Tag 2, Dienstag - Gespräche
James sang wunderbar. Er brachte den Ausdruck des Liedes auch sehr gut zum Vorschein. Es klang wehmütig und reumütig. Und er konnte die Emotionen sehr gut vermitteln. Ich bewunderte ihn. Immer, wenn er sang, konnte ich sehen, wie die Welt an mir vorbeizog, ich aber stehen blieb und er ebenfalls stand. Es war, als wäre die Zeit nur für uns stehen geblieben. Das war natürlich dumm so etwas zu denken. Es klang verliebt, aber ich war nicht verliebt. Ich konnte nichts fühlen. Zumindest nicht so etwas. Ich fühlte Schmerz und Glück aber keine Liebe. Ich war wie ein Stein, wenn ich es wollte. Ich wollte nie einen Freund, weil ich einen klaren Plan für mein Leben hatte und dort einfach kein Freund hineinpasste, aber ich hatte mir nie überlegt, wie es wirklich sein könnte, wenn ich es doch zulassen würde. Diesen Gedanken schlug ich mir gleich wieder aus dem Kopf. Er war nur ein Kollege und mein Verstand war heute offensichtlich nicht anwesend. Er beendete den Song und Juan war zufrieden.
Gabriella tauchte hinter mir auf.
„Was ist?“ fragte sie mich von der Seite. Ich lächelte sie an.
„Er singt so gut“, meinte ich bewundernd.
„Oh ja, er hat es wirklich drauf.“, bestätigte sie meine Aussage. „Kommst du mit? Wir müssen noch Luftballons aufblasen für die nächste Show.“ Die Herzluftballons?
„Klar, warum nicht?“, sagte ich und folgte ihr in den Umkleideraum. Dort holte Gabriella eine Tüte Luftballons aus einem Schrank, auf dem ganz groß 'Material' stand. Sie warf mir eine Hand voll zu und ich fing sie geschickt auf. Oh, seit wann konnte ich fangen? Nun ja, egal. Ich schnappte mir die Pumpe und begann die Luftballons mit Luft zu befüllen. Währenddessen unterhielten wir uns. Sie erzählte mir von ihrem Privatleben. Vor allem von ihrer Zeit in Hamburg, als sie bei dem Musical 'Tanz der Vampire' mitgespielt hatte. Ich bewunderte sie dafür. So wenige Menschen schafften es so weit wie sie und sie war sich dessen vollkommen bewusst und war dankbar dafür. Sie war sehr nett.
„Vielleicht kommst du auch irgendwann so weit.“ meinte sie. Ich lächelte geheimnisvoll und antwortete: „Nein, ich denke nicht. Ich möchte nicht bei Musicals mitspielen, ich möchte Klavier studieren und dann vielleicht als Pianistin arbeiten.“ sagte ich. Sie war geschockt und legte den Luftballon, den sie gerade mit Luft befüllen wollte, zur Seite.
„Das ist nicht dein Ernst?! Eine Stimme wie Deine muss gehört werden! Die darf man nicht hinter einem Klavier oder Flügel verstecken!“ sagte sie empört. Ich lächelte nur abwinkend und befüllte schweigend weiterhin Luftballons mit Luft.
„Elizabetha?“ fragte eine Männerstimme vom Pausenraum aus. Es war Juan.
„Gabriella?“ fragte er nun. Wir antworteten gleichzeitig mit „Ja“ und er fragte, ob er hineinkommen dürfe, weil das der Frauenumkleideraum war.
„Und?“ fragte Gabriella, als sie seine gestresste und dennoch ruhige Miene sah. Er setzte sich neben sie auf die Bank und half uns mit den Ballons.
„Er kann es, aber er hat mir die Probleme erläutert. Chantal soll sie wohl sehr schlecht behandelt haben.“ sagte er zu Gabriella. Sie zog eine Augenbraue hoch und meinte:
„Ich habe von Anfang an gesagt, dass das eine Zicke ist. Und nun haben wir die ganzen Probleme mit ihr.“ In ihrer Aufregung konnte man den weichen ungarischen Akzent deutlich heraushören. Ich musste darüber lächeln. Unter normalen Umständen redeten hier alle perfektes Englisch.
