Kapitel 7 - Ungerechtes Urteil
Es war, als würde Valorie das erste Mal atmen können; als würden ihre Nerven ihr endlich Entspannung gestatten. Sie drückte ihren Kopf gegen das Versprechen der Zuneigung, das sich zu ihrer Seite auftat — und bemerkte erst später, dass es eine Schulter war.
»Verzeihung«, murmelte sie alarmiert und distanzierte sich ruckartig von Finch. Sie lag neben einem Mörder. Einem Gast.
Wenn die anderen Richter das jemals erfahren würden... Diese Meldung drohte das gesamte System zu erschüttern.
Finch ließ sich nichts anmerken. Die Frau war an den Rand des Betts gerutscht. Eine Halskette lag sicher auf ihrer Brust — mit bronzener Schnalle als Verschluss. Die Linie ergänzte die perfekt geschwungene, ungebrochene Welle ihres Schlüsselbeins.
Sie hielt eins von Valories Büchern in der Hand und blätterte mit nachlassendem Interesse darin. Tatsächlich beachtete Finch ausschließlich die Abbildungen, Diagramme und deren Untertitel — den langen Text daneben ignorierte sie, bevor sie zur nächsten Seite vorsprang.
»Soziale Medien haben meine Aufmerksamkeitsspanne zerbombt«, erklärte sie zusammenhanglos. Valorie konnte die Worte intensiver an ihrem Nacken spüren, als sie sie hörte. »Ich kann mich nicht mal aufs Lesen konzentrieren.«
Valorie wusste nicht, ob es unhöflich wäre, wenn sie sofort vom Bett aufstehen würde. Also blieb sie auf dem Rücken liegen und atmete tief durch die Nase ein, bevor sie zu einer rauen Antwort ansetzte: »Geht vielen so.«
»Habt ihr hier auch Internet?« Finch schob die Decke von ihrem Oberkörper und stemmte den Rücken gegen die Wand.
»Wieso? Hast du eine E-Mail zu schreiben?« Die ausbleibende Antwort erinnerte Valorie daran, dass ein Gast neben ihr lag — und sie ihren Humor bestenfalls nicht äußern sollte.
Nun, wo sie einen kühlen Kopf hatte, bereute sie alle Entscheidungen des vergangenen Abends.
Das Buch wurde ordentlich auf den Nachtschrank gepackt. Finch stellte die Kerze wieder drauf, die sie vorher heruntergenommen haben musste. Sie streckte den Arm aus — im Prozess segelte ein Bild von der Wand. Das Scheppern dröhnte erschreckend laut durch das Zimmer; der Rahmen war mit Sicherheit zerbrochen. »Deine Bude ist genauso chaotisch, wie meine.«
Valorie fuhr durch ihr Haar. »Hätte ich gewusst, dass ich persönlich Besuch empfange, hätte ich alles in meiner Macht stehende getan, um aufzuräumen.«
»Und wo willst du den Kram verstecken? Du hast ja kaum Platz hier.«
»Ich fühle mich in engen Räumen wohler.«
Finchs Lider senkten sich. Sie schaute durch ihren Wimpernkranz gegen die Decke — und Valorie hoffte, dass sie nicht die Risse im Putz entdeckte. »Ich hoffe du fühlst dich nicht angegriffen, wenn ich das sage«, begann die Frau nach einer Weile und bestärkte Valories Befürchtung für einen Moment. »Aber ihr habt relativ viel Persönlichkeit, für Richter.«
»Das stimmt.«
»Wenn ich an Richter im Nachleben denke... Dann denke ich an dieses blinde-Richter-Klischee. Emotionslos und logisch-denkend, um fair zu bleiben.«
»Gerade Emotionslosigkeit ist ein Grund für Ungerechtigkeit«, nuschelte Valorie müde. Sie rieb sich die Augen und streckte dann die Arme über dem Kopfteil aus. »Aber ich verstehe deinen Gedanken. Wir wollen, dass sich Menschen willkommen fühlen. Und die meisten würden Angst vor uns haben, wenn wir uns wie Roboter benehmen würden.«
»Darf ich fragen, was ihr seid? Ihr seid doch sicher nicht natürlich geboren, sondern müsst ja sowas wie... Roboter sein.«
Valorie schielte zu ihr herüber. Sie wagte sich nicht, sich zu bewegen. »Ich bin keine Maschine. Es gibt uns schon sehr viel länger, als es Künstliche Intelligenz auf der Erde gibt«, war ihre Antwort. »Ich muss vorsichtig sein, was ich dir erklären kann, Finch. Ich bedaure, aber ich will keine Grenzen und Regeln überschreiten.«
»Und wie alt bist du?«
»Ich arbeite seit 1923 hier.«
»Boah, hast dich beachtlich jung gehalten. Du bist ja fast eine Vampirin, wie sexy.«
Valorie wünschte, dass sie ihre Mimik kontrollieren könnte, doch die absolute Abneigung musste ihr abzulesen gewesen sein. »Ich habe keine Ahnung, was für eine Antwort du dir jetzt erhoffst.«
»Weißt du was ein Vampir ist?«
Sie lachte trocken und schützte ihre Augen mit den Händen. »Nur, weil wir kein 5G hier haben, heißt es nicht, dass ich hinter dem Mond lebe. Natürlich weiß ich, was ein Vampir ist.« Valorie rollte sich nach links und stand zur anderen Seite des Betts auf — wo sie noch nie aufgestanden war. Normalerweise schlief sie da, wo Finch noch immer lag. »Danke, dass du mich die Nacht nicht umgebracht hast.«
»Ausnahmsweise, weil du meine Lieblings-Vampirin bist.« Finch zwinkerte verschwörerisch.
