Woche 7, Mittwoch
HARRY
Ich setze mich im Bett auf.
Rund um mich herum freundliche Gesichter und Ärzte, die geschäftig herumlaufen.
Ich liege in einem Viererzimmer, zusammen mit Robin, Charles und zu meiner Überraschung auf Robert.
Langsam kehren die Erinnerung an den gestrigen Tag bruchstückweise zurück.
Ich höre wieder den Mann schießen, sehe Samantha wieder in Zeitlupe fallen. Ich sehe mich selbst wieder mit ungeahnten Kräften aus den Fängen der Frau befreien, auf Samantha zustürzen, mich über sie beugen. Dann höre ich den zweiten Schuss ein zweites Mal und sehe mich weinend neben Samantha zu Boden sinken.
Und anschließend sehe ich wieder Mike und co durch die Tür kommen.
Sie sind zu zehnt und sie haben das Ganze in Minutenschnelle erledigt. Trotzdem kann ich das Bild von der am Boden liegenden Samantha nicht aus dem Kopf bekommen.
Wenn sie nur überlebt hat!
Ein Arzt betritt das Zimmer, er scheint wichtiger zu sein als die anderen, denn alle grüßen ihn. Er kommt zu mir ans Bett.
"Hallo", sagt er. "Ich bin Doktor Leopold. Schön, dass du aufgewacht bist. Wir haben dich letzten Sonntag in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, so wie die anderen körperlich Unverletzten auch. Jetzt dürftest du dich ausgeschlafen haben."
"Ich... ist es nicht Montag?"
"Nein, es ist Mittwoch. Du kannst dich an den Vorfall erinnern."
"Ähm... ja?" Hält er mich für blöd? Ich habe wochenlang in Angst gelebt und gestern für mein und Samanthas und unser aller Leben gekämpft. Natürlich kann ich mich erinnern.
"Okay, das ist gut. Wir werden in den nächsten Tagen noch ein paar Untersuchungen durchführen, aber alles in allem bist du in Ordnung. Du bist auch nicht auf der Intensivstation, das bedeutet, du kannst an den Mahlzeiten teilnehmen, den Gemeinschaftsraum besuchen oder Besuch empfangen. Okay?"
"Ja", sage ich. "Was ist... mit Samantha? Samantha Harris? Hat sie es geschafft?"
"Ja, hat sie", sagt der Arzt und mir fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen.
"Ist sie... ich meine, wird sie wieder?"
"Sie hatte zwei Schusswunden, konnte aber glücklicherweise schnell genug eingeliefert werden. Ein paar Tage muss sie wohl noch auf der Intensivstation bleiben, auch, wenn sie schon über den Berg ist, dann kann sie auch auf die Normalstation verlegt werden."
"Okay, das ist gut", sage ich und versuche, mir meine Erleichterung nicht allzu stark anmerken zu lassen. "Den anderen geht es gut?"
"Die anderen, die an dem Vorfall beteiligt waren, einschließlich Robert Lewis, wurden, ebenso wie du, in künstlichen Tiefschlaf versetzt, ihr seid auf zwei Zimmern aufgeteilt. Nur ein weiterer Junge, Simon Everhood, hatte ebenfalls eine Schusswunde. Allerdings ist auch er außer Gefahr."
"Super", sage ich. "Ist vielleicht... Besuch für mich da?"
"Ja, eine Frau Munich und ein Herr Garrett warten unten. Wollen Sie sie empfangen?"
Ich muss fast grinsen. Wusste ich es doch. "Ja, natürlich", sage ich.
***
Wenig später betreten Magdalena und Mike das Zimmer.
"Hey, Hero of the day", sagt Mike, mein früherer Ausbilder scherzhaft.
"Das ist minimal übertrieben", merkt Magdalena an. "Ihr hättet euch niemals so schlecht vorbereitet in die Gefahrenzone begeben dürfen. Außerdem wurden zwei Personen deiner Gruppe schwer verletzt, was du vielleicht verhindern hättest können. Aber alles in allem hast du tatsächlich ganz gute Arbeit geleistet. Bist du auf dem neuesten Stand?"
"Nur, was den Gesundheitszustand betrifft", gebe ich zu.
"Dann erledige du das mal, Mike", sagt sie. "Ich besorg uns einen Kaffee."
"Wir waren losgeschickt worden, um euch zu suchen", beginnt Mike. "Wir wussten nicht mal, wo ihr seid. Irgendwann dann allerdings haben wir eure Hütte gefunden. Von da aus war es etwas Leichtes, die zweite Hütte zu entdecken. Ihr hättet die Spuren ruhig besser verwischen können. Ich dachte, ich hätte dir mehr gelernt."
