Kapitel 6 - Richter der Toten
Theodore wandelte wie ein Geist durch die Gänge. Seine Augen waren glasig, die Hände nervös.
Sie verließen den Bereich im schwarzen Herz, wo sich die Bars aneinanderreihten. Scheinbar wusste Theodore bereits, wie man zum Büro des Taktgebers gelangte. Zwischen den vielen Emotionen in seinem Gesicht fand Valorie zumindest keine Unsicherheit. Dafür zerfurchte Angst und Ratlosigkeit seine Züge.
Ein wenig erstickt fragte er: »Wie meinst du, reagiert er?«
»Hey, was denkst du denn, was wir mit dir machen?« Valorie fasste an seinen Oberarm, doch der Mann blieb nicht stehen.
Theodores Blick war auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne fixiert und seine großen Schritte waren mechanisch. »Ich hasse sowas. Ich hasse es. Kann nicht einfach mal alles gut gehen?«
»Willst du lieber allein zu ihm? Soll ich dich nur zur Tür begleiten?«
»Eigentlich will ich nicht, dass du meine erbärmliche Verzweiflung siehst.« Er grinste abgekämpft. »Aber ich will einen Zeugen haben. Und dir vertraue ich mehr, als den anderen.«
Sie liefen eine Schräge aufwärts, um auf eine andere Ebene zu gelangen. Die Gänge verschmolzen zu einer Einheit und bildeten eine offene Fläche, in der sich Valorie verloren vorkam.
Die Büroräume vernarbten das schwarze Herz und erinnerten mit ihren strahlenden Wänden an vergoldete Venen. Warmes Metall glitzerte, als Valorie daran vorbeilief.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte sie, als sie feststellte, dass Theodore in seine Haut krallte.
»Es ist nicht deine Aufgabe, mich zu beruhigen«, gab er verbissen zurück. Er scherte zur Seite ein und blieb vor einer Tür stehen. Mit der Faust hämmerte Theodore gegen das Holz und wartete nicht auf Einlass, um einzutreten.
Valorie folgte ihm — verwundert darüber, dass warme Kaminluft in ihr Gesicht peitschte. Sie stand das erste Mal in dem kleinen, überschaubaren Zimmer, das der Taktgeber sein Büro nannte... Und es war so reizüberfordernd, wie sie es sich niemals hatte vorstellen können.
Die Einrichtung war mit Mustern verziert, die Tapete dunkelrot und mit extravaganten Blumen-Elementen versehen. Statt einer Deckenlampe gab es mindestens drei andere Lichtquellen, die sie ausmachen konnte.
Valorie musste ihren Blick auf den Schreibtisch fixieren, um sich nicht von den schrecklichen Mustern hypnotisieren zu lassen.
Die dunkle Farbe an den Wänden ließ den Raum noch kleiner wirken, als er war. Das war ein Gefängnis. Kein Wunder, dass vom Taktgeber keine Spur war. Selbst wenn er in seinem Büro gestanden hätte, Valorie hätte ihn wahrscheinlich nicht vom Chaos unterscheiden können.
Theodore rang sich ein schiefes Räuspern ab, gefolgt von einem beachtlich-selbstbewussten: »Entschuldigung.«
Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich eine Tür. Der Taktgeber streckte seinen Kopf heraus. Irritiert über ihre Anwesenheit sah er nicht aus — aber eine eindeutige Mimik aus seinem Insekten-Gesicht zu lesen war ohnehin kaum möglich. »Ja?«, fragte er. »Wie lief es?«
Es wirkte, als würde Theodore jeden Moment auf seine Knie krachen. Er atmete ein — ein zitterndes, scharfes Geräusch. »Nicht unbedingt, wie es sollte. Ihre Unterlagen sind nicht bei mir gelandet.«
»Ihre Memoiren?«, fragte der Taktgeber verwundert.
