Sehen zu müssen, wie Finch in Kentons Hände wanderte, ging mit Unbehagen einher. Er hatte eine professionelle Distanz in den Augen — wie Richter es sollten — und doch gelang es ihm, sie mit der Freundlichkeit eines bereits Bekannten zu empfangen.
Valorie stand vor seiner Tür und wankte zur Seite — unsicher, ob sie nun Theodore aufsuchen, oder mit ihrer Arbeit fortfahren sollte... Oder ob sie sich vor dem Taktgeber verantworten müsste, warum sie ihre Arbeit vorübergehend pausiert hatte.
Das war noch nie vorgekommen, soweit sie sich erinnerte. Er musste sich fragen, was ihre Beweggründe waren, oder — und das befürchtete sie — er ahnte es bereits. Anders als der ursprüngliche "Frankenstein", war er von der Natur seiner Schöpfungen überzeugt und kannte jedes Detail.
Valorie lief durch die Flure. Vage erinnerte sie sich, welche Route Theodore eingeschlagen hatte, um zum Büro zu gelangen. Sie folgte dem gradlinigen Verlauf der Büroabteilung, angestrahlt vom gehämmerten Gold an den Wänden.
Hitze kroch unter einer großen, schweren Tür hervor. Sie klopfte.
Die Reaktion war unmittelbar: »Ja.«
Valorie öffnete den Spalt und spähte in das Innere. »Darf ich eintreten?«
Der Taktgeber saß hinter seinem Schreibtisch im reizüberfluteten Raum. Neben ihm brannte ein Räucherstäbchen. Es verbreitete einen bitter-süßen Geruch, der als Wolke gegen den Kronleuchter krachte. »Suchst du mich endlich mal allein auf?« Sein Kopf war gehoben; die Insekten-artige, maskenhafte Mimik zu einem Ausdruck von Überraschung verzerrt. In der Hand hielt er das dünne, elektronische Gerät, mit dem er arbeitete.
»Ich glaube, ich habe einige Erklärungen vorzunehmen. Für das Pausieren meiner Arbeit.«
»Ich sage dir eins, Valorie« Er stellte das Gerät auf dem Tisch auf, um sein Kinn abzulegen. »Noch nie hatte ich einen Richter, der sich so lang geweigert hat, freiwillig mit mir zu reden. Ich mache mir schon Sorgen, dass du etwas gegen mich hast.«
»Ganz sicher nicht. Ich sehe nur« Sie schloss die Tür hinter sich. »keine Notwendigkeit darin, zu dir zu gehen. Ich meine... wozu auch?«
»Stimmt. Ich bin ja derjenige, der zu dir rennen muss. Weil du dir immer wieder dein Gedächtnis auslöschen lässt und ich dir mit deiner Statistik hinterherlaufe.«
»Wieso betont ihr alle meine Vergessens-Taktik?«
»Theodore hat mich sensibilisiert, mit dir darüber zu reden.« Der Taktgeber lehnte sich zurück. »Du musst verstehen, dass ich nicht umsonst hier bin. Ich bin für euch zuständig, wenn ihr einen Seelsorger benötigt. Du musst nicht dein Gedächtnis auslöschen lassen, um mit dem Kummer des Richtens umzugehen.«
Sie lachte trocken. »Was? Soll ich wie Theodore sein? Soll ich jeden zweiten Zyklus hier erscheinen, um dir die Ohren vollzuheulen?«
»Das würde mir nichts ausmachen. Theodore ist ein guter Junge. Ich bin durchaus überzeugt von seinem Urteil. Wenn du denkst, dass er mich damit stört, liegst du falsch. Er hat eine Lösung gefunden, die ihm hilft. Anders als du.«
»Ab-«
»Vergessen ist keine Lösung, Valorie. Das ist die letzte, endgültige Ressource, die euch bleibt. Ja, sie ist euch unbegrenzt zur Verfügung gestellt. Ich kann auch nachvollziehen, wieso du dein Gedächtnis auslöschen lässt. Dir muss allerdings bewusst sein, dass du damit viele Lebenslektionen verschwendest.«
»Im Vergessen liegt ein Schutz.«
»Und in Schutz liegt immer ein Gefängnis.« Der Taktgeber klopfte mit seinem Fingernagel auf den Bildschirm des Geräts. Er deutete ihr an, Platz zu nehmen.
