Woche 6, Sonntag, vorher
SIMON
Mein Gott. Mein Gott!
Ich weiß, dass ich normalerweise nicht so... ja, hyperventiliert wäre das richtige Wort, bin, aber es ist heute nicht anders möglich.
Ich zapple herum, scheine keine Kontrolle mehr über meine Gliedmaßen zu haben und spüre, wie sich mein Körper immer mehr versteift.
Größtenteils ein Gedanke schießt durch meinen Kopf: Ich will nicht sterben!
Und das will ich wirklich nicht. Ich versuche, mir klarzumachen, dass wir alles genauestens durchgeplant haben und daher nichts schiefgehen kann, doch vergeblich. Mein Bauch will nicht glauben, was mein Kopf längst weiß.
Ich denke wieder über das alles nach.
Und das macht mich ganz kirre, weil ich keine Ahnung habe - von nichts.
Conrad habe ich seit unserer Flucht nicht mehr gesehen, ich weiß immer noch nicht, was es mit seinen Narben auf sich hat. Ich habe keine Ahnung, was mit Robert los ist oder ob er überhaupt noch lebt und noch weniger weiß ich, welches kranke Motiv Raab - nein, sorry, Leon - hat.
Ich weiß nicht, was ich will.
Eigentlich will ich einfach nur Zeit mit Lissa verbringen. So wie früher.
Aber dafür müsste ich das aussprechen, was, sichtlich, zwischen uns steht.
Und dieses verdammte "Coming-out" macht mir Angst. Es ist nicht einmal ein richtiges Coming-out, das hatte ich schon vor einem knappen Jahr. In meinem Umfeld, zu Hause, wussten alle, dass ich schwul bin.
Nur hier weiß es keiner.
Und tief in meinem Inneren ist mir klar, dass Lissa kein Problem damit hätte, sie wirkt ziemlich aufgeschlossen und hat schon oftmals die tolle LGBTQ+Gemeinschaft erwähnt. Nein, das ist es nicht. Inzwischen ist es eher so, dass ich mich davor fürchte, wie sie reagieren wird, wenn sie erfährt, dass ich sie jetzt eineinhalb Monate wie gedrückt angelogen habe.
Ich habe von Katinka erzählt, davon, dass ich mich getrennt hätte, bevor ich hergekommen bin, aber Larron habe ich mit keinem Wort erwähnt. Das macht mich zu einem verdammten Feigling.
Ich wollte eigentlich nur wissen, wie es ist, wenn die anderen es nicht wissen, aber inzwischen habe ich nur noch Schiss und verschweige es ihnen trotzdem. Oder besser, genau deshalb.
Lissa kommt ins Zimmer, ich weiß nicht, wo die anderen sind, vermutlich machen sie wieder irgendwelche Übungen oder spielen Karten oder was weiß ich.
"Hey", sagt sie und setzt sich neben mich aufs Bett.
"Hey", sage ich.
Und dann folgt so ein langes, zum Zerreißen angespanntes Schweigen, dass ich mich dazu zwinge, die Stille zu durchbrechen.
"Es... es tut mir leid. Ich hab mich scheiße benommen. Ich will nur, dass du das weißt. Also, falls wir heute... ähm... sterben."
Sie zuckt zusammen. "Wir... werden nicht sterben, schon vergessen? Wir haben einen guten Plan. Außerdem will Raab uns bestimmt lebendig, warum auch immer. Also wird er uns nicht umbringen, falls er uns kriegt."
Vermutlich will sie sowohl mich also auch sich selbst beruhigen, aber es wirkt nicht. Es macht es eher noch schlimmer, für uns beide.
"Ich... sorry. Wirklich. Es war nur... ich konnte dir das nicht erzählen."
"Was konntest du mir nicht erzählen?"
Auffordernd sieht sie mich an und ich merke, wenn ich jetzt kneife, dann habe ich es mir für immer mit ihr verscherzt. Falls es ein für immer bei uns beiden gibt.