Sie erinnerte so sehr an Theodore, dass es unheimlich wurde.
»Schleim dich nicht ein. Das kommt selten gut bei uns an.«
»Ich erwähne es ungern nochmal, aber du sprichst ja nicht mein Urteil aus, sondern der Mann.«
»Theodore, heißt er.«
»Theodore«, Finch betonte die Buchstaben, als wolle sie den Geschmack dahinter kosten. »Ich hoffe, er findet meine Memoiren« Sie hob eine Hand und zeigte mit ausgestreckten Zeigefinger auf Valorie, um hinzuzufügen: »Die ich nicht geklaut habe, bevor die Frage wieder aufkommt.«
»Ja, ja. Wir hoffen einfach, dass es mittlerweile aufgetaucht ist und dann kannst du weiterreisen.«
Valorie streifte sich eine Strickjacke über den Körper. Im Hintergrund konnte sie das Rascheln ihrer Decke hören, dann das Quietschen des Bettgestells.
»Ich kann mir hier ja nicht mal die Zähne putzen«, quängelte Finch. Dann schoss ihr Kopf zu Valorie herum. »Könnt ihr Richter eigentlich Karies bekommen?«
»Nein?«, erwiderte Valorie langgezogen. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Also putzt du dir nicht die Zähne.«
Valorie musste wohl noch immer träumen — ein derart belangloses Gespräch hatte sie sicherlich noch nie mit einem Gast geführt. Das hätte sie nicht vergessen können. Der einzige, gleichermaßen dämliche Gedanke, der ihr aufkam, war: Ist es jetzt widerlich, wenn ich nein sage?
»Selbst, wenn ich eine Zahnbürste hätte, würde ich sie definitiv nicht mit dir teilen. Das ginge dann etwas zu weit.« Sie öffnete die Tür, um in ihre Bar zu treten. Der Geruch von Holz und altem Steingemäuer schoss ihr entgegen. Sie schlurfte zu den Tischen, um die Stühle ordentlich heranzuschieben.
So kurz nach dem Aufwachen war sie immer allein gewesen. Es war befremdlich, Geräusche aus dem Schlafzimmer zu hören.
»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich tot bin«, grummelte Finch. »Das fühlt sich alles so unecht an.«
Valorie nickte — auch wenn sie sich nicht sicher war, dass die Frau es sehen konnte. »Das ist normal. Wenn Menschen zu lange hier sind, verlieren sie den Verstand. Deswegen kannst du nicht ewig bleiben.«
»Stopp, was? Du kannst mir nicht einfach so sagen, dass ich hier abdrehen werde.«
»Ich meine damit«, korrigierte Valorie langsam. »Dass du nicht für immer hier bleiben kannst. Du wirst langsam immer mehr von unserem System in Frage stellen. Irgendwann wird alles unlogisch, du fühlst dich lebendiger und denkst, dass wir dich anlügen. Es kann auch sein, dass du aggressiver werden wirst. Und das würde deinem Urteil nicht helfen.«
»Ich- Hör mal auf, mir Angst zu machen. Ich kriege wirklich nichts mehr mit. Alles fühlt sich an, wie im Traum. Ich kann doch nicht wirklich tot sein.«
Valorie ließ die Schultern kreisen. Sie betrat den Bar-bereich, wo das glatte Holz der Theke im warmen Licht strahlte. Anstatt sich — wie so oft — dahinter zu verschanzen, ging sie in den Flur. Sie hielt auf die Tür zu und schlug einmal gegen die große Messingglocke, die daneben hing.
Das Material zitterte unter ihrer Berührung. Der tiefe Ton vibrierte an den Wänden — nicht so melodisch, wie sonst, wenn Gäste ihre Bar betraten.
Sie studierte Finch aufmerksam. »Hat das geholfen? Fühlst du dich jetzt weniger entfremdet?«
Finch verzog das Gesicht, als habe sie einen Zaubertrick mitangesehen. »Was hast du da gemacht?«
»Die Glocke sorgt dafür, dass die Gäste ruhig bleiben, wenn sie realisieren, dass sie gestorben sind. Der Klang wirkt entspannend und bewahrt sie davor, ihr Ableben anzuzweifeln.«
»Hm.«
Valorie zog die Mundwinkel ein. »Ich kann mir vorstellen, dass es schwer für dich zu verstehen ist.«
»Es ist scheiße-unheimlich.«
»Entschuldige bitte.« Die folgende Stille wurde vom nachklingenden Schwingen der Glocke unterbrochen. Valorie hielt die Luft an und quetschte sich durch den Türrahmen, um wieder hinter der Bar zu verschwinden. »Wie magst du deinen Kaffee?«
Es folgte keine Antwort. Valorie drückte den Rücken durch.