»Ja. Die Frau ist in meiner Bar aufgetaucht, als ich gar nicht drin war. Sie ist zu Valorie rübergegangen. Dann hab ich sie aufgegabelt.«
»Sie war-« Der Taktgeber unterbrach sich selbst. Sein Schweigen war scharf wie eine Klinge. »Sie war auf dem Gang?«
»Es tut mir Leid.«
»Theod- In Ordnung. Das ist unerwartet. Hat sie ihre Memoiren versteckt?«
»Das habe ich auch überlegt, aber sie bestreitet es. Wieso sollte sie auch ein Buch verstecken? Sie konnte ja nicht einmal wissen, dass es eine Bedeutung für sie hat.«
Der Taktgeber stand nun mitten im Raum hinter seinem Schreibtisch — Valorie hatte nicht realisiert, dass er sich überhaupt bewegt hatte. Er wühlte einen Stapel durch, der auf seiner Ablage aufragte. »Eigentlich sind alle Unterlagen zu dir geschickt worden.«
»Ist sie die Mörderin? Die Frau mit den kupfer-farbenem Haar?«, fragte Theodore. »Sie heißt Finch.«
»Genau, sie ist der Mörder. Ich wurde schon in Kenntnis gesetzt, dass sie zu dir geschickt wurde.«
Valorie konnte ihren empörten Blick nicht verbergen. Sie wollte sich auf die Zunge beißen, doch entschied, ihrer — durch Schlafmangel verursachten — schlechten Laune nachzugeben. »Also wusstest du sogar, wer der Mörder sein wird?«
Der Taktgeber antwortete langsam: »Ich habe es erst erfahren, nachdem ich bei euch war.«
»Du hättest nochmal zurückkehren und uns Bescheid sagen sollen, damit wir in ihrer Gegenwart aufpassen.«
»Aufpassen solltet ihr immer während der Arbeit«, gab er finster zurück. Seine Stimme bebte, als er fortfuhr: »Ich wollte euch keine Details nennen, da das euer Urteil noch mehr beeinflussen würde. Das sollte dir bekannt sein, Valorie. Ihr könnt froh sein, dass ich euch überhaupt gewarnt habe.«
»Das ist ohnehin nicht das Thema«, raunte Theodor. Er klang so kratzig, dass selbst Valorie das Bedürfnis bekam, sich zu räuspern. »Kann ich die Memoiren irgendwie als Kopie bekommen, damit ich sie verurteilen kann?«
»Es gibt keine Kopien«, schnaubte der Taktgeber entrüstet.
An Theodores Hand lief Blut herunter — er hatte sich die Haut am Fingernagel aufgekratzt. »Heißt das, ich kann sie nicht verurteilen? Kann ich mir nicht ihre Geschichte durchlesen?«
Der Taktgeber setzte sich an seinen Tisch. »Es gibt keine Kopien«, wiederholte er langsamer. »Keine Ahnung was wir jetzt machen.«
Theodore wandte sich kurz ab, fuhr sich über den Mund, verkreuzte dann die Arme vor der Brust. »Es tut mir so leid.«
»Was tut dir leid? Du hast es doch nicht versteckt, oder?«
»Nein... Oder- ich weiß nicht. Hab ich?« Theodore drehte sich zu Valorie.
Sie schüttelte den Kopf. Nun wurde sie von beiden Männern angeschaut und ihre Kopfschmerzen wurden von Frustration überdeckt. »Was, nein. Hast du nicht. Das ist nicht deine Schuld.«
Der Taktgeber musterte sie lang. Valorie könnte schwören, dass er sie anklagend ansah — oder einen Plan schmiedete, der sie involvierte. Er behielt sein Starren bei, selbst, als er das Wort erhob. »Hm. Und sie ist jetzt allein?«
Theodore antwortete: »Nein, ich habe Kenton gebeten, auf sie aufzupassen.«
»Was?«, keifte der Taktgeber. »Wie vielen von euch ist sie denn jetzt begegnet? Drei?«
Theodore schwieg. Er schien nicht mehr sprechen zu können — da war nur noch nach Luft keuchende Panik, die seinen Körper zerriss.
