Kapitel 22
Es ist lange her, dass ich mir die Freizeit genommen habe, einen ganzen Abend lang einfach nur Spaß zu haben. An jedem Abend in meinem Leben gibt es normalerweise Paragraphen zu lernen, Gerichtsgänge gegeneinander abzuwiegen und miteinander zu vergleichen, Hausarbeiten zu schreiben oder Tische zu bedienen. Aber heute Abend darf ich einfach nur Spaß haben. Und vielleicht meine Schwester ein bisschen besser kennenlernen.
Meph und ich bereiten uns gemeinsam vor.
Wir entscheiden uns beide für dunkle Augen, wobei ich meinen Lidstrich weiter nach außen ziehe als Meph das tut. Und während ich das Ganze noch durch dunkelroten Lippenstift betone, geht Meph den Weg des Nagellacks und verpasst seinen Fingern einen irisierenden, hypnotischen Look, der bei jeder seiner Handbewegungen sämtliche Blicke auf ihn zieht.
Ich banne meine blonden Locken in einigermaßen ansehnliche Wellen und schlüpfe das erste Mal seit langem in ein schwarzes paillettenbesetztes Oberteil, das einen Streifen Bauch freilässt und dass ich irgendwann einmal in einem Ausverkauf erstanden habe, in der festen Überzeugung, niemals den Mut zu finden, es zu tragen.
Meph dagegen kreuzt einfach nur in einem schwarzen Hemd mit einer Hose gleicher Farbe auf, aber beides sitzt an ihm, als wäre er das Model für die originalen Maße gewesen.
„Sehr dunkle Farbwahl für uns beide", stellt er fest, aber keiner von uns macht irgendwelche Anstalten, sich noch einmal umzuziehen.
„Wir gehen ja auch zusammen hin", gebe ich zu bedenken. „Da darf das ein bisschen passen."
Bevor wir gehen, lässt sich Murre von uns beiden den Kopf kraulen, ein Fakt, der Meph noch mehr überrascht als mich.
😈😈
Helene erwartet uns schon, als wir vor dem CityCat ankommen, einem Club, der beinahe tagtäglich randvoll ist mit Studierenden. Nur ich war noch nicht da, aber das wollen wir ja gerade ändern.
Meine kleine Schwester trägt einen strahlend weißen Einteiler und wir müssen alle lachen, als wir unsere gegensätzliche Kleiderwahl realisieren.
„Wie Engelchen und Teufelchen", scherzt sie. „Und Nele, du mit deinen Pailletten als Mittelweg zwischen uns beiden."
„Da der Hintergrund schwarz ist, würde ich doch behaupten, es ist recht eindeutig, auf welcher Seite sie steht", bemerkt Meph und hält Helene seine schlanke Hand hin. „Freut mich, dich kennenzulernen, Helene. Ich bin Meph."
„Meph", echot sie und blickt mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir herüber. „Wie der Teufel aus diesem Uralt-Theaterstück von Goethe?"
Meph lässt die strahlend weißen Zähne aufblitzen. „Genau wie dieser."
Ich schäme mich wieder einmal dafür, wie lange ich gebraucht habe, um dieselbe Querverbindung zu ziehen.
„Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich ihn mitgebracht habe", wispere ich Helene zu, während wir uns in die Schlange vor dem Einlass einreihen. „Er ist mein neuer Mitbewohner und er ... ich ..."
„Ihr habt was miteinander, ich versteh schon." Helene zwinkert mir zu. „Ich werfe dir absolut nichts vor, Schwesterherz."
„Wir haben nichts miteinander!", protestiere ich. „Ich mag ihn einfach nur, er versteht mich."
„Dann werdet ihr irgendwann –"
„Lass uns dieses Gespräch einfach nicht weiterführen, ja?"
Sie grinst, aber ich muss ebenfalls lachen, was einen pikierten Blick von Meph nach sich zieht, der bis eben über die Menge am Einlass gespäht hat, als würde er nach etwas oder jemandem Ausschau halten.
„Mir wurde gesagt, ihr wärt zerstritten", meint er trocken.
Damit gelingt es ihm erfolgreich, dass Helene und mir das Lachen auf den Lippen erstirbt und wir uns betreten ansehen. Es ist erst einen Tag her, aber ich habe das Gefühl, als hätte die Welt sich seitdem unzählige Male um die eigene Achse gedreht und alles neu sortiert.
„Wir waren gestern zerstritten", sage ich schließlich und ein Lächeln erscheint auf Helenes Lippen.
„Ich habe daheim angerufen ...", erkläre ich ihr im Flüsterton, während Meph wieder dazu übergeht, sich einen Überblick über die Anwesenden zu verschaffen.
Helene versteift sich. „Und?"
„Und ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht bei ihnen einziehen will und werde."
Sie nickt langsam. „Das ist gut. Wie haben sie es aufgenommen?"
„Ich hatte nur Papa am Telefon, aber er war ... wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er war erleichtert."
Aber Helene zuckt nur mit den Schultern, während sie ihren Ausweis aus der Tasche kramt, weil wir fast am Eingang angekommen sind. „Das sind Väter und ihre Töchter. Weißt du, sie sagen nicht viel, aber sie wollen dann doch immer das Beste für ihre Kleinen."
Ich stoße sie spielerisch in die Rippen. „Woher willst du so viel Lebensweisheit haben? Du bist einundzwanzig!"
Sie schnaubt. „Ich habe jedenfalls keinen neuen Mitbewohner gebraucht, um mich zusammenzureißen und mal ein bisschen Stolz zu zeigen."