Aus dem Leben gerissen zu werden, war eine sehr emotionale Erfahrung — hatte sie gelernt — auch, wenn es die Menschen nicht zeigen konnten.
Sie blieben nicht lang genug in der Zwischenwelt, um sich ihres Todes wirklich bewusst zu werden. Die Konsequenzen konnten sie nicht begreifen.
Man versuchte die Menschen in einer neutralen Gefühlslage zu halten — da sie so ihr wahres Wesen zeigen konnten. Unter Wut und Trauer verhielten sich viele anders; bei Freude ebenso.
Ausgeglichenheit war das Ziel. Und um diese zu erhalten, diente die simple Glocke.
Valorie schielte wieder dorthin — und konnte dem Blick der Mörderin nicht entgehen. Erstmals sah Finch wirklich gefährlich aus. Alarmiert und angespannt verharrte sie neben der Wand. Ihre Mimik verriet, dass sie in Valorie so sehr eine Gefahr suchte, wie diese in ihr.
»Unheimlich«, wiederholte Finch leise und schüttelte den Kopf. Sie bedeckte mit den Händen das Gesicht. »Mit Zucker.«
»Unheimlich mit Zucker kann ich nicht anbieten. Aber Filter, oder Crema.« Valorie bemühte sich eines kläglichen Lächelns.
»Mir egal. Kann so ranzig wie an der Tanke schmecken. Ich bin jetzt eh hellwach.«
Valorie wandte sich ab. Sie riss die Augen auf. Ein unbeholfenes Lachen lag auf ihren Lippen. Die Situation war so abstrakt, dass sie am liebsten den Taktgeber aufsuchen würde.
Seine Ratschläge konnte der Insektenmann sich aber sparen. Immerhin hatte er sie in diese Situation gebracht.
Sie trommelte mit den Fingern auf der Ablage — der selbe Rhythmus, den sie immer summte. Valorie wusste nicht, wo er herkam, oder was er für sie für eine Bedeutung hatte. Sie war allerdings davon überzeugt, dass diese Melodie sie verfolgte, seitdem sie mit ihrer Arbeit im schwarzen Herz begonnen hatte.
Finch räusperte sich. Sie ging in den Flur und betrachtete sich im Spiegel. Eine Weile verbrachte sie damit, ihre Kleider zu richten. Dann verschwand sie im Bad.
Endlich konnte Valorie aufatmen — sie hätte nicht erwartet, dass ein Seufzen so verkeilt in ihrer Brust sitzen konnte. Kopf in den Nacken gelegt, schaute sie gegen die Holzbalken.
Finch war ein Mörder.
Und sie war schon viel zu lange in ihrer Gegenwart.
Sie konnte nur hoffen, dass Theodore sie demnächst aufsuchte. Wenn er nicht selbstständig in ihre Bar kam, würde sie in seine stürmen — dann müsste Finch sich für einen Augenblick allein unterhalten. Alles war besser, als die Mörderin länger hier zu behalten.
Eine dampfende Tasse Kaffee stand nun auf der Theke. Wenn sie könnte, würde Valorie sich selbst etwas einschenken, doch Richter durften nicht vor den Gästen trinken. Das würde die Distanz stören.
Und trotzdem Valorie bereits neben der Frau geschlafen hatte, klammerte sie sich an die Vorschriften.
Als Finch zurückkam, ließ sie sich sofort auf den Barhocker fallen. Ihre nächste Frage kam ohne Denkpause: »Wie bist du geboren?«
Oh, Theodore, rette mich.
»Das darf ich dir nicht mitteilen.«
»Was soll ich mit der Information machen? Ins Internet stellen? Ihr habt doch keins hier, dachte ich.«
»Ich bin nicht geboren«, erklärte Valorie ruhig. »Ich bin erschaffen.«
»Hybrid?«
»Naja. Irgendwie schon.«
Finch presste die Lippen zusammen. Sie sah aus, als würde sie sich in die Ruhe fallen lassen wollen, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. »Aber du hast nie gelebt-gelebt.«
»Nein, ich war nicht selbst lebendig.«
»Aber?«
»Meine... Finch.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich darf dir das nicht erzählen.«
»Du hast also nichts menschliches an dir?«
»Nun, doch.«
»Woraus bist du zusammengesetzt? Erkläre es mir doch.«
Valorie rammte ihre Nägel in die Handfläche. »Ich bin zusammengesetzt aus den Seelen der Menschen, die hier verschwinden... und anderen Richtern.«
Die Antwort schien Finch nicht zu genügen, doch sie nickte. »Ihr seid also Monster, irgendwie.«
Valorie konnte sich nicht länger auf die Zunge beißen. »Und du bist ein Mörder.«
Finchs Blick war scharf wie ein Messer. »Du auch. Ihr alle.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro