
Tag 13, Samstag - Unfall
Es regnete immer noch, wie ich aus meinem Fenster sehen konnte. Ich war mir auf eine unheimliche Art sicher die letzte Nacht nicht geträumt zu haben. Mein Türkis war immer noch leuchtend blau und mein Gesicht wirkte hell und fröhlich. Der Vollmond veränderte mich. Er erfüllte mich. Ich beschloss etwas auszuprobieren. Wenn ich mit meiner Theorie richtig lag, dass ich die angesammelte Kraft bis zum nächsten Vollmond aufbrauchen müsse, sollte ich keine Zeit verschwenden. Meine Haare standen trotz dreimaligem durchkämmen immer noch zu allen Seiten ab. Ich konzentrierte mich und sah im Spiegel meine widerspenstigen Locken an. Dann sah ich die Kraftadern und versuchte sie mittels meines Blickes sie lang zu ziehen, sodass sie glatt waren – und es funktionierte. Dann schloss ich die Augen und stellte mir vor, meine Haare wären glatt. Ich glaubte fest daran, dass es funktionierte und fuhr mit meinen Händen vorsichtig darüber. Meine dunkelroten Haare waren glatt und weich. Ich hatte nicht einmal mehr Spliss. Das Grinsen konnte ich nicht mehr unterdrücken. Dann ging ich allerdings doch zu meinem Glätteisen und drehte mir eine Welle jeweils an den Seiten herein. Es sah sehr gut aus.
Im Europapark würde heute viel los. Es lagen die roten Show-Broschuren aus und die ersten zwei Parkplätze waren bereits jetzt voll. Ich seufzte und ging zum Globe Theater. Heute war ich ausnahmsweise die Zweite, die ankam. Gabriella war schon da. Sie schloss gerade die Hintertüre auf, als ich los-rannte, um sie noch zu erreichen.
„Oh. Du bist heute aber früh.“ begrüßte sie mich. Ich strahlte sie an.
„Ja, ich habe den früheren Zug genommen. Ich war heute auch früher fertig.“ erklärte ich. Vielleicht sollte ich öfter so früh kommen. Sie lächelte froh.
„Dann kannst du mir jetzt noch helfen.“ Sie schloss die Tür hinter mir. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, aber ich nickte höflich.
„Oh, deine Haare sehen heute aber besonders hübsch aus.“ bemerkte sie mit großen Augen. „Danke“ erwiderte ich fröhlich. Wir legten unsere Taschen einfach in den Frauenumkleideraum und dann führte Gabriella mich wieder hinaus.
„Dustin hat mich gebeten, Äpfel für seinen Part zu besorgen.“ erklärte sie, während wir zu der Cafeteria gingen. Der Park würde natürlich erst um neun Uhr öffnen, wie immer. Das war erst in einer Stunde und 15 Minuten. In der Cafeteria lag ein großer Korb mit grünen Äpfeln aus. Gabriella nahm drei heraus und ich tat es ihr gleich.
„Die sind bestimmt für Dustin.“ bemerkte eine Köchin. Gabriella lächelte freundlich und nickte. Wir bedankten uns höflich und gingen wieder zurück.
„Ich habe übrigens 'The winner takes it all' aufgenommen und dabei.“ erzählte ich nebenbei. Gabriella freute sich und sah mich begeistert mit ihren dunkelbraunen Augen an.
„Das ist toll! Ich freue mich schon sehr darauf!“ teilte sie mir aufgeregt mit. Ich strahlte sie an. Womit hatte ich das nur verdient? Ich war so dankbar für dieses überirdische Glück. Im Globe Theater räumten wir die Äpfel in Dustins Show-Koffer. Anschließend zogen wir uns um für die Proben. Es war noch kalt im Umkleideraum, weshalb wir die Heizungen anschalteten, aber trotzdem fand ich es angenehmer, wenn Chantal noch nicht da war. Trotz der kühlen Ignoranz, die ich ihr gegenüber aufbrachte, fürchtete ich mich vor ihr.
„Was ist los?“ fragte Gabriella, als sie meine Laune bemerkte. Ich erwachte aus meiner Trance und sah von meinen zusammengefalteten Händen auf.
„Es ist alles in Ordnung.“ sagte ich lächelnd, „Nein – Besser. Ich freue mich so sehr hier zu sein. Diese Chance zu haben.“ korrigierte ich mich. Gabriella lächelte zufrieden.
„Willst du schon anfangen? Ich kann dir noch etwas beibringen.“ teilte sie mir mit. Ich grinste.