„Was sagst du dazu?“ fragte mich Juan. Ich fuhr erschrocken zusammen.
„Ich? Äh... Ich will eigentlich nichts Falsches dazu sagen. Chantal kann wirklich sehr...
ähm... anstrengend sein, aber ich kann damit umgehen. Ich denke, dass es für euch eher ein Problem ist, weil ihr uns etwas beibringen müsst und sie eher unkooperativ darauf reagierte bis jetzt. Vielleicht wird das noch besser. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.“ sagte ich viel zu schnell. Ich wusste gar nicht, dass ich so schnell reden konnte – das hatte ich bestimmt von Hanna gelernt. Gabriella bemerkte mein Unbehagen und sah mich entschuldigend an. Ebenso auch Juan.
„Willst du nicht nach Hause gehen? Es war heute ziemlich viel hier los und du bist bestimmt total fertig.“ schlug Gabriella besorgt vor.
„Ja, James ist auch eben erst gegangen. Ihr müsst beide in dieselbe Richtung fahren, oder? Mit ihm kommst du doch gut klar?“ fügte Juan fragend hinzu. Ich nickte.
„Oh ja, er ist wirklich nett und es stimmt, wir fahren mit demselben Zug. Vielleicht schaffe ich es noch rechtzeitig zur Bushaltestelle. Danke. Ist das für euch in Ordnung, wenn ich euch mit den Ballons allein lasse?“ fragte ich. Gabriella lächelte.
„Natürlich. Jetzt geh schon!“ sagte sie zu mir uns ich lächelte freundlich, nahm meine Tasche und ging aus der Tür. Ich bekam noch mit, wie sie zu Juan begeistert sagte: „Sie ist so hilfsbereit. Ich habe eindeutig die beste Schülerin ausgewählt.“ Ich weiß nicht, was er daraufhin zu ihr sagte, denn die Tür fiel in diesem Augenblick ins Schloss. Ich ging zu der Bushaltestelle – durch einige Abkürzungen, denn ich hatte ja nun meinen Mitarbeiterausweis – und erreichte den Bus noch. Er war nicht überfüllt, denn es war erst 16 Uhr und die meisten Besucher des Parks fuhren erst gegen 18 Uhr nach Hause, wenn der Park schloss. Als ich durch den Bus ging und nach einem geeigneten Sitzplatz suchte, erblickte ich James. Er saß in einem Vierer und spielte an seinem Handy. Zögerlich ging ich auf ihn zu und fragte höflich: „Darf ich mich zu dir setzen?“ Er blickte auf und sah mich. Dann grinste er und sagte ironisch: „Aber natürlich nicht, der Sitz ist doch für die Luft neben dir besetzt!“
Ich lächelte daraufhin und setzte mich ihm gegenüber. Er sah mich an und wollte etwas sagen, aber ich unterbrach ihn.
„Wenn du dich jetzt entschuldigen willst, dann lasse das bitte. Wenn sich hier jemand entschuldigen muss, dann bin ich das, weil ich Juan und Gabriella gerade gesagt habe, dass alles nicht so schlimm sei, und damit deine aufwendigen Bemühungen zunichte gemacht habe. Entschuldige bitte!“ sagte ich eindringlich. Er lächelte.
„Ich entschuldige mich trotzdem bei mir. Nicht wegen der gesamten Aktion, weil mir die Aktion nicht leidtut, aber der Wutausbruch und, dass ich dich so böse angestarrt habe.“ Ich hob eine Augenbraue. „Aber das war doch gar nicht...“ begann ich aber unterbrach mich.
„Nein, das war wirklich blöd, weil ich dich beschützen möchte. Du erscheinst mir immer so hilflos, aber du bist es nicht. Ich helfe dir echt total gerne, aber heute hast du mir geholfen. Deine ruhige Art hat mir wieder Selbstbeherrschung gegeben. Danke“ sagte er und lächelte. Ich wurde ein wenig verlegen.