Der Taktgeber zeigte auf einen der Stühle. »Setz dich hin, Junge, es ist alles gut.«
Mit zitternden Gliedern folgte Theodore dem Befehl. »Es tut mir so leid.«
Valorie wusste nicht, wie sie helfen könnte — deswegen stand sie bewegungslos an der Wand und beobachtete ihn dabei, wie er die Haut an seinen Fingern kratzte.
Sie konnte nur schätzen was das Problem war. Wahrscheinlich war seine Angst das Produkt ihrer Arbeitskultur; dem faszinierenden Mosaik aus Zwang, Hingabe und Notwendigkeit.
Ihre Aufgabe war mit Verpflichtungen verbunden. Ein Fehler konnte Folgen haben — und das war jedem von ihnen bewusst.
»Ich werde nochmal nachfragen, wie es mit den Dokumenten steht«, versprach der Taktgeber — in einem Ton, als würde er mit einem Kind sprechen. »Es kann sein, dass die Memoiren nicht mehr aufzufinden sind. Ich empfehle, dass ihr die Frau erstmal unter eure Fittiche nehmt und unterhaltet. Kannst du damit leben?«
»Ich wollte nichts falsch machen. Ich habe ehrlich keine Ahnung, wie das passiert ist.«
»Ich weiß. Es ist jetzt nicht zu ändern.«
»Es tut mir Leid.«
»Es ist nicht zu ändern«, grummelte der Taktgeber — sichtlich bemüht, nicht wütend zu werden. Frustration sammelte sich auf seinen Zügen. Seine Persönlichkeit war geprägt von tiefen Wurzeln wie Zuneigung und Respekt, doch alles hatte seine Grenzen. Er wandte sich an Valorie. »Du bist die einzige Frau unter euch. Wenn der Gast schlafen möchte, nimm du sie bitte bei dir auf.«
Valorie lächelte bestätigend. »Gern. Aber ich muss erstmal selbst schlafen.«
»Nein. Frag sie mal, ob sie gleich zu dir möchte. Ich hätte ungern, dass sie unbeaufsichtigt bleibt, oder noch mehr Richtern unter die Augen geführt wird.«
Theodores Augen waren so glasig, dass man annehmen könnte, er sei mit ihnen geöffnet ohnmächtig geworden. »Was machen wir, wenn wir die Memoiren nicht mehr auftreiben können?«
»Wenn dem so ist, habt ihr alle drei ein Gespräch mit ihr. Dann nehmen wir die Ergebnisse aus deinen, Valories und Kentons Erfahrungen mit der Frau zusammen und formen daraus ein Urteil. Der Gast darf nicht darunter leiden, dass bei uns etwas schief gegangen ist.«
Theodores Muskeln entspannten sich sichtbar für einen Augenblick, dann verkrampften sie sich wieder. »Gibt es Konsequenzen für mich?«
»Ich weiß nicht, was du von mir hören willst. Soll ich dich umbringen lassen? Soll ich dich deines Rangs entziehen?«
»Ich weiß es nicht« Er rieb die Hände auf dem Stoff seiner Hose. »Ich weiß es nicht. Es tut mir Leid.«
Der Taktgeber lehnte sich wieder nach hinten. Seine Augen suchten die von Valorie. »Ich glaube, dass es besser wäre, wenn du dich der Dame annimmst, damit Theodore etwas Ruhe haben kann.«
Erst wollte sie um eine Alternative bitten — sagen, dass sie selbst zu müde war, um einen Gast zu beschäftigen — doch es genügte, wenn sie aus dem Augenwinkel die bittere Erscheinung von Theodore sah, der sich schon genügend zerschmetterte. »Klar.«
🗝₊˚⊹ ✧ ⌛️
Finch sah sich in ihrer Bar um, als sei diese ein Museum.
Valorie gestikulierte vage über ihre Schulter. »Also, wenn du müde sein solltest, habe ich auch nichts dagegen, wenn wir uns schlafen legen würden...«
»Oh, also müsst ihr auch schlafen?«
»Wir haben tatsächlich einige menschliche Bedürfnisse, ja.« Und Valorie war elendig erschöpft. Sie führte die Dame von ihrer Bar in einen Nebenraum, wo die Tische klein und rund waren, die Wände verziert und Zimmerpflanzen in den Ecken sprossen. Ein massiver Holzschrank stand auf der anderen Seite und die Scheiben verschlossen Dekoration — größtenteils leere altmodische Weinflaschen.
