Kapitel 15
Das Salzteigklingelschild fühlt sich heute rau und kratzig unter meinen Fingern an, der Klingelton erscheint mir schrill und kündigt unwiderruflich meine Anwesenheit an. Jetzt kann ich mich nicht mehr umdrehen und weglaufen – nicht, dass ich das will, erinnere ich mich selbst im scharfen Tonfall. Ich bin gerne hier. Ich helfe gerne.
„Nele!" Mein Vater hebt die Arme und reißt mich an sich. Schlagartig geht es mir ein kleines bisschen besser. Er hat sich selbst wiedergefunden, ganz im Gegensatz zum letzten Mal, als ich hier war. Sofort rinnt mein Misstrauen wie Schmelzwasser aus mir heraus.
Vielleicht wollten sie ja wirklich einfach nur, dass ich hier bin, weil sie zur Abwechslung einmal gute Neuigkeiten haben. Vielleicht hätte ich mir gar nicht solche Gedanken machen müssen.
„Was macht das Jura-Studium?", fragt mein Vater so laut, als wolle er alle Nachbarn daran erinnern, dass er eine Tochter hat, die etwas Ernsthaftes macht.
„Es läuft", antworte ich vage und mit einem schmalen Lächeln. Mephs blöder Kommentar hängt mir hinterher, aber ich werde dem jetzt keinen Raum in meinem Hirn mehr geben, wo der Teufel sowieso schon einen ungebührlich großen Platz einnimmt. Deswegen ist es vielleicht auch ein gewisser Anteil Trotz, der mich anhängen lässt: „Ich finde das Fach unglaublich spannend. Es geht ja irgendwie darum, wie wir miteinander leben wollen."
„Das ist mein Mädchen", dröhnt mein Vater voller Stolz und schiebt mich in den Hauseingang hinein. „Aus dir wird noch Großes werden."
Aber kein Druck, nicht wahr?
„Wie geht es Mama?", frage ich argwöhnisch, während ich dank der Hand meines Vaters auf meinem Rücken einen Hauch schneller durch den Flur bugsiert werde, als das meiner gewöhnlichen Schrittgeschwindigkeit entsprechen würde.
„Ach, weißt du ...", ist seine einzige Antwort, und schlagartig ist meine aufkeimende gute Laune verschwunden. Allein die Tatsache, dass er den Satz nicht beendet, sagt mir alles, was ich wissen muss.
Wie auch das letzte Mal wartet meine Mutter im Wohnzimmer auf mich. Sie sitzt in ihrem angestammten Sessel und hat eine flauschige Decke über ihre Beine gelegt. Wie auch das letzte Mal steht sie nicht auf, als sie mich kommen sieht, aber immerhin breitet sich ein Lächeln über ihr ausgezehrtes Gesicht aus und sie hebt die Arme, um mich zu begrüßen, auch wenn ich sehen kann, wie anstrengend das für sie ist.
Gehorsam lasse ich mich von meiner Mutter in eine Umarmung ziehen und es geht mir wie mit meinem Vater. Für einen Augenblick ist sie einfach nur meine Mama und sie riecht noch genau so, wie sie das früher immer getan hat. Jedenfalls, wenn ich es schaffe, den subtilen Hauch von Medikamenten zu ignorieren.
„Wie geht es dir, Süße?", fragt sie leise in mein Ohr und es ist so widersinnig, dass sie das fragt, bevor ich es tun kann, dass ich beinahe lachen muss.
„Es geht mir nicht schlecht", antworte ich, ohne mich aus der schwachen Umarmung zu lösen. „Ich habe endlich einen Mitbewohner gefunden und wir ..." Wie soll ich das jetzt sagen? Das war eine dumme Idee, diesen Satz überhaupt angefangen zu haben. „Wir verstehen uns gut", schließe ich etwas lahm.
Ich lege ja sowieso keinen Wert auf meine Seele, schätze ich.
Meine Mutter verzichtet auf eine verbale Antwort, drückt mich aber noch einmal fester an mich, bevor ich mich schließlich löse.
„Steht etwas Besonderes an?", frage ich dann. „Es ist ungewöhnlich, dass ihr eine Nachricht schreibt."
Meistens weiß ich selbst, wann es wieder einmal Zeit ist, bei den beiden aufzutauchen.
