
Kapitel 23
Wir sind uns nahe. Viel näher, als wir uns beim Tanzen bisher gekommen sind.
Es fehlen nur noch Zentimeter, die wir uns nach vorne lehnen müssten, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Meph hat sich zu Helene, die gerade zu ihm getreten ist, hinuntergebeugt und ihr dann sein Getränk in die Hand gedrückt.
Und jetzt geht er, verlässt den Club durch einen Seiteneingang, der sonst größtenteils von Rauchern genutzt wird.
Wo will er hin?
Sein Verschwinden ist wie ein Schwall kaltes Wasser in meinem Gesicht, und zu behaupten, dass ich nur einen Satz rückwärts mache, wäre eine Lüge. Es war ein wirklich großer Sprung.
Eine irritierte Falte entsteht auf Toms Stirn. „Hast du es dir anders überlegt?", fragt er, die Hände noch immer halb erhoben, als würde er damit rechnen, dass ich mich jeden Moment zurück hinein stürzen müsste.
„Und wie", bringe ich heraus. Was ist nur in mich gefahren? Bin ich gerade drauf und dran gewesen, den Mann zu küssen, von dem ich weiß, dass er in einer Beziehung ist – wenn auch in einer furchtbaren? Und macht dieser letzte Fakt das nicht sogar noch schlimmer?
Was auch immer die Antworten auf meine Fragen sind, mein Reiz am Verbotenen ist gerade massiv abgeflacht. Ich will das hier nicht länger, ich will nur noch möglichst viel Abstand zwischen mich und Tom bringen – und Meph hinterher.
Ich finde ihn genau dort, wo ich ihn vermutet habe. In dem kleinen Hinterhof hinter der Tür, wo sich normalerweise die Raucher aufhalten. Heute allerdings ist kein Raucher da, Meph ist der Einzige, der in der Kälte steht.
Es mag auf den Sommer zugehen, aber die Nächte sind immer noch bitterkalt.
Ich schlinge meine Arme um mich, um den Streifen nackte Haut über meinem Hosenbund zu schützen.
„Was machst du hier draußen?", frage ich und fange bereits an zu bibbern.
Meph dreht sich zu mir herum, im gleichen Augenblick, wie die langsame Schwingtür hinter mir ins Schloss fällt. Seine Augen leuchten rot.
Ich schrecke zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das gesehen habe, aber es gibt irgendeinen menschlichen Urinstinkt, der es einfach nicht gut findet, wenn jemand rot leuchtende Augen hat.
„Meph – was –"
Bevor ich allerdings mehr als zwei bibbernd gestammelte Worte herausbringen kann, verändert sich noch mehr. Die Schatten auf dem Hof ziehen sich um Meph herum zusammen, umarmen ihn und formen beinahe so etwas wie einen schwarzen, wabernden Umhang um ihn herum.
Das dauert etwa zwei Sekunden.
Dann explodieren die Schatten nach außen, verteilen sich auf völlig widernatürliche Art und Weise im Hof. Jedenfalls erscheint mir ihre Erscheinung widernatürlich, bis mir auffällt, dass sie eines gemeinsam haben: Sie allel deuten auf Meph.
„Ich bin hier, um das zu holen, was mein ist", verkündet mein Mitbewohner, der gar nicht mehr so viel Ähnlichkeit mit meinem Mitbewohner hat, sondern eher mit dem ... was mein Mitbewohner zu sein behauptet hat.
Kleine Flammen lodern an den Rändern des Hofes empor und mir ist, als hätte ich das alles irgendwann schon einmal gesehen. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, wann es gewesen sein soll, etwas blockiert meine Gedanken.
„Was dein ist?", quieke ich, auch wenn ich sehr gut weiß, was er meint. Er will meine Seele. „Ich habe noch lange nicht anerkannt, dass du der beste Mitbewohner der Welt –"
„Du hast dich hinters Licht führen lassen."
Meph tritt einen Schritt auf mich zu und die Schatten folgen ihm.
„Es ging nie darum, dir ein guter Mitbewohner zu sein. Niemals."
Zum wiederholten Mal an diesem Tag bleibt mir die Luft weg und ein verräterisches Brennen will sich in meine Augen schleichen, auch wenn ich es energisch zurückdränge. „Worum ging es dann?"
Wie es aussieht, werde ich gleich meine Seele verlieren. Vielleicht sollte ich weinen dürfen.
„Es ging um die Sünde, Nele."
Jetzt steht Meph direkt vor mir, sodass ich zu ihm aufsehen muss. Seine roten Augen brennen auf mich hinunter und die Hitze der Flammen an den Hofrändern flutet über meine Haut, dort, wo sie nicht durch Kleidung geschützt ist.
„Um die originalen Sünden."
„Aber warum?", quieke ich. „Warum diese Lüge?"
„Weil deine Seele sich mir verwehrt hat!" Mephs Worte verschwimmen mit dem Zischen der Flammen. „Mit deinem Handschlag hast du sie mir verkauft, aber ich konnte sie nicht an mich reißen!"
„Warum?"
„Weil sie zu rein war." Er spuckt das Wort aus wie eine üble Beleidigung oder das schlimmste Schimpfwort, das ihm eingefallen ist. „Ich durfte sie nicht haben. Also musste ich sie verderben."