An der schmalen Wand war ein Vorhang angebracht, der eine Tür versteckte. Valorie stieß sie halbherzig auf, um einen Einblick auf ihren Privatbereich zu gewähren — wo neben Bett und Kommode kaum Platz für mehr war. Ein Sessel stand in der Ecke; ein Spiegel hinter ihm. Auf beiden Seiten des Betts waren Nachtschränke gequetscht, die mit Büchern überladen waren. »Ich habe leider kein Gästezimmer. Daher gibt es auch nur ein Bett. Ich hoffe, du kannst dich trotzdem wohlfühlen.«
»Blockiere ich jetzt dein Bett?«
»Ist schon gut. Ich schlafe nebenan.« Das würde Valorie schon überstehen — hoffte sie. Richter waren eigentlich dazu angehalten, ihren Bedürfnissen vollumpfänglich nachzugehen, damit ihre Launen keine Auswirkung auf ihr Urteil hätten. Aber dies waren andere Bedingungen.
»Du kannst doch auch im Bett liegen.«
»Ich würde eher ungern neben dir schlafen.«
»Ich verstehe das. Aber andererseits, was soll passieren? Wenn du denkst, dass ich dir etwas antun würde, liegst du definitiv falsch. Davon ab... Ihr könnt doch eh nicht sterben.«
Woher auch immer Finch diese Information hatte — das stimmte nicht. Valorie konnte sehr wohl sterben. Und das auch durch die Hand ihrer Gäste. »Guter Punkt«, sagte sie dennoch. »Aber ich sehe mich gezwungen, professionell zu bleiben.«
»Selbstverständlich, okay.« Finch schaute auf das Bett, ging dann einen Schritt näher. »Schläfst du dann auf dem Boden?«
»Ich kriege mir schon ein gemütliches Lager aufgebaut. Das soll nicht deine Sorge sein.«
»Aber das ist dein Bett. Da schlafe ich doch lieber auf dem Boden. Das fühlt sich unfair an.« Finch starrte den Nachttisch an, als sei dieser giftig. »Bist du dir sicher? Würde das wirklich die Distanz zwischen uns wegnehmen? Die körperliche Distanz, vielleicht. Aber doch nicht die Emotionale.«
»Ich bin körperliche Nähe nicht gewohnt.« Valorie lehnte sich an die Tür. »Ich glaube, sobald ich sie erhalte, kann ich sehr voreingenommen werden.« Ihre Haut schrie nach zärtzlichen Berührungen.
Benebelt in der Zuneigung, die Finchs zuvorkommende Versuche bereits schenkten, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu distanzieren.
Ein Richter sollte nicht in seinem Urteil beeinflusst sein.
Sie waren nicht perfekt — und sollten es niemals werden — doch noch mehr Fehler konnten sie sich nicht leisten.
Finchs gieriges Schweigen war voller Neugier... Oder Mitleid. Die Frau hatte sich zurückgelehnt und ein Samen der Unsicherheit erwachte in Valories Brust zum Leben.
»Ich dachte du wirst nicht mein Urteil aussprechen, sondern dein Kollege«, sagte Finch schließlich.
»Das stimmt.«
»Ich will dich zu nichts zwingen. Ich fände es nur Scheiße, wenn ich mich in deinem Bett breit mache und du auf dem Boden pennst. In deinem Zuhause.«
Valorie wusste darauf keine Antwort mehr. Vielleicht hatte der Wahnsinn der Müdigkeit sie erreicht, doch sie ließ ihren Körper handeln, während ihr Verstand längst ruhte.
Es war befremdlich, neben einem Fremden zu liegen — besonders einem Gast... Einem Mörder. Doch die Anwesenheit legte sich über sie wie eine Decke über Valorie und sättigte ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sicherheit.
Träume von Wind und Wolken, die an Finchs Strähnen vorbeiführten, füllten ihren Geist, während sie sich wagte, zu schlafen.
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