Aber er grinst. "Wir waren in Eile", sage ich entschuldigend. "Wir wussten, dass wir nur bis 15 Uhr Zeit hatten."
"Und genau da liegt das Problem", erklärt Mike. "Laut unseren Nachforschungen die letzten Tage hättet ihr tatsächlich bis 15 Uhr Zeit gehabt. Warum ihr dann trotzdem entdeckt worden seid, war uns zuerst ein Rätsel. Aber vermutlich hat jemand etwas ausgeplaudert."
"Aber wer...?" Mir stockt der Atem, doch noch während ich die Worte ausspreche, merke ich, dass ich es schon weiß.
"Sophie, oder?"
Mike nickt. "Sie wird in Bälde zum Verhör gebracht, hat aber bereits gestanden, dass sie erpresst wurde. Da lassen sie meist Milde walten. Das wird schon", fügt er noch hinzu, als ich ihn geschockt anblicke.
Aber ich bin nicht einmal über Sophie geschockt. Denn erstens mochte ich sie von Anfang an nicht und zweitens ist sie allem Anschein nach wirklich erpresst worden. Geschockt bin ich eher über mich selbst, dass ich das nicht herausgefunden habe.
"Das passiert jedem mal", sagt Mike. "Du warst unter Druck. Da kann man dir keinen Vorwurf machen."
Plötzlich bemerke ich, wie die anderen im Zimmer uns mit Adleraugen beobachten.
"Scheiße", sage ich zu Mike. "Sollte das nicht eigentlich ein Geheimnis bleiben? Also... das Ganze? Und jetzt wissen es alle?"
"Also", sagt Mike. "Meiner Meinung nach solltet ihr alle ohnehin mal ein klärendes Gespräch führen. Und vielleicht solltest du sie dann auch über deine Superheldenidentität aufklären" Er blinzelt grinsend. "Magdalenas Erlaubnis hast du."
***
Wenig später sitzen wir tatsächlich im Aufenthaltsraum und wir sehen alle noch sehr mitgenommen oder zumindest müde aus.
Samantha und Simon fehlen noch immer, und das finde ich verdammt schade, aber Mike hatte recht: Vielleicht sollten wir wirklich mal aufhören, uns ständig gegenseitig anzulügen. Denn ich schätze, das haben wir die ganze Zeit getan.
Und es ist wirklich ein klärendes Gespräch: Sophie gibt unter Tränen zu, nur Spionin gewesen zu sein und uns durch Erpressung an Raab, halt, Leon!, zu verraten haben, ich kläre die anderen darüber auf, dass ich für eine Geheimdienstorganisation arbeite. Oder, dass Sophie damals Lauras Computer manipuliert hat, um nicht selbst auszuscheiden. Jeder hat etwas beizusteuern.
Und zu meinem grenzenlosen Erstaunen ist keiner wirklich überrascht. Vermutlich kann uns nach dem Ganzen letzten Sonntag nichts mehr erschüttern.
"Also... ich..." Lissa stockt. "Ich... ich mag euch alle ziemlich gerne. Aber jetzt... jetzt werde ich nie an euch denken können, ohne schlechte Hintergedanken... Aber das würde ich gerne. Vielleicht... könnten wir noch etwas gemeinsam unternehmen? Damit die guten Erinnerungen die bösen besiegen? Ich weiß, dass Simon und Samantha nicht da sind, aber ich bin mir ziemlich sicher, sie wären einverstanden."
Charles nickt. "Das fände ich auch gut. Vielleicht... ein gemeinsamer Urlaub oder so?"
Lissa hat Recht. Sie hat so verdammt Recht. Und ihr Vorschlag ist gut. Und tief in meinem Inneren weiß ich, dass auch Samantha wirklich einverstanden wäre.
Nach und nach nicken wir alle. Es ist noch kein handfester Plan, aber es ist zumindest etwas... etwas Greifbares.
Vielleicht, sogar sicher, werden wir von der Polizei in die Mangel genommen werden, vielleicht müssen wir gegen Leon und Karin aussagen, vielleicht wirft Magdalena mich raus, vielleicht werden wir alle ein Trauma fürs Leben haben.
Da kann etwas Sorglosigkeit nicht schaden.
"Ein gemeinsamer Urlaub wäre wirklich schön", sage ich leise.
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