„Klar. Immer doch.“ Wir gingen auf die Bühne und standen uns gegenüber.
„Jetzt singe bitte den Anfang von 'One of us'. Die langen Ahhhs.“ bat sie. Ich tat, was sie von mir verlangte.
„Du singst aus der Brust. Versuche mal aus dem Bauch zu singen.“ verlangte Gabriella konzentriert. Ich wiederholte es noch einmal und achtete auf meine Atmung. Nach dem zweiten Versuch gelang es mir.
„Jetzt klingt deine Stimme viel klarer.“ belehrte Gabriella mich freundlich. Wir übten das noch so lange, bis ich automatisch aus dem Bauch sang. Schließlich war sie zufrieden mit mir und ich nahm aus meiner Konzentration wieder die Außenwelt auf. Einige Meter hinter mir stand Ornella mit Chantal. Sie übten gerade alle Songs durch. Noch weiter entfernt waren Réka, Ferenc und Sofia, die fleißig die Tuchakrobatik-Nummer übten. Ich drehte mich um. In dem kleinen Büro saßen Herrn Grawunder, Mr. Hunt und Monika Ziefle konzentriert auf den Computerbildschirm sehend und diskutierten. Gabriella suchte auch den Raum ab, vermutlich nach denselben Personen wie ich. Wir gingen gleichzeitig in Richtung Pausenraum, der ebenfalls leer war. Die Umkleideräume waren auch leer. Chantal erschien in der Tür.
„Sucht ihr jemanden bestimmten?“ fragte sie. Ihre Augen funkelten. Sie lehnte lässig am Türrahmen und ließ ihren zusammengebundenen blonden Zopf am Hinterkopf baumeln.
„Ja.“ antwortete ich bissig, bevor Gabriella antwortete. Sie würde mit ihrer Freundlichkeit nur in Fallen tappen.
„Hm. Ist dieser Jemand ungefähr ein Meter und fünfundsiebzig Zentimeter groß, hat grüne Augen, schwarze Haare, bleiche Haut und in seiner momentanen Verfassung leichte Atemprobleme?“ fragte sie auf Deutsch wie eine fauchende Katze.
„Was?“ krächzte ich. Sie machte einen gespielt besorgten Gesichtsausdruck.
„Oh. Ich glaube, ich habe ihn vorhin in die Requisitenkammern gehen sehen. Er sah nicht sehr gesund aus. Ich befürchte er ist dort irgendwie gestürzt und hat vergessen zu atmen...“ Ihre Augen waren kalt und gefährlich. Ich hatte Angst, allerdings war die Angst um James größer, als die, dass sie mir etwas antun würde, vor allem, weil ich Gabriellas Anwesenheit spüren konnte. Chantal war ein Biest würde es immer bleiben, egal wie sehr sich Hanna mit ihr bemühte. Diese ganzen bösen Blicke waren im Nachhinein sehr schadenfroh und hinterlistig. Dieses blöde Biest...
„Was hast du getan?“ fragte ich schreiend. Gabriella legte ihre Hand auf meine Schulter.
„Denk an deine Ruhe.“ ermahnte sie mich. Chantal zuckte nur mit der Schulter.
„Naja, die Tür der Requisitenkammer, die James betrat, steht noch offen, wenn ich gerade so daran denke.“ meinte sie beiläufig. Ich sah sie noch einen Moment an und unterdrückte das Bedürfnis sie zu beleidigen, bevor ich los rannte. Ich rannte so schnell ich konnte. Gabriella folgte mir.
„Jetzt beruhige dich doch erst einmal!“ schrie sie mir hinterher. Ich ignorierte ihre flehenden Rufe genauso wie die Blicke der Anderen, als ich beinahe Ferenc umrannte, der im letzten Augenblick noch zur Seite sprang. Er verschüttete dabei Wasser aus seiner Wasserflasche, aus der er eigentlich trinken wollte,. Ich murmelte eine Entschuldigung, während ich weiter rannte. Ich stürmte weiter, die Treppe hinunter und dann rechts zu den Requisitenkammern. Die Türe stand offen, der Raum war dunkel und still. Ich suchte den Lichtschalter., Gabriella wusste wo er war und schaltete das Licht an. Es standen haufenweise Kartons, Kleiderstangen voller Kostüme und Möbelstücke für Shows herum. Das waren die Requisiten von mindestens den letzten drei Jahren, allein in diesem Raum. Chantal erschien ebenfalls und lehnte am Türrahmen. Die Anderen waren nun neugierig auch dazu gestoßen und erkundigten sich, was los sei. Mein Blick durchstreifte den Raum. Hier war kein Mensch. Ich fing trotzdem die Sachen zu durchwühlen. Chantal konnte man schließlich alles zutrauen. Ein leises Wimmern drang von einer Kleiderstange an der linken Seite hervor. Ich ließ die Sachen, die ich gerade in der Hand hatte einfach fallen und lief zu der Kleiderstange, die mit Kostümen überfüllt war. Ruckartig schob ich die Kostüme auf die Seiten. Manche Kostüme, die darauf gelegen hatten, fielen achtlos auf den Boden.
