Kapitel 16 - Entlarvte Lügner
Selbst, als Valorie sich über die Barhocker legte um zu lesen, blieben ihre Gedanken bei dem alten Ehepaar. Bis zum Tode verbunden zu bleiben war ein Erfolg, den die wenigsten erleben durften. Es war ein signifikanter Beweis dafür, dass Partnerschaften in die Tiefen der menschlichen Natur reichten.
Als im schmalen Türrahmen eine Person auftauchte, kam es Valorie vor, als würde sie Streifen sehen.
Finchs Gestalt passte sich perfekt an das warme Licht der Bar an. Ihre Tattoos stachen scharfkantig aus den Schatten hervor. Jetzt, wo das Schicksal der Frau schon fast feststand, würde es Valorie tatsächlich interessieren, was sie in ihre Haut gezeichnet hatte. Die Tinten-befleckten Tiefen des künstlerischen Verstands könnte sie vielleicht nicht nachvollziehen, doch es füllte sie mit Neugierde.
»Kenton ist«, begann der Gast. »Glaube ich schon fertig mit mir. Es war ein schnelles hin- und her, weil ich mich... Ich kann mich nicht-« Sie presste ihre Handballen in die Augenhöhlen. »Ich bin froh, wenn es vorbei ist. Mir geht es so beschissen.«
Valorie legte ihr Buch auf die Brust. »Soll ich nochmal die Glocke-« Wackelig stand sie vom Barhocker auf.
Finch winkte ab. »Bringt nichts. Haben wir schon probiert. Ich fühle mich nur so, als ob ich Fieber habe. Ich kann mich gar nicht konzentrieren.« Sie sackte an der Wand entlang auf den Boden. »Ich denke tatsächlich, dass ihr mich verletzen wollt. Ich weiß nicht, wie lang ich diese Gedanken verdrängen kann. Das ist alles so absurd.«
»Absurdität ist leider ein Teil des Lebens.« Valorie beugte sich vor, um Finchs Stirn anzufassen — die Temperatur war nicht auffallend, auch wenn sie von Schweiß durchnässt war.
Schwindelerregende Emotionen übermannten Valorie, als diese sich umdrehte, um Tee zuzubereiten. Noch länger konnte sie Finch nicht ansehen. Sorge dominierte tatsächlich die Trauer ihrer Trennung.
Sie konnte nachvollziehen, dass das Chaos im schwarzen Herz eine solche Wirkung auf Menschen hatte. Finch konnte nichts verstehen, das hier geschah. Manche Erkenntnisse, die sie machen konnte, waren so vage, dass sie nicht als Antworten funktionierten — sondern als weitere Fragen. Sobald man etwas nicht begreifen konnte, war man nicht in Sicherheit davor.
»Dann werde ich mich gleich mit den beiden Männern zusammensetzen und wir bestimmen dein Schicksal, hm?«, murmelte Valorie. »Du kannst dich bei mir ins Bett legen, wenn du möchtest. Wir versuchen uns zu beeilen.«
»Ich habe trotzdem solche Angst davor. Kann ich nicht- Ich will... Ich will eigentlich nicht sterben. Ich möchte so bleiben, wie ich bin. Ich kenne doch nichts anderes.« Finch klang wie ein Kind.
Als Valorie über ihre Schulter zurücksah, begegnete sie einer Gestalt, die niemals ein Mörder sein konnte. An der Wand zusammengesunken, Wange an den Holzbelag gepresst, mit nervösen Händen — Finch sah nicht so eindringlich aus, wie sie sie kennengelernt hatte.
»Finch, immer mit der Ruhe. Noch ist nichts entschieden.« Diese Worte waren unbedeutend im Angesicht des dunklen Versprechens, in das sich ihr Schicksal wandeln könnte. »Möchtest du noch etwas sagen, dass ich den anderen ausrichten soll?«
»Ich habe keine Ahnung, was ich sagen könnte. Im Endeffekt fühlt sich das Leben an wie ein dämlicher schmerzhafter, aber gutartiger Traum.«
Valorie nahm die Tasse in die Hand, bevor sie sich zu Finch hockte. »Schaffst du es hoch?«
Finch stemmte sich an der Wand hoch. Mit beiden Händen fächerte sie sich Luft zu. »Entschuldige. Ich bin total weg. Ich kriege nichts mehr mit.«
»Ganz ehrlich, das kann ich nachvollziehen, hm?«
»Danke, dass du mich bei dir so offen aufgenommen hast. Ich fühle mich wirklich geborgen bei dir.«
»Das hättest du gestern sagen können, als ich dein Richter gewesen war. Aber heute bist du Kentons Gast.«
»Also hab ich wieder meine Gelegenheit verpasst, mit dir zu flirten?« Sie fluchte lachend, bevor sie sich durch die Tür quetschte, die in Valories Schlafzimmer führte. Finch ließ sich auf das Bett sinken.
Valorie schüttelte die Decke auf. »Schaffst du es alleine? Du kannst dir gern ein Fenster aufmachen.«
»Du sollst in Theodores Bar, hat er gesagt. Ihr trefft euch da.«
»Und da werde ich auch gleich hingehen, aber ich will mich vorher vergewissern, dass du dich hier sicher fühlst.«
»Ich bin kein verprügelter Hund«, gab Finch bissig zurück.