„Können wir jetzt aufhören davon zu reden?“ fragte ich flehend. Er nickte langsam und fragte mich, über was ich reden wollte. Ich überlegte und fragte ihn wo er wohnte, wann er Geburtstag hat und weitere dumme Informationen. Wir saßen am Bahnhof wieder vor dem Zaun herum, wo ich immer saß, und warteten auf den Zug.
„Als ich klein war wollte ich immer nur Klavier spielen lernen. Das war, glaube ich, der Grund, weshalb ich jetzt hier bin.“ sagte er. Ich war froh endlich ein Gesprächsthema zu haben.
„Wie war das bei dir?“ fragte er.
„Oh, ich habe erst vor vier Jahren, mit dem Klavierspielen begonnen. Aber es ist mir wichtig und deshalb funktioniert es auch so gut.“ erzählte ich. Er sah grinsend auf mich hinunter.
„Wir spielen dasselbe Instrument.“ sagte er. Ich grinste zurück und stimmte ihm zu. Er erzählte mir, dass er schon seit 13 Jahren Klavier spielte.
„Kennst du das Gefühl in einer anderen Welt zu sein?“ fragte er mich. Ich lächelte schüchtern und senkte den Blick.
„Yeah. Wenn alles um einen herum schwarz wird und eine Art Filmszene um einen herum passiert, die das Lied reflektiert. Oder der Moment, an dem man die Augen schließt und alles um einen herum unwichtig erscheint. Da ist nur noch das Lied und der Druck, den man auf die Tasten auslöst und die Nutzung des Pedals erscheint einem wie Atemzüge. Immer im Takt. Alles um einen herum ist ganz weit weg, man sieht sich selbst aus einer anderen Perspektive schweigen. Man hört die Töne, für die man verantwortlich ist und erkennt Fehler, aber die Korrektur bleibt aus, denn...“ Ich stoppte, weil mir das unendlich peinlich war. Das war eines der Geheimnisse, die ich niemandem erzählte.
„Denn nichts ist perfekt und wird nie so sein. Wir sind zum Fehler machen geboren, aber niemand würde für die Korrektur sterben. Man muss lernen mit ihnen klarzukommen und diese Farben die sich vor dem inneren Auge aufbauen nehmen einem die Last.“ ergänzte er.
Lächelnd stimmte ich zu. Als der Zug eintraf stiegen wir ein.
„Ich wollte dir helfen. Weißt du, irgendwie habe ich das schon geahnt, dass Chantal wieder so angeben wird.“ sagte er und wirkte gedankenverloren.
„Wieder?“ fragte ich verdutzt nach.
„Ja, ich kannte sie schon schon länger.“ sagte er.
„Wie lange“ Mein Interesse war geweckt. Das hatte er noch gar nicht erwähnt, aber es ergab Sinn. So hatten seine Wutausbrüche einen stärkeren Grund.
„Vor einem Jahr habe ich sie erstmals kennengelernt. Bei einem Casting.“ Er sah wehmütig aus dem Fenster.
„Es war mein erstes Casting und ich war auch sehr aufgeregt. Sie hatte genauso angegeben und ich hatte die Hoffnung verloren, dass ich genommen werden würde. Sie hat alle der Reihe nach fertiggemacht und beleidigt. Am Ende bekam sie wirklich die Rolle, die ich eigentlich wollte. Bei meinem zweiten Casting war es genauso. Und jetzt war es nicht ganz so extrem, aber du gehörst zu den Menschen, die über alles nachdenken. Ich konnte das damals gut wegstecken, aber du würdest darüber nachdenken bis es dir nicht mehr aus dem Kopf geht.“ Sein Blick ruhte wieder auf mir und er schien aus der Ferne seiner Gedanken wieder zurückzukehren. Er kannte mich, fuhr es mir durch den Kopf. Er wusste über mich Bescheid. Er kannte mich besser als meine eigene Familie oder Freunde, die mich schon seit neun Jahren kannten und immer noch nicht wussten wer ich wirklich war.
„Was dachtest du eigentlich bei dem Casting, als ich dich angesprochen hatte?“ fragte er grinsend.
„Wieso?“ entgegnete ich verwundert. Mit einer solchen Frage hätte ich nicht gerechnet.