„Oh my God!“ stieß ich erschrocken aus. Ich sah in das blasseste Gesicht, das ich je gesehen hatte. James lag auf dem Boden und rang um Atem. Ich fiel auf die Knie um nahm seine Hand. In der Aufregung konnte ich nicht beurteilen wie schlimm es gewesen sein musste, aber sein Puls war schockierend schwach.
„James? James, bitte sag doch etwas, gebe ein Zeichen oder sonst etwas, aber tu etwas? Bitte!“ flehte ich ihn an. Tränen rannen mir über die Wange. Nichts passierte. Ferenc rief den Notarzt an. Gabriella legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und wollte, dass ich mich beruhigte.
„Bitte.“ flehte ich James weiter an. Er wimmerte nur vor sich hin, aber öffnete nicht die Augen oder tat sonst irgendetwas. Mit meiner linken Hand hielt ich seine rechte Hand fest. Meine rechte Hand legte ich auf seine linke Brust um den Herzschlag zu spüren. Es war so schrecklich. Er war so schwach. Ich umklammerte seine Hand, als sei sie das einzige, das ihn am Leben hielte. Ich weinte so sehr, dass ich nur noch verschwommen durch die Tränen sehen konnte.
„Shhh.“ beruhigte sie mich und strich mir über das Schulterblatt. Als der Notarzt kam, sah ich auf. Ornella und Réka sahen geschockt und mitleidig zu mir und betrachteten, wie James auf eine Trage gehoben wurde. Ferenc musste wohl Juan an der Tür abgefangen haben, denn der kam besorgt angerannt. Er hielt sich an der Tür fest, um nicht dagegen zu rennen und sah in die besorgten Gesichter. Als sein Blick von Gabriella zu mir wanderte blieb er bei mir. Er sah meine Tränen, die ich verzweifelt versuchte wegzuwischen, aber das hatte keinen Zweck.
„Wie schlimm ist es?“ fragte er mich. Ich deutete mit meinem Blick auf den reglosen Körper,d er gerade auf der Trage hochgehoben wurde. Juan folgte meinem Blick und war entsetzt. Er sagte irgendetwas auf Spanisch und ging auf mich und Gabriella zu. Ich wendete mich an James und strich ihm eine Strähne seiner Haare aus dem Gesicht. Die Notärzte trugen ihn zum Krankenwagen und ich lief mit. Die Anderen folgten ebenfalls. Juan war seltsam. Ich hatte ihn noch nie erlebt, wie er aus der Ruhe kam, aber das war etwas Anderes. Er starrte fast schon panisch auf James. Ich konnte annehmen, dass er mindestens genauso geschockt war wie ich selbst. Ich hielt James Hand und fuhr sanft mit der rechten Hand über seinen Handrücken. Als ich schwach gewesen war, hatte er mich nicht losgelassen, aber ich würde ihn loslassen müssen. Ich war keine Familienangehörige und konnte ihn nicht mit in ein Krankenhaus begleiten. Loslassen war nie meine Stärke gewesen. Gabriella lief neben mir her und sagte beruhigende Worte, die ich nicht hören konnte. Ich konnte gar nichts hören, außer James' schwachem pochender Puls, seinem Herzschlag und dem leisen Wimmern, das er manchmal von sich gab. Sie luden ihn in den Krankenwagen und ein Sanitäter gab mir einen Zettel, auf dem das Krankenhaus notiert war, in das sie bringen würden. Ich dankte ihm und sah dem Krankenwagen hinterher. Ornella, Réka, Sofia und Ferenc waren schon gegangen. Sie wollten trotz allem weiter üben. Das konnte ich sogar verstehen. Sofia musste wirklich noch viel lernen und bei der Arbeit wurde man abgelenkt. Aber ich wollte keine Ablenkung, ich wollte mich damit auseinandersetzen. Ich wollte wissen, weshalb ich diesen Schmerz spürte. Weshalb sich mein Hals zuschnürte, als würde mich jemand erwürgen wollen. Chantal kam auf mich zu.