Valorie schüttelte den Kopf. Ihr Blut krallte sich an die Venen, die es gefangen hielt. Wenn sie könnte, würde sie aus dem Raum rennen.
Stattdessen verharrte sie und hörte abermals auf den gleichmäßigen Rhythmus ihres unmenschlichen Herz'. »Was gedenkst du, mit mir zu tun?«
»Ich kann nichts tun, Valorie. Entweder du führst dein Dasein so weiter, oder du lässt andere Personen an dich heran.«
»Ich bin nicht so einsam, wie du es darstellst.« Das war eine solche Lüge, dass Valorie die Unsicherheit in ihrer Stimme schmecken konnte. Finch war der lebendige Beweis für das Verlorengehen des Alleinseins, das Valorie bislang gespürt hatte.
»Richtig, du hast Theodore. Und der schleift dich zu den anderen Barkeepern.«
»Eben.«
»Und wie selten würdest du das selbst initiieren? Du unterschätzt deine Menschlichkeit«, gab er zurück. Die Güte in seinen Augen war so situations-entfremdet, dass Verzweiflung in Valories Brust aufkeimte.
Sie atmete gegen den steinernen Kern — und gegen das stechende Brennen des Räucherqualms in ihrer Lunge. »Ich weiß, dass ich soziale Kontakte brauche. Aber ich habe schlichtweg nicht die Energie dafür.«
»Der Kontakt unter euch Richtern ist sicher. Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben.«
»Ich habe keine Angst«, keifte sie.
Er schaute sie direkt an und bleckte sich die Lippen — scheinbar darauf wartend, dass sie etwas hinzufügte.
Valorie sah nicht ein, ihm diese Genugtuung zu geben. Sie mied seinen Blick und starrte auf das gewaltige Gemälde an der Wand. Eine Mischung aus allen menschlichen Religionen verschmolzen zu einer paradiesischen Kulisse mit strahlendem Wasser, Menschen und gewaltigen Pflanzen — auf der bunten Tapete wirkte das Bild fast schon beruhigend.
»Also, Valorie« Der Taktgeber legte sein Gerät zur Seite. Er faltete die Hände. »Wieso hast du gestern eine Pause eingelegt.« Sein Tonfall zeugte von Desinteresse; als würde jede Antwort belanglos sein.
Sie gestikulierte nach vorn; ihrer Stimme fehlte es der Farbvielfalt, die sie sonst aufbringen konnte. »Du weißt es doch schon längst.«
Er schwieg.
Plötzlich musste Valorie sich doch hinsetzen. Sie krachte im Sessel zusammen und stützte ihre schweren Arme auf den Lehnen ab. »Ich bin nicht verliebt in sie, falls Theodore das behauptet hat.«
»Oh, Theodore hat mir gar nichts gesagt. Du verrätst dich selbst.« Die kleinen Kerben auf seinem Gesicht verformten sich zu Wellen. »Meine Menschenkenntnisse sind besser, als du denkst.«
»Nun, ich bin kein Mensch.«
»Weil du dich selbst wie eine Maschine behandelst. Du denkst, es ist deine einzige Aufgabe, die Gäste in deinem Umfeld mit deinem Herzschlag zu füttern.«
»Hör bitte auf.«
»Womit?« Der Taktgeber legte den Kopf zur Seite. »Du hast mehr Aufgaben, als deine Arbeit. Du sollst dich auch um dich selbst kümmern. Wenn wir Maschinen hier haben wollen, würden wir euch Richtern nicht den Freiraum gewähren, einander kennenzulernen.«
»Hör bitte auf. Ich liebe meine Arbeit. Wenn ich keine Kraft dafür hätte, würde ich mir nicht so viel Mühe geben, den Gästen zuzuhören. Ich würde gar nicht erst versuchen, ihnen ihre Lebensfreude wiederzugeben.«
»Du wärst im Leben viel besser aufgehoben, als hier«, stellte er fest — und das konnte sie nicht abstreiten. »Und gerade das ist der Grund, wieso wir dich hier so brauchen.«
»Ach?«, platzte aus ihr heraus. »Ich dachte dieses Gespräch bewegt sich jetzt in die Richtung, dass du mich feuern willst, weil ich meiner Arbeit als Richter nicht mehr nachgehen kann.«
»Absolut nicht. Als Richter vertraue ich dir. Die Frage ist nur, ob du nicht deine Seele immer mehr umbringst.«
Als Richter vertraue ich dir. Eine schmerzhaftere Aussage hätte er nicht tätigen können.
