Kapitel 18 - Zu einem ewigen Leben
Valorie versuchte sich Finchs Gesicht einzuprägen.
Als beide Frauen vor dem Spiegel im Flur standen, fühlte sie sich an ihre erste Begegnung erinnert. Ihr Spiegelbild fühlte sich an wie ein Schatten — besonders hinter dem strahlenden Schein von Finchs Haar.
Finch zitterte — vom tödlichen Reh blieb tatsächlich nur der Eindruck eines verängstigten Kitz'. Ihre Reflexion war eine Lüge. Sie schob die langen Strähnen auf ihrem Kopf zurück. »Ich würde dir gern vertrauen« Dass hinter diesem Satz ein Aber folgte, versetzte Valorie einen Stich ins Herz. Finch hauchte: »Aber ich erkenne mich selbst gerade nicht wieder.«
»Du gehst nicht allein, Finch. Ich bleibe hier und warte, bis du weg bist«. Valorie öffnete die Spiegeltür. Ein Gang grub sich durch die Wand. Vom Nebel umhüllt wurde alles Licht getilgt. Die gelben Lampen blendeten auf der Trübung. »Du musst einfach nur dort durchgehen. Du bekommst nichts mit und wenn du aufwachst, bist du ein Richter.«
Oder so. Valorie hatte keine Ahnung, ob sie das Richtige versprach. Sie wusste nur noch, dass der Taktgeber sie damals in ihre Arbeit eingeweiht hatte.
Finch knackte mit ihren Fingergelenken. »Aber ich werde mich an nichts erinnern? Also nicht mal Fetzen?«
»Leider nein.«
Finch wankte zur Seite. Sie schaute in den Bar-Bereich, wo Theodore auf einem Hocker saß. Dann sah sie wieder zu Valorie. »Du arbeitest für ein Monster? Der Taktgeber ist ein Monster? Ich werde für ein Monster arbeiten?«
Theodore reckte den Hals. »Willst du es dir anders überlegen, Finch? Niemand zwingt dich.«
Dieses Mal schrien nicht einmal Valories Gedanken im Protest dagegen.
Wenn sie Finch ansah, erkannte sie ein bitteres Maß an Unsicherheit. Die Entscheidung, sein Leben zu vergessen, stellte alles in Frage, was man über dieses gelernt hatte... Erfahrungen waren die Währung der Menschen.
Und das „Leben zu verlängern" — indem man ein Richter wurde — hatte einen Preis.
Besonders, da Richter kein Leben besaßen.
Valorie war sich nicht sicher, ob sie Finch das antun könnte.
Doch die Mörderin trat einen Schritt in den nebligen Gang. »Ich glaube, dass ich es will.«
»Bei dieser Entscheidung sollte man sich sicher sein«, beharrte Theodore.
»Das war ich mir nie. Ich hab selbst in der Schule gespickt.«
Ein weiterer Fakt über Finchs Leben, den sie eigentlich nicht wissen durften — doch Valorie schwörte sich, ihn zu behalten. Von dieser Frau wollte sie nichts vergessen; erst recht nicht ihre menschliche Seite, die sie zu schätzen gelernt hatte.
Sie wollte die kupferfarbenen Haare in ihr Gedächtnis einbrennen... oder sich jeden von Finchs Atemzügen in den Körper tätowieren lassen, wenn sie es könnte.
»Wir lassen dich nicht allein. Wir werden dich als Richter begleiten.«
»Das verlange ich auch. Ich wollte schon immer ein Vampir sein.« Finch hielt sich den Kopf, bevor sie einen weiteren Schritt nach vorn trat. Der Qualm erstickte sie. Neblige Wogen dämpften ihre Erscheinung; der Tod nährte sich an ihrem Verstand.
Abschiedssätze klemmten in Valories Kehle. Sie schaute ihr im Verlorengehen hinterher; der Stein in ihrer Brust wurde zu einem Eisberg.
Finch verschwand im Gang, der in die Leere führte.
Nun war die Frau an dem Ort, wo sonst nur Verbrecher hingeschickt wurden — in einem ewigen Nichts.