„Du sahst etwas verstört aus und hast ziemlich stark gezittert.“ erklärte er. Ich lachte trocken und antwortete: „Naja, zuerst habe ich mich gefragt, was das soll. Dann dachte ich mir, es sei vielleicht besser einfach nett zu sein, aber ich war ehrlich gesagt so aufgeregt, dass ich nicht viel darüber nachdachte.“
Natürlich erzählte ich ihm nicht, dass ich ihn für gutaussehend hielt. Er lächelte darüber.
Der Zug hielt gerade an der ersten Haltestelle an. Die nächste Station war war nur wenige Minuten entfernt. Er musste dort aussteigen und ich saß schließlich allein im Zug. Zehn Minuten später stand ich auf Gleis zwei und ging automatisch zu den Bushaltestellen gegenüber des Bahnhofes.
Als ich zuhause war bekam ich Hunger. Ich holte eine Pfanne aus einem Küchenschrank und ließ den Herd warm werden. Dann kippte ich ein wenig Öl in die Pfanne und schlug Eier in die Pfanne. Ich würzte mit Salz, Pfeffer und Kräutern, die ich einfach querbeet aus dem Schrank nahm und willkürlich ein bisschen von fast allem darüber kippte. Als das Rührei fertig war, nahm ich mir etwas davon und aß es. Den Rest ließ ich für meine Familie übrig. Schließlich duschte ich und ging schlafen. Mir fiel auf, dass ich abends so fertig war, dass ich gar nichts mehr machte. Daraufhin rappelte ich mich noch einmal auf und rief Hanna an.
„Eliza, weißt du wie spät es ist?“ begrüßte sie mich am Telefon genervt. Ich las die Uhrzeit an meinem Wecker ab.
„19:32 Uhr? Ich weiß, eigentlich rufe ich nicht so spät an, tut mir Leid. Ich habe auch nur eine Frage.“ erklärte ich ausweichend.
„Ja, wir fahren morgen mit dem Bus. Wir müssen ja beide in den Europapark.“ sagte sie genervt. Ich verdrehte die Augen. Das wusste ich mittlerweile auch selbst.
„Ja, das weiß ich doch. Aber...findest du ich habe mich verändert?“ fragte ich. Sie hasste es, wenn ich solche Fragen stellte. Das war mir durchaus bewusst. Aber ich musste das einfach fragen. Ich hasste es mich zu verändern, denn das ging nie gut. Damit verletzte ich nur immer andere Leute.
„Nein, eigentlich nicht. Du bist nur etwas verquatschter geworden, aber sonst eigentlich nicht. Wieso?“ beantwortete sie die Frage nach einer Weile.
„Nur so.“ sagte ich, „Danke und bis Morgen. Vergiss nicht, mir einen Platz freizuhalten und die Bücher für die Bücherrückgabe mitzunehmen, ja?“ Manchmal war ich ihr lebendiges Notizbuch. Ich fand das ziemlich witzig, weil sie eigentlich ein besseres Erinnerungsvermögen hatte als ich.
„Ja, ja. Weiß ich doch. Gute Nacht!“ sagte sie und legte auf.
In den letzten Jahren hatte sich ihre Telephonophobie zurückentwickelt, zumindest, wenn sie mit mir telefonierte. Sie hatte bestimmt einen anstrengenden Tag hinter sich, jetzt da sie ihr fast eigenes Pferd hatte und Mario Luraschis Schülerin war. Ich hätte gerne mit jemandem geredet, der vollkommen ehrlich zu mir war und mich verstand und Antworten kannte. Die Menschen wollen immer Antworten auf Fragen, die sie nicht verstehen. Wenn sie die Antwort haben, suchen sie nach der Lösung. James war jemand, der mich verstand. Aber er war nicht immer ehrlich. Er sagte zu viel Positives, dass es unwahrscheinlich war, dass er vollkommen ehrlich war. Und schon schlossen sich meine Augen und ich fiel in ein tiefes Schwarz, wurde umhüllt von Entspannung und merkte wie sich meine Glieder lockerten. Und langsam entwich mein Bewusstsein und die wunderbare Welt der Träume öffnete sich mir...
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