In diesem Moment kommt mein Vater mit einem Teller selbstgebackener Mandelkekse wieder aus der Küche. Seit Jahren halte ich an dem Glauben fest, dass es nicht wirklich seine – wenn auch ebenfalls grandiose – Pizza ist, die die Leute immer wieder in sein Restaurant zurückkommen lässt, sondern die kostenlosen Kekse, die er am Ende verteilt.
„Uuuh", mache ich begeistert und schnappe mir einen, bevor er mir sanft auf die Finger schlagen und mich von dem Diebstahl abhalten kann.
„Es gibt da tatsächlich etwas, worüber wir sprechen sollten", sagt mein Vater, während ich noch damit beschäftigt bin, die mandelige Süße auf meiner Zunge zu genießen und meine puderzuckrigen Hände unauffällig an meinem Pulli abzuklopfen.
Ich nicke dennoch.
„Wir warten aber noch kurz, bis Helene da ist", ergänzt meine Mutter viel zu schnell.
Schlagartig ist es mit meinem genüsslichen Genießen vorbei. „Ach", mache ich gedehnt. „Sie ist ja noch gar nicht hier."
Ich höre die Bitterkeit in meiner Stimme bestens und ich finde mich selbst widerlich, aber ich kann es einfach nicht abstellen.
„Sie hat gesagt, dass sie noch einen Termin von der Arbeit aus hat." Warum verteidigt meine Mutter Helene immer noch? Sie muss doch auch mitbekommen haben, dass Helene nicht unbedingt das Paradebeispiel an Unterstützung und töchterlicher Fürsorge ist.
„Achso", sage ich kühl und entscheide, dass das nicht der richtige Moment ist, um ihnen mitzuteilen, dass ich von Brian gefeuert wurde. Noch weniger will ich ihnen sagen, dass mein neuer Mitbewohner, den ich eben gerade noch gelobt habe, Schuld daran trägt.
Also esse ich weiter Kekse und unterhalte mich mit meinen Eltern über Nichtigkeiten, bis es – nach einer halben Stunde – endlich an der Tür klingelt.
„Halloooo", flötet Helene, als mein Vater ihr öffnet und sie an ihm vorbeigleitet, um das Wohnzimmer einzunehmen. „Nele!"
Tatsächlich bin ich die Erste, die heute eine Umarmung bekommt. Helene riecht nach dem Rhabarbershampoo, das sie schon immer benutzt hat, und nach etwas anderem, was ich mühelos als den warmen Geruch eines Cafés identifiziere. Von wegen Arbeit.
Helenes Mähne, die einmal die gleiche Farbe hatte wie meine, aber mittlerweile in einem helleren Blond gefärbt ist, wischt mir durch mein Gesicht, als sie sich zu unseren Eltern umdreht und sie ebenfalls begrüßt.
„Es tut mir leid, dass ich es jetzt erst geschafft habe", entschuldigt sie sich und lässt sich neben mich auf das Sofa fallen, bevor sie die Mandelkekse entdeckt.
„Uuuuh", macht sie im gleichen Tonfall wie ich eine halbe Stunde früher. „Papa, du bist großartig! Ich weiß gar nicht, wie lange es her ist, dass ich welche von deinen Keksen hatte!"
Sie steckt sich einen der Kekse in den Mund und verdreht genüsslich die Augen.
Mir dagegen steckt etwas anderes im Mund, und zwar eine ganze Reihe schnippischer Aussagen, die ich Helene niemals so sagen würde, wie sie in meinem Kopf klingen. Ach ja, Arbeit? Erzähl mal, was hast du so gemacht in dem Café? Kellnerst du auch? gefolgt von Das wundert mich nicht, dass du lange keine von Papas Keksen mehr hattest, du bist ja nie hier.
„Schön, dass du es trotzdem geschafft hast", sagt meine Mutter mit einem schwachen Lächeln. „Wir freuen uns immer, wenn wir dich sehen."
Helene grinst unbeschwert zurück und futtert einen weiteren Keks – was es mir, das muss ich leider gestehen, schwieriger macht, ebenfalls nach dem nächsten zu greifen.
„Ich freue mich auch. Was gibt es denn zu besprechen?"
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