Theodore schlich sich in den Flur. Seine große Erscheinung hatte etwas Trauriges an sich. Er blieb im Türrahmen stehen und starrte durch Valorie hindurch, offensichtlich auf eine Reaktion wartend.
»Sie ist in der Leere«, hauchte diese nur. »Der Taktgeber hat gesagt, dass sie da hingeschickt werden muss. Erst dann kann er sie zu einem Richter machen. Angeblich.«
»Das heißt, wir waren auch mal in der Leere?«
»Scheinbar.«
»Ich erinnere mich da gar nicht dran.« Theodore stellte sich nun direkt neben sie, um in den engen Gang zu blicken, wo der Nebel die Wände wie ein Schleier behing. »Seelensauger... Hätte man dem Ding nicht einen anderen Namen geben können?«
Der Name wurde ihm wenigstens gerecht. Er nährte sich an der einzigen erreichbaren Ressource, die es im Nachleben gab: Lebendigkeit. Die Überreste der verlorenen Gäste dienten als Grundlage auf denen etwas neues entstehen konnte... Richter.
»Wenigstens haben wir es schon hinter uns, hm? Ich glaube, Finch wird froh sein, wenn sie ein Richter ist. Dann kann sie ohne Bedenken Süßigkeiten essen... Ohne Karies zu riskieren.«
»Karies?«
»Das war ihre Sorge gewesen. Sie wollte sich morgens bei mir die Zähne putzen.«
»Pah.« Er rieb sich die Unterarme. Theodores Finger wanderten an seinen Ellbogen empor unter den Ärmel seines Hemds. »Über was für einen Kram habt ihr beide denn geredet? Wieso hat sie mich auf die Truman-Show angesprochen?«
Valorie konnte nur lachen. »Scheiße, ja, stimmt. Kein Wunder dass sie dachte, dass das alles nur ein Traum ist. Sie konnte uns mit Sicherheit nicht ernst nehmen.«
»Warum sollte man den Tod ernst nehmen?«
»Warum sollte man das Leben ernst nehmen? Hauptsache man genießt es irgendwie.« Valorie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, Finch hat das Leben schon verstanden. Also versteht sie den Tod.«
Theodore nickte. Er hatte ein raues Brummen in der Stimme, als er sagte: »Ich bin ein wenig... wütend? Schockiert? Dass der Taktgeber uns angelogen hat, geht mir total gegen den Strich.«
»Du, ich verspreche dir... Das wird nicht das einzige sein, über das er gelogen hat.« Valorie schielte zu ihm auf.
»Können wir ihm gar nicht vertrauen?«
»Doch, definitiv. Ich denke, dass er nur lügt, wenn es uns gut tut. Sonst haut er immer die unzensierte Wahrheit raus.«
»Und wie- Wie geht es dir mit der gesamten Situation?«
»Du meinst damit, dass Finch ein Richter wird?«, fragte sie.
»Hm-mh.«
»Ich weiß nicht, ob es eine Strafe für mich ist, oder ein Grund der Freude.« Valorie hielt inne. »Wie geht es dir damit, dass du Finch mitgeteilt hast, dass man sich aussuchen kann, was nach dem Tod folgt? Es klang ja fast so, als würdest du nicht wollen, dass sie eine Richterin wird.«
»Ich glaube, ich war voreingenommen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe seine Finger wieder unter den Ärmel wanderten, wo er nervös seine Haut kratzte. »Ich bin aber froh, wenn sie hier ist. Ich hoffe, dass es dir dann besser geht.«
»Wenn du denkst, dass ich jetzt nur noch mit Finch Zeit verbringe und dich vergesse, liegst du falsch.« Valorie schlang ihre Hände um die Brust, als kalter Wind hinter der Spiegeltür hervorpreschte. Die Wogen des Nebels griffen wie gierige Hände nach ihr.