Valorie schaute auf ihren Schoß, als sie gestand: »Ich habe einen Fehler gemacht, bei meinem letzten Urteil. Einen sehr großen. Ich habe mich von meinen Gefühlen irritieren lassen und einen Gast in das Verschwinden geschickt.«
Sein Starren war plötzlich voller Enttäuschung... oder Leere — wobei beides gefährlich nah nebeneinander lag. »Und wie gedenkst du, daraus zu lernen? Wie willst du den Fehler zukünftig vermeiden, wenn du es vergisst.«
Ein Tonfall wie eine Klinge.
Valories Kehle drohte aufgeschnitten zu werden, als sie schluckte. »Es tut mir so leid.«
»Scheinbar sollte ich froh sein, dass du nach der Aktion eine Pause eingelegt hast. Wer weiß, was du noch angestellt hättest?«
»Finch...« Der Name kribbelte in ihren Mundwinkeln, wie das Zurückhalten eines herzhaften Lachens. »Finch hat mich danach zur Vernunft gebracht.«
»Soll ich jetzt dankbar dafür sein, dass du für einen Gast Gefühle entwickelt hast?«, fragte er spöttisch. »Das ändert nichts am Fakt, dass das nicht hätte passieren sollen, Valorie. Darüber müssen wir jetzt reden.« Er senkte den Kopf; Faust an die Stirn gepresst. »Weißt du, was es über dich aussagt, wenn du dich unmittelbar an die nächste Person gewöhnst, die dir Nähe zeigt?«
»Ich bitte dich, so verzweifelt bin ich auch nicht.«
»Hör auf damit, Valorie. Du bist menschlich. Du. Warst. Ein. Mensch. Das hat absolut nichts mit Verzweiflung zu tun. Du unterschätzt, wie schwer dein Leben gewesen war.«
»Ich erinnere mich leider nicht an mein Leben.«
»Manchmal werden wir von Erinnerungen geplagt, auf die wir keinen Zugriff haben. Das ist eine Regel des Lebens.«
»Wenn ich schon diese Erinnerungen nicht behalten darf, wieso sollte ich es dann während der Arbeit tun?«
»Genug damit, Valorie. Wir drehen uns im Kreis.« Er schaute auf. »Hast du dein Urteil über Finch gefällt?«
»Ja. Frei.«
»Wir warten noch auf Kenton. Dann setzt ihr drei euch zusammen.« Er zeigte auf sie. Seine Körperhaltung wandelte sich in unbestreitbare Dominanz — die Ausstrahlung eines Herrn. »Und du denkst bitte darüber nach, wie du deine Arbeit weiterführen willst. Sobald Finchs Urteil ausgesprochen ist, erlaube ich dir, deine Erinnerungen zu löschen, wenn du das möchtest. Aber denk darüber nach, ob das wirklich das Beste für dich ist.«
»Ich habe keine Ahnung, was das Beste für mich ist. Ich habe keine Ahnung, was ich tue.«
»Du wirst dein Gleichgewicht finden. Du wärst nicht hier, wenn ich dir das nicht zutrauen würde.«
Ein Schluchzen verkeilte sich in ihrer Brust — Valorie zwang sich jedoch, seinem Blick zu begegnen. »Ich habe einen Gast ungerecht verurteilt. Was für Konsequenzen erwarten mich dafür?«
»Schuld«, biss er hervor.
Das war nichts Neues — und die Schuld würde nur schlimmer werden, jetzt, wo Valorie wusste, dass sie nicht einmal bestraft werden würde. »Wünscht du, dass ich meine Arbeit vorläufig nicht fortsetze? Soll meine Pause noch länger andauern?«
»Ich erlaube dir zu Arbeiten, wenn du dich bereit fühlst. Aber vorerst redest du mit Theodore. Ihr beide braucht Ablenkung, ehe ihr klar denken könnt.«
»Danke für das Gespräch.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist immer noch, wieso ich überhaupt hier bin.«
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