigten Böschung ankamen. Die Böschung selber führte zu einem breiten Waldweg, der aber diesmal nach einem offiziellen Weg aussah, verglichen mit dem Trampelpfad, den sie ganz am Anfang noch langgelaufen sind.
»Wenn wir diesem Waldweg langlaufen, kommen wir am Rand einer kleinen Stadt raus«, erklärte James zeigend in die Richtung, in der sie laufen.
Peter nickte nur. Er verstand immer noch nicht genau, was James mit ihm vorhatte. Dass er ihm die Welt außerhalb ihres Zuhauses zeigen wollte, war ihm schon klar. Aber warum sie andere Klamotten tragen mussten und zu einer Stadt liefen, war ihm ein Rätsel.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, wunderte er sich, warum James das eigentlich so sehr verheimlichte. Nicht nur hatte er das alles nur ihm erzählt und anvertraut, auch die Art der Vorbereitung wirkte so, als hätte James alles vorher schon so geplant, dass er seine Spuren verwischen musste. Er weiß, dass James immer einen Grund besaß warum und weshalb er so handelte und plante, deswegen bezweifelte Peter es sehr, dass James das nur aus Paranoia machen würde.
Während sie stumm den Weg entlanggingen, fiel ihm auch wieder das Gespräch ein, was die beiden hatten, als sie gerade zum Wald laufen wollten. Es war die Gestik und Mimik von James gewesen, die Peter daran erinnern ließ.
Man könnte uns noch hören.
Du hast es doch gerade eben selber gesagt und bestätigt.
Stimmt, fiel Peter ein, James wollte doch ihn darauf antworten.
»Du... Ähm... James?«
»Hm? Was ist denn?«, da James wieder vor ihm lief, drehte er beim Laufen nur seinen Kopf zu ihm. Peter musste wohl unsicher gesprochen haben, denn James schaute ihn im dem Moment mit einem leichtem besorgten Blick an. Es war ein seltener Anblick ihn mit so einem Gesichtsausdruck zu sehen.
»Naja... Ich hatte vorhin zu dir gemeint, dass du doch selber bestätigst hast, dass wir nicht nur im sondern auch raus aus dem Wald gehen würden. Du wolltest doch noch darauf antworten, oder nicht?«
James' besorgter Blick verschwand sofort und es schien so, als würde er sich an das Gespräch wieder erinnern.
»Ach, stimmt! Gut, dass du mich daran erinnerst. Ja, ich habe das selber vorhin gesagt, das ist richtig. Aber der Unterschied zwischen meinen und deinen Satz war, dass ich meine eigentliche Botschaft noch verschlüsselt habe. Zumindest habe ich nicht direkt gesagt, dass wir rausgehen. Das ist alles, was ich darauf antworten wollte.«
»Aber warum eigentlich? Warum lügst du dann die anderen an?«
James guckte diesmal Peter erschrocken an, als hätte er mit dieser Frage nicht gerechnet.
»Anlügen? Wie meinst du das, Peter?«
»Du hast alles nur mir erzählt und anvertraut. Die Fragen, was du damals abends noch gemacht hast, hattest du damals immer schwammig beantwortet. Nicht zu vergessen, dass du dazu aufpasst, dass dich keiner hört, wenn du was erzählst. Und von dem aufwendigem Weg, wie du durch den Wald läufst, muss ich nicht noch weiter erzählen. Es ist eigentlich mehr Ausweichen und Verheimlichen anstatt einer Lüge. Aber eine Lüge ist halt dann eine Lüge, wenn die Wahrheit verdeckt wird. Und genau das machst du doch: du verheimlichst die Wahrheit und deswegen lügst du auch ständig die ganze Zeit wie gedruckt!«
James erschrockener Blick blieb noch für einige Sekunden so stehen.
Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet, dachte er, Verdammt! Peter hat sogar Recht. Wieso habe ich das nicht bei mir selbst bemerkt?
James überlegte, wie er Peter alles genauer erzählen wollte, was nicht gerade eine einfache Aufgabe war.
»Warum eigentlich auch noch das Tarnen und in die Stadt gehen? Was hast du eigentlich vor?«, hakte Peter weiter nach, hörte aber dann auf zu reden, weil James seine Hand hob und ein Zeichen gab, dass Peter kurz ruhig sein sollte.
»Peter...«, sprach er in einem besorgten Ton. Auch sein Gesichtsausdruck wirkte wieder besorgt. »Du weißt doch bestimmt den Grund, weshalb wir Ratri heißen, oder?«
»Ja, natürlich. Das ist jetzt nicht so schwierig.«
»Dann weißt doch auch, warum wir Hausunterricht haben und erst ab einem bestimmten Alter zur Schule gehen.«
»Ja, das wurde doch sogar selber im Hausunterricht erklärt.«
»Dir ist doch auch klar, warum ich ironisch das ist für die Erwachsenen ja fast schon wie Musik in den Ohren, dass ihr Nachfolger freiwillig wissensdurstig lernen will gesagt habe. Besonders beim Wort Nachfolger.«
»Ähm... Naja... Das war für mich, als es bei uns erklärt wurde, schon etwas zu sehr kompliziert...«
»Peter, weißt du genau – und damit meine ich wirklich, wirklich genau – was unsere zukünftige Tätigkeit im Namen Ratri sein wird?«
Peter schüttelte ehrlich den Kopf: »Nein. Nein, nicht wirklich.«
»Ich verstehe...«, murmelte James, guckte wieder zum Waldweg und wendete sich zurück zu Peter. »Ich werde dir schon alles Stück für Stück erklären, aber erstmal gehen wir zur Stadt. Es wird dir bestimmt gefallen«, diesmal lächelte er wieder.
»Ja, aber-«
»Stück. Für. Stück«, betonte er nochmal.
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