Theodore sah zu ihr herunter. »Ein wenig... Sorge habe ich deswegen. Aber mir ist dein Wohlbehagen wichtiger, als das.«
»Ach, Theodore«, hauchte Valorie und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Sein Arm fand benommen um ihre Schulter. »Du bist der engste Freund, den ich habe.«
Das Seufzen schien in seiner Brust zur zerschellen. »Mit Finch haben wir einen guten Richter dazugewonnen. Und du hast eine gute Chance, auf die Liebe, die du verdienst.«
»Ich habe mich in einen Gast verliebt.«
»Du hast dich in einen Richter verliebt. Da spricht nichts dagegen.«
Valorie blies die Wangen auf. »Für mich ist viel schlimmer, dass ich sie als meinen Gast vergessen werde, wenn ich mir mein Gedächtnis auslöschen lasse.«
»Tja, Valorie. Jetzt hat der Taktgeber doch bekommen, was er will. Jetzt musst du überlegen, was dir wichtiger ist. Dein Seelenfrieden oder die Erinnerungen an Finch.«
🗝₊˚⊹ ✧ ⌛️
Valories Abend hatte damit geendet, in einen entfernten Bereich des schwarzen Herz' zu gehen, wo Finchs Zuhause erbaut wurde.
Ein Garten war es geworden. Der Bereich war eingezäunt; eine märchenhafte Gartenhütte stand in der Ecke, in der sie schlafen konnte. Stühle und Tische versammelten sich auf dem braunen Stein. An einem Springbrunnen stand ein alter Karren mit Blumensträußen, die zum "Verkauf" angeboten waren.
Der Taktgeber war gekommen, um sie herumzuführen. Er hatte seine Erklärungen vage formuliert — offensichtlich darauf bedacht, auf Valories Gefühle Rücksicht zu nehmen.
Doch irgendwann hatte ihre Körperkontrolle aufgehört. Valorie hatte ihn förmlich angefleht, Finchs Einweisung in die Arbeit als Richter zu übernehmen.
Normalerweise war das die Aufgabe des Taktgebers. Doch er hatte — vielleicht, weil Valorie verzweifelt genug ausgesehen hatte — eingewilligt.
Wann Finch so weit sein würde, als Richter zu arbeiten, stand noch nicht fest. Angeblich sei sie noch nicht aufgewacht... Doch wenn sie es würde — war Valorie überzeugt — würde sie sich über den Garten freuen, in dem sie zukünftig arbeiten dürfte.
Neben den strahlenden Farben von Blüten und Sonnenlicht, wirkte Valories Bar fahl.
Ihr Bett war noch von Finchs Anwesenheit ungemacht. Die Bettdecke lag halb auf dem Boden, die Kissen waren übereinander gestapelt worden... Und die Teetasse stand ausgetrunken auf einem Buchstapel.
Sie seufzte, als sie die Tasse anhob. Ein handgeschriebener Zettel klebte unter dem Porzellan.
Als Valorie ihn abzog, wurde ein kreisrunder Abdruck des Tees sichtbar.
Das erste Mal schaute sie auf die schräge Handschrift, die eindeutige zu Finch gehörte. Die Tinte war durch das Papier gesickert und die Buchstaben so klein, dass man sie kaum voneinander unterscheiden konnte.
Wo auch immer ich landen werde, ich verurteile dich nicht für eure Entscheidung. Ich versuche mich einfach an dieses eine Zitat von Sokrates zu klammern. „Niemand kennt den Tod, es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für die Menschen ist. Dennoch wird er gefürchtet, als wäre es gewiss, dass er das schlimmste aller Übel sei."
Zumindest hat meine Mum mir das immer vorgebetet, als ich als Kind Schiss vor dem Schlafen hatte. Es hat mir nicht geholfen. Du kannst dir sicher vorstellen, dass der primitive Verstand eines Kinds nichts mit so ner hochphilosphischen Scheiße anfangen kann.
Mittlerweile verstehe ich es zwar inhaltlich, aber ich weiß, dass Sokrates nicht allwissend ist. Du weißt es wahrscheinlich besser. Ich hoffe einfach, dass mein ungewisses Nachleben positiv ist. Und ich hoffe, dass du mich nicht vergisst. Das sollst du dich nämlich gar nicht wagen. Immerhin habt ihr mich hier warten lassen. Ich hoffe ihr drei badet den Rest eures unsterblichen Daseins in Schuld.
Bevor du dich von den Geschichten der Unterwelt mitreißen lässt, erinner dich an mich.
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