Mein Gehirn ist eindeutig im Kampfmodus und ich werde nicht einfach wieder klein beigeben. „Und mit den originalen Sünden meinst du ..."
„Die Todsünden." Da ist es wieder, das hungrige Lächeln auf seinen Lippen, doch dieses Mal ist eindeutig noch Triumph darunter gemischt. „Und ich hatte Erfolg."
Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein, das ist unmöglich. Sind die Todsünden nicht so etwas wie Mord? Ich habe unmöglich etwas so Abscheuliches getan.
„Völlerei", beginnt Meph aufzuzählen. „Das war einfach. Ich musste dich nur ein paar Mal bekochen, dir etwas von meinen Kochkünsten zu erzählen, schon konnte ich einen Haken hinter diese Aufgabe setzen."
Er beginnt, im Hof auf und ab zu gehen. „Aber dann wurde es schwieriger, nicht wahr? Du mit einer ätzenden Freundin und einer ätzenden Familie, um die du dich beide aufopferungsvoll kümmerst. Wo könnte ich da nur einen Ansatzpunkt finden?" Er fährt zu mir herum, und dieses Mal wirkt sein Lächeln eher, als würde er die Zähne blecken. „Aber da gab es ja glücklicherweise noch deine verhasste Stelle als Kellnerin. Zorn. Das war einfacher als ich dachte, und es zeigte mir, welches Feuer du eigentlich in deinem Inneren versteckst."
Es ist, als seien aus meinen Füßen Wurzeln gesprossen und würden mich an Ort und Stelle festhalten. Ich kann mich nicht rühren – wobei ich nicht glaube, dass das etwas mit Meph zu tun hatte. Der Schock hielt mich an Ort und Stelle.
„Dann wusste ich, was ich zu tun hatte. Die richtigen Fragen, die die richtigen Gedanken in deinem Kopf angefeuert haben, und schon haben wir uns in einer Kettenreaktion befunden."
Er kommt wieder vor mir zum Stehen, Hitze flutet mir entgegen.
„Neid gegenüber der Schwester, die es viel besser als du schafft, ihre emotionalen Grenzen abzustecken. Trägheit, resultierend aus der emotionalen Belastung des Tages, gefördert durch das Gefühl, dass dir einmal jemand die richtige Menge an Aufmerksamkeit schenkt. Und dann Stolz, wenn du es endlich schaffst, deiner sogenannten besten Freundin zu sagen, dass sie genau das nie getan hat. Gefolgt von deinem Einstehen gegenüber deinen Eltern, damit sie dich als eigenständige Person wahrnehmen." Meph lächelt mich an. „Fünf Todsünden, und das nur an drei Tagen. Das ist eine Leistung, Nele Mirkos. Und die sechste kommt noch."
„Aber ...", wende ich schwach ein, „alles, was du jetzt gesagt hast ... das sind keine schlechten Dinge für mich gewesen. Von meiner Arbeit vielleicht einmal abgesehen. Das ... waren gute Dinge."
Mephs Lächeln wird schief, aber dadurch nicht weniger bedrohlich. „Darum geht es nicht, Nele. Es sind Sünden, wir müssen uns an das halten, was als Sünde definiert ist."
Ich verziehe die Lippen. „Dann weiß ich auch, was das Letzte ist. Toms Auftritt. Wollust, habe ich nicht recht? Triebgesteuerte Lust."
Zu meiner Überraschung verzieht Meph ebenfalls den Mund und die Flammen lodern für einen Moment etwas weniger hoch. „Ich hatte gehofft, dass wir das aussparen können", zischt er. „Wollust ist keine Sünde. Ich habe sie gestrichen."
Das bringt mich aus dem Konzept. Ja, es geht hier gerade um meine Seele, die ich wirklich gerne retten würde und alles, aber – „Was soll das heißen, du hast sie gestrichen?"
Er schenkt mir einen bitteren Blick und seine Augen sind nicht einmal mehr rot. „Auch als Teufel muss man mit der Zeit gehen, okay? Ich will Leute nicht länger dafür verurteilen, mit wem sie Sex haben. Das könnt ihr schön unter euch ausmachen. Können wir zurück zum Thema kommen?"
Die Flammen lodern auf und Mephs Augen werden wieder rot.
„Habgier", dröhnt seine Stimme über den Platz. „Wenn du das dein nennen willst, was eigentlich anderen gehört."
„Aber ich habe nicht – oooh." Ich muss mich selbst unterbrechen, denn genau das ist es, was ich vorhin gedacht habe. Dass ich für einen Augenblick das haben wollte, was Renée hat, dass ich es genießen wollte, wie sie es genossen hat.
„Und das war der schwerste Part", grollt Meph. „Das Geld, das ich dir schenken wollte – du hast es abgelehnt. Den Job, den ich dir organisieren wollte – du wolltest ihn nicht. Es war ja klar, dass du am Ende den Trottel von einem Freund deiner ehemaligen Freundin küssen musstest."
Ich horche auf.
Aber da hat Meph schon die Hand erhoben. „Mach es gut, Nele. Du hast mir einige Herausforderungen gestellt."
Er schnippt.
Nichts passiert.
Wir stehen voreinander und starren uns an.
„Du solltest tot sein", sagt Meph.
„Bin ich aber nicht", sage ich.
„Schon wieder?!"
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