"Übrigens tut es mir auch leid", schiebt sie schnell noch hinterher. "Ich hätte verstehen müssen, dass man sich... in der besten Freundschaft nicht alles erzählt."
"Das muss dir nicht leidtun", sage ich. "Ich hätte an deiner Stelle genauso reagiert. Aber,... ich wünschte, du könntest verstehen, wie ich das empfinde."
"Das kann ich wohl wirklich nicht, tut mir leid."
Sollte das jetzt beleidigt oder entschuldigend klingen? Ich kann es nicht zuordnen.
Sie steht auf.
"Jetzt ist wieder alles gut zwischen uns. Vielleicht sollten wir uns dann fertigmachen. In einer halben Stunde brechen wir auf."
"Ja, okay."
Sag es! Sag es! SAG ES!
Und schon wieder tue ich nicht, was ich tun sollte. Plötzlich ergreift mich eine so große Wut über mich selbst, dass ich, als Lissa schon beinahe bei der Tür bin, noch einmal ihren Namen herauspresse.
"Ja?"
"Ich... ich sollte dir sagen, was ich dir jetzt so lange nicht gesagt habe."
Jetzt kommt's. Jetzt kommt's.
Ich fühle mich genauso nervös wie beim ersten Mal.
Die wenigsten müssen ihr Coming-out zweimal haben, nur ich und das nur aus einem Grund: Weil ich so blöd war und nicht von Anfang an zu meiner Sexualität gestanden bin.
"Lissa, ich bin schwul."
Sie reißt die Augen auf. "Wirklich?"
"Äh... ja?", sage ich nervös.
"Oh... okay." Ich merke, dass sie nachdenkt, wie sie reagieren soll. Das ist okay. Niemand würde wissen, wie man reagieren soll, wenn der beste Freund sich plötzlich als homo outet. Falls wir überhaupt noch beste Freunde sind.
"Oh Gott, wieso hast du mir das nicht früher gesagt?", ruft sie plötzlich und umarmt mich. "Dachtest du, ich würde damit nicht umgehen können? Dass ich scheiße reagieren würde?", nuschelt sie in meine Schulter.
"Lissa, nein! Das dachte ich nicht! Es war nur..."
Los jetzt! Raus damit!
"... ich wollte nur sehen, ob ich... ein anderer Mensch sein kann, wenn ich es den Leuten nicht erzähle..."
"Also wissen es deine... deine Freunde zu Hause?", fragt sie skeptisch. "Hm, ja?", erwidere ich. "Ich meine, ja, sie wissen es."
"Also... wirst du es den anderen hier auch erzählen?", fragt sie, mich noch immer an sich drückend.
"Ich glaube nicht", sage ich ehrlicherweise und ich merke, wie verdammt gut es sich anfühlt, mich endlich jemandem anzuvertrauen, mich endlich Lissa anzuvertrauen.
"Warum nicht? Also, versteh mich nicht falsch, ich habe keine Ahnung, wie sich das anfühlen muss, aber... jetzt hast du es doch schon mir gesagt und... wir... wir begeben uns jetzt gleich in die Höhle der Löwen, meinst du nicht, dass du jetzt... quasi auf alles gehen solltest?"
Ich denke kurz nach, bis ich mich zu einer Antwort aufraffe.
"Vielleicht", sage ich. "Aber... weißt du, es fühlt sich einfach... richtig an. Falls alles gut geht, werde ich es den anderen sagen, versprochen. Okay?"
"Du musst mir gar nichts versprechen", murmelt Lissa dumpf in meinem Pulli. "Aber okay"
"Dann... brechen wir auf, würde ich sagen", flüstere ich und wir stehen auf.
Es fühlt sich an, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern genommen worden. Jetzt ist sie plötzlich wieder da, weil mir klar wird, dass wir jetzt gleich loswollen, um Raab zu befreien. Und dass das eine verdammt gefährliche Sache ist.
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