Es ist der ultimative Aufhänger, um einen Streit zu beginnen. Ich könnte ihr die Meinung sagen und sie dafür zurechtweisen, dass sie mir unterstellt, das nicht ohne äußeren Anreiz hinbekommen zu haben. Ich könnte sie noch immer als egoistisch betiteln, weil sie mich mit der Entscheidung gegenüber unseren Eltern allein gelassen hat.
Aber in diesem Moment entscheide ich mich dagegen. Stattdessen hake ich mich bei meiner Schwester unter, als wir gemeinsam den Club betreten.
Ich habe vergessen, wie großartig tanzen ist. Zwar habe ich oft auf Kopfhörer auf, während ich an meinen Unisachen arbeite, aber das hier ist etwas anderes.
Hier vibriert der Rhythmus durch meine Adern und lässt mich Dinge tun und fühlen, zu denen ich im normalen Alltag einfach keinen Zugriff gehabt hätte.
Zu Beginn halten Helene, Meph und ich uns nah beieinander, aber im Laufe des Abends verlieren wir uns immer wieder temporär aus den Augen, während wir uns unterschiedliche Partner zum Tanzen suchen und doch an den unterschiedlichsten Ecken des Clubs wieder zusammenfinden.
Es ist elektrisierend und befreiend und ich weiß nicht, ob ich mich schon jemals so ungebunden gefühlt habe wie an diesem Abend. Nicht wenig davon habe ich Meph zu verdanken, und ich weiß es.
Sei es, weil er mir zugehört hat oder weil er die richtigen Fragen im richtigen Moment gestellt hat. War das wirklich nur, weil er mir das Geständnis entlocken will, dass er der beste Mitbewohner aller Zeiten ist? Ist ihm meine Seele einen solchen Aufwand wert?
An dieser Stelle bin ich noch mit meinen Gedanken, als ich zwei vorsichtige Hände an meiner Taille spüre, die beginnen, meine Bewegungen zu leiten. Die Berührung ist fragend, keine Forderung, aber ich gehe mit ihrer Führung mit und bald tanze ich mit dem Fremden, als hätte ich es nie anders gekannt.
Als ich mich zum Ende des Liedes allerdings zu ihm umdrehe, hätte nicht viel gefehlt und ich wäre zurückgezuckt.
Es ist Tom.
Tom, der Freund von meiner Freundin – jedenfalls habe ich sie bis heute Mittag so genannt – Renée. Sie ist allerdings zumindest auf die Schnelle nirgends zu sehen.
„Hi, Tom", begrüße ich ihn, unsicher, ob er mich vorher erkannt hat.
Aber als sich ein schiefes – und, wie ich zugeben muss, unheimlich attraktives – Lächeln über sein Gesicht ausbreitet, weiß ich, dass er mich sehr wohl erkannt und auch ausgesucht hat.
„Nele", sagt er da auch schon, zieht die Vokale meines Namens in die Länge wie einen Kosenamen, den er lange nicht mehr gehört hat und an dessen Klang er sich erst noch erinnern muss. „Dich hätte ich hier nicht erwartet."
Die Hitze und der Puls der Musik stecken noch in meinem Kopf. Das ist die einzige Erklärung, warum ich tatsächlich „Es scheint dir aber nicht allzu viel auszumachen" antworten könnte. Denn das ist offensichtlich völlig geisteskrank.
In geringer Entfernung sehe ich Meph stehen und Tom und mich mustern, doch er unternimmt keinerlei Anstrengungen, einzuschreiten.
„Was tust du hier?", frage ich, als Tom mich weiterhin nur mustert, als wäre ich ein Kunstwerk, das er noch nie wirklich wahrgenommen hat.
„Tanzen, wahrscheinlich dasselbe wie du auch", antwortet er und seine Augen glitzern. „Ich kann immer etwas Ablenkung gebrauchen, Abwechslung hält das Hirn auf Touren, weißt du."
Ich nicke vage.
Bisher habe ich selten Zeit mit Tom verbracht, ich wurde eigentlich immer von Renée in Beschlag genommen. Aber heute kann ich nicht verbergen, dass er eine unleugbare Anziehung auf mich ausübt, mit den dunklen Haaren und dem Blick aus grünen Augen, der sich in meinen bohrt und mich bis zu meinen Fundamenten zu durchschauen scheint.
„Bin ich dir denn Abwechslung genug?", frage ich zurück.
„Sag du es mir."
Da ist ein Sog, dem ich mich kaum erwehren kann. Etwas zieht mich zu diesem Mann hin, ganz plötzlich und ohne, dass dort vorher jemals etwas gewesen wäre. Vielleicht ist es die Atmosphäre.
Vielleicht ist es die Tatsache, dass Renée und ich ab jetzt wohl getrennte Wege gehen werden.
Als ich bei diesem Gedanken ankomme, weiß ich, dass er derjenige ist, der die Wahrheit am meisten trifft. Ich will diesen Mann kennenlernen, der ein nicht unbeträchtlicher Teil des Grundes dafür war, dass Renée und ich den Kontakt abbrechen werden.
Und ... wenn ich ganz ehrlich mit mir bin ... dann will ich für einen Moment nur das erleben, was Renée erlebt hat und was sie dazu bringt, immer wieder zu Tom zurückzulaufen.
„Ich bin alles, was du an Abwechslung heute Abend brauchen wirst", murmele ich und wieder lächelt Tom.
„Dann bin ich überzeugt."
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