Kapitel 3
Ich brauchte nicht lange, bis ich mich wieder beruhigte. Dadurch, dass ich dieses Phänomen oft hatte, fiel es mir leicht, über die Zeit eine Taktik aufzubauen. Ich atmete ruhig durch und konzentrierte mich auf eine Stelle im Klassenzimmer. An der Wand etwas oberhalb der Tafel war ein Fleck. Mein Fleck. Immer wenn ich in diesem Raum die Kontrolle über meinen Körper verlor, half mir dieser kleine Fleck.
In meinem Umfeld fiel es niemandem auf, wie es mir ging. Täglich versteckte ich meine Gefühle hinter einem aufgesetzten Lächeln und einer lauten Art. Nicht mal meine engsten Freunde sahen es. Nicht viele aus meiner Bekanntschaft kannten mein echtes Lachen. Klaras Stimme weckte mich aus meinen Gedanken. Negative Gefühle breiteten sich in meiner Brust aus, ich ballte meine Hand zu einer Faust. Die Wut in mir wollte gewinnen, doch durch die Menschen um mich herum ignorierte ich das einfach. Endlich war sie leise, in mir schwächte die Wut ab und ich beruhigte mich wieder.
Ich konnte es nicht mehr aushalten. Meine Hand schoss in die Höhe. „Miss, dürfte ich aufs Klo, bitte?" Das Nicken meiner Mathelehrerin ließ mich wie automatisch zur Tür laufen. So leise wie möglich tapste ich an den nebenanliegenden Klassenzimmern vorbei und betrat das Mädchenklo.
Mit einem Klick verschloss ich die Tür hinter mir und sackte Sekunden später an der Wand in mich zusammen. Vorsichtig zog ich meinen Ärmel nach oben. Blaue Flecken und frische Schnittwunden zeichneten meinen hellen, zierlichen Arm.
Ich legte meinen Kopf gegen die Wand und Tränen rannten mir über mein Gesicht. Ich wusste nicht genau, warum ich weinte, doch ich konnte es nicht mehr aufhalten. Es ist schwer, Gefühle zu unterdrücken, vor allem wenn der Kopf schreit, und in diesem Moment war er zu laut. In meinem Kopf schreien verschiedene Stimmen, alles Unterschiedliche mit dennoch gleicher Bedeutung. Hass, Wut, Eifersucht und Schuldgefühle, all dieses und doch nichts überlieferten die Stimmen in meinem Kopf. Ich ballte unbewusst meine Fäuste und meine Beine spannten sich an. Ein stummer Schrei verließ meine Lippen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Eine Tür fiel ins Schloss, alles war wieder leise. „Amber?" Anouk hatte das Klo betreten und klopfte sanft an meine Kabinentür. „Ist alles gut bei dir?" Ich zögerte, sie klopfte erneut, diesmal etwas lauter. „Ja, alles gut." Ich überlegte kurz. „Ich habe gerade meine Tage bekommen und nichts dabei." Ich atmete durch. Ich hörte, wie Anouk in ihrer Jackentasche suchte. „Ich habe hier leider nichts. Ich hole dir schnell was aus dem Klassenzimmer." „Ja, danke."
Das kalte Wasser, das über meine Hände floss, ließ mich fühlen, dass ich echt bin. Mein Blick war immer noch verschwommen und trüb, selbst das Geradeauslaufen fiel mir sehr schwer. Gedämpfte Stimmen drangen an mein Ohr und ich spürte die Anwesenheit von anderen. Ich hatte seit Jahren dieses Problem, dass für mich Gesichter keinen Sinn ergeben. Für mich sind sie einfach unerkennbar. Mein wöchentlicher Gang zu Dr. Harling beruhte auch auf diese Eigenschaft. Prosopagnosie sorgt dafür, dass Betroffene keine Gesichter erfassen können. Vereinzelt kann ich Menschen gut erkennen, beispielsweise meine besten Freunde ebenso wie meine Eltern und auch Theo. Zum Glück konnte ich mir im Gegenzug Stimmen gut merken, was mir hilft, Leute zu identifizieren. Jemand tippte mir auf die Schulter, ich zuckte zusammen. „Hey, wollte dich nicht erschrecken. Dir ist nur das Handy runtergefallen." Sie streckte ihren Arm aus und reichte mir mein Telefon. „Oh, danke, habe ich nicht gemerkt." Ich lächelte kurz und verließ dann das Klo.
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