„Siehst du, liebes, du nimmst mir meine Rolle nicht weg. Dafür werde ich sorgen.“ flüsterte sie mir ins Ohr. Sie hatte es auf Englisch gesagt und Gabriella hatte es mitbekommen, tat aber so, als hätte sie es nicht gehört. Juan hatte es ebenfalls gehört. Ich allerdings wehrte mich dieses Mal. Ich hob meine Hand an und schlug ihre Backe.
„Weißt du, du solltest dich einmal selbst sehen. Nicht durch einen Spiegel, der dir dein Aussehen zeigt, sondern durch Augen von den Personen, die dich Tag für Tag ertragen müssen.“ sagte ich eiskalt. Ich war nicht wie immer. Mir war auch klar, dass ich das unter normalen Umständen nie getan hätte, aber es fühlte sich gut an und Chantal rieb sich die Wange. Mich triumphierte es umso mehr, dass es ihr wehtat.
„Ich weiß wer ich bin. Ich bin die Hauptstimme, die Beste! Und ich bin die Hauptrolle in der nächsten Show!“ fauchte sie bissig. Ich zwang mich zu einem fiesen Lächeln.
„Wenn du dir da so sicher bist, warum musst du mir dann immer zeigen, dass du die Hauptrolle bekommen wirst?“ konterte ich. Chantals Augen verengten sich und sie machte kehrt. Zu Gabriella gewandt sagte sie noch: „Du solltest deiner Schülerin lieber die Gewalt abgewöhnen. Das ist Körperverletzung.“ und ging weg.
„Pah! Das sagt gerade die Richtige!“ schrie ich ihr hinterher. Ich hatte aufgehört zu weinen, aber ich fühlte ich genauso elend wie vorher auch.
„Was soll das?“ fragte Gabriella verwirrt und entsetzt.
„Sie hat mich damals so fest gehalten, dass ich zu Boden gestürzt bin und mir den Kopf angeschlagen habe.“ erzählte ich ungerührt. „Mit Absicht.“ fügte ich traurig hinzu. Ich sollte eigentlich wütend sein, aber das war ich nicht. Ich war einfach so voller Sorge, dass ich nichts Anderes mehr fühlte. In meiner Hand hatte ich den Zettel ohne es zu bemerken zusammengeknüllt. Gabriella war schockiert. Sie kam zu mir und wollte mich umarmen, doch mein Blick war so stechend, dass sie kurz vor mir ihr Vorhaben unterbrach und einfach da war. Juan kam auch näher.
„James hat meinen Aufschrei gehört und kam mir zu Hilfe.“ erzählte ich weiter. Eine erneute Träne kullerte mir über die Wange. Jetzt konnte nicht einmal ich Gabriella zurückhalten. Sie nahm mich in die Arme und beruhigte mich bis ich aufhörte zu weinen.
„Also habt ihr die ganze Zeit die Wahrheit gesagt und Chantal wollte euch nur Fallen stellen, weil sie die Hauptrolle will?“ fragte Juan. Ich nickte.
„Und es hat funktioniert.“ sagte ich. Die Zwei sahen mich ungläubig an. „Ich will die Hauptrolle nicht. Ich brauche nur diese praktische Arbeit in der Musik.“ erklärte ich. Noch mehr hätte ich die Zwei wahrscheinlich nicht schocken können.
„Warum?“ fragte Juan ungläubig. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
„Weil ich das für das Studium brauche.“ Gabriella sah mich vorahnend an.
„Bachelor of Music? Um Pianistin zu werden, oder?“ fragte sie eindringlich und vorsichtig. Ich nickte. Sie erinnerte sich an das Gespräch während des Luftballons aufblasen.
„Du willst also nicht singen oder tanzen?“ fragte Juan kritisch. Daraufhin nickte ich wieder langsam.
„Aber deine Stimme...“ fing Gabriella an. Ich unterbrach sie.
„...ist nebensächlich. Wenn ich Klavier spiele, dann bin ich jemand anderes. Ich bin an einem anderen Ort und es gibt nichts außer der Musik. Ich weiß wirklich nicht was schöner sein könnte wie dieses Gefühl. Ihr müsst das nicht verstehen, aber ich wäre um eure Akzeptanz wirklich sehr glücklich.“ sagte ich und ging schon einmal langsam in Richtung Globe Theater. Sie folgten mir natürlich. Sie wollten protestieren, aber sie ließen es dann immer wieder doch noch.
„Na gut. Lasst uns das Thema wechseln.“ schlug Gabriella vor. Wir stimmten zu und so diskutierten wir wieder über James. Ich machte mir solche Sorgen...
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