»Das stimmt. Ich habe das Gefühl, dass du mit beiden Beinen fest im Leben gestanden hast.«
»Ich stehe nicht, ich kauere. Da berühren zwar auch beide Beine fest den Boden, aber es fühlt sich nicht sehr mächtig an.«
Valorie schüttelte den Kopf. »Du bist beachtlich-gut darin, jede Situation mit deinem Humor unangenehm werden zu lassen.«
»Na, was soll ich denn sagen? Hätte ich raushauen sollen Ich werd's schon überleben? Weil offensichtlich ist dem nicht der Fall.«
Valorie stieß die Luft amüsiert durch ihre Nase aus. Sie legte den Kopf schief. »Kannst du es hier aushalten?«
»Ja. Danke.«
🗝₊˚⊹ ✧ ⌛️
»Da bin ich.«
»Wir sind erstmal noch allein«, antwortete Theodore, der einen Tisch deckte. Er stellte präzise die Gläser hin, rückte sie in den perfekten Winkel. Immer wieder fasste er sie an und schob sie minimal zur Seite — bis er zu ihr zurücksah. »Kenton holt den alten Mann.«
»Das beantwortet deine Frage von vorhin also. Unser liebster Taktgeber kann wohl nicht aufhören, sich einzumischen.«
»Naja, wenigstens wird er seinem Namen gerecht. Den Takt gibt immer er an. Ich kann verstehen, wenn er überprüfen will, wie es läuft. Aber andererseits... Keine Ahnung, hat er nicht andere Prioriäten, oder so?«
Valorie studierte die Weinflaschen, die er ausgesucht hatte. »Warum machst du daraus so eine große Sache? Mit Getränken? Reicht es nicht, wenn wir einander unser Urteil zurufen und hoffen, dass wir uns für das selbe entschieden haben?«
»Ich wurde vom Taktgeber darum gebeten, zumindest einen Sitzplatz frei zu machen, weil er uns noch etwas zu erklären hat.«
»Das klingt... verdächtig.«
»Deswegen meine ich ja, dass etwas an dieser Sache einfach nicht stimmt.«
Valorie setzte sich auf einen der Stühle. Es war ein Kampf, es sich auf dem unnachgiebigen Kunstleder bequem zu machen. »So weit würde ich nicht gehen. Ich glaube, dass er Finchs Memoiren gefunden hat, als es schon zu spät war... Und wir uns jetzt mit Einblick auf ihr Leben darauf einigen müssen, wohin wir sie schicken.«
»Das kann auch sein«, stimmte er zu. »Darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht. Irgendwo müssen ihre Memoiren ja auch sein.«
Als die Tür aufging, drückte Theodore diszipliniert den Rücken durch. Von seiner sorglosen Art blieb ein Schatten, als er die beiden anderen Männer begrüßte.
Der Taktgeber hob kurz den Arm — und hielt tatsächlich ein Buch in seiner Hand.
Die Memoiren.
Valorie spürte, wie sie ihren Rücken immer weiter in die Lehne drückte. »Nicht wahr«, hauchte sie.
»Erstmal will ich euer Urteil wissen«, sagte er beschwichtigend und nahm neben Valorie Platz. Er klopfte ihr zweimal ermutigend auf die Schulter.
»Nun, frei, wie gesagt«, war ihre belegte Antwort.
Kenton nickte. »Zu dem Entschluss kam ich auch.«
Theodore war der letzte, der sich erlaubte, zu sitzen. Er sah nervös zwischen den Anwesenden hin und her. »Kann mich nur anschließen.«
Der Taktgeber hakte weiter nach: »Wie kam sie rüber? War sie ehrlich und offen?«
»Definitiv. Auch ein wenig spitz, manchmal. Sie war mit meinen Fragetechniken nicht ganz einverstanden«, gestand Kenton. »Aber dazu muss man sagen, dass sie nicht unbedingt gut drauf war, als sie bei mir war.«
Er legte die Hände auf den Schoß. »Was hat sie kritisiert?«
»Dass die Fragen, die ich stelle, nichts über die Seele eines Menschen aussagen. Sie war dabei gewesen, als ein anderer Gast in meine Bar gekommen ist und hat mich nach dem Urteil zusammengefaltet.«
Der Taktgeber deutete Theodore an, welchen Wein er haben wollte. Dann wandte er sich wieder an Kenton. »Hat sie sich direkt eingemischt, als der Gast da war?«
»Nein. Aber danach hat sie mir die Meinung gegeigt.« Kenton hielt inne. »Sie ist aber ein guter Mensch. Sie hat es niemals aus negativen Absichten gemacht.«
Theodore goss auch den anderen Wein ein. Er spähte aus dem Augenwinkel zum Taktgeber. »Wieso? Was steht auf ihren Memoiren?«
»Frei«, antwortete der.
»Na, dann sollte die Sache ja eigentlich schon gegessen sein.« Theodore schaffte es nicht, die Kritik in seiner Stimme zu verbergen.
Kenton zeigte erneut auf die Memoiren. »Wo hast du die jetzt eigentlich gefunden?«
»Das ist etwas, dass ich euch jetzt beichten muss«, begann der Taktgeber. »Sie waren nicht wirklich verschwunden gewesen.«
»Sag mir nicht, dass du sie die ganze Zeit hattest. Wenn das jetzt alles irgendein Superhelden-Plan von dir war-«
»Ich würde es nicht als Plan bezeichnen. Es war ein Vorgang. Und der ist von größter Wichtigkeit.«
Theodore schielte zu ihr. Valorie konnte tausend Worte aus seine Augen lesen. »Wofür?«
Der Taktgeber drehte das Weinglas auf dem Tisch. »Für einen sehr eigennützigen Zweck im schwarzen Herz. Und ich glaube, dass Finch die richtige Person ist, die dafür einstecken kann.«
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