Woche 6, Sonntag, dann
SAMANTHA
Mein Denken ist ausgeschaltet, sehen kann ich nur noch durch einen Tränenschleier.
Ich kauere mich in der Ecke, weiß nicht, ob ich beten oder weinen oder hoffen oder alles auf einmal machen soll.
Ich sehe wieder Harry, wie er sich noch einmal aufbäumt und Karin die Pistole aus der Hand schlägt.
Ich höre jemanden die Tür öffnen.
Angst. Schrecken. Hoffnung.
Es ist niemand, der uns helfen würde. Das sagt mir mein Gefühl.
Ich sehe mich im Raum um.
Harry, der todesmutig kämpft. Lissa, die sich über einen blutenden Simon beugt, Angelina, die mit zitternden Fingern versucht, Raab zu befreien. Laura, die sich hinter den Tisch geflüchtet hat. Sophie, die an der Wand lehnt, mit erschrockenem, aber von Angst freiem Gesicht. Charles, der versucht, das Fenster einzuschlagen. Robin, der, dank mangelnden Möglichkeiten, sich schnell zu bewegen, sich an die Wand drückt.
Und ich, wie ich in der Ecke hocke, mit panisch pochendem Herzen und unfähig etwas zu tun.
Ich wusste es.
Die Tür geht noch weiter auf.
Und dann stehen sie im Türrahmen.
Zwei Männer und eine Frau.
Böse Gesichtsausdrücke. Überraschte Gesichtsausdrücke. Muskelbepackte Oberarme. Pistolen.
Die Gedanken rasen in meinem Kopf umher. Ich weiß nicht, was ich tun, was ich denken, woran ich glauben soll. Ob ich überhaupt noch an etwas glauben soll.
Tut es weh, zu sterben? Ich weiß es nicht.
Ist es schnell vorüber? Ich weiß es nicht.
Muss ich überhaupt sterben? Auch das weiß ich nicht.
Verdammt, Harry, der erste Junge, den ich so richtig liebe, kämpft gerade um sein Leben und ich verstecke mich. Ich bin so ein Arschloch.
Ich bin in gefährlichen Situationen zu nichts nütze, auch, wenn ich oft so taff tue.
Wir werden hier verrecken. Harry wird hier verrecken. Ich werde hier verrecken. Neeeiiiiin!
Eisige Hände schließen sich um mein Herz.
Ich atme ein, ich atme aus.
Sehe wie in Trance, wie die eben hinzugekommene Frau Harry packt und ihm mit unglaublichem Kraftaufwand die Arme an den Rücken drückt, während die anderen beiden Männer den Raum mithilfe von Pistolen in Schach halten.
Raab, nein, Leon und Karin liegen am Boden.
Simon liegt am Boden, inmitten einer Blutlache.
Wir haben alle Angst.
So riesengroße Scheißangst.
Ich will irgendetwas tun, will jemandem zur Hilfe eilen, will etwas für Harry tun, für Simon, für Laura, für Charles, für irgendwen. Meinetwegen sogar etwas für Sophie.
Aber das einzige, was ich tun kann, ist, schnell zu atmen, mir die Hände vors Gesicht zu schlagen und leise zu weinen.
Ein weiterer Schuss.
Ist jemand tot?
Ich wage es nicht, durch meine Hände zu blinzeln.
Eiskalte Furcht erfüllt den Raum, erfüllt mich.
Ich habe Angst.
Jemand kommt auf mich zu.
Ich kann es spüren, auch, wenn ich nichts sehen kann.
"Steh auf, Mädchen" Eine grobe Stimme.
Ich wage es immer noch nicht zu blinzeln, nehme aber die Handflächen von den tränennassen Wangen und sehe mit verschleiertem Blick hinauf.
Es ist der Mann, der hineingekommen ist.
Er hält mir eine Pistole ins Gesicht.
"Aufstehen, Mädchen, sagte ich!"
Ich will ja aufstehen, ich will nicht sterben. Ich will die anderen nicht im Stich lassen. Ich will noch ein letztes Mal mit meinen Eltern reden, ein letztes Mal reiten. Ein letztes Mal unser Viertel sehen, ein letztes Mal Harry küssen.
"Steh auf, dann passiert dir nichts"
Er hätte dich schon längst erschießen können. Er tut dir also nichts. Steh auf.
Es ist naives Denken und das weiß ich selbst, dennoch klammere ich mich an der Hoffnung fest, dass es nicht wahr ist.
Ich spüre meine Beine kaum.
Habe Wackelknie.
Vorsichtig erhebe ich mich, stütze mich an der Wand ab.
Sehe in das bärtige Gesicht des Mannes.
Hagrid, denke ich, Nimm mich mit. Nimm mich mit nach Hogwarts.
Aber das ist nicht Hagrid. Der Gesichtsausdruck ist viel zu böse.
Ich habe immer mehr Angst. Ich werde wieder zum kleinen Kind.
Der Mann packt mein Kinn grob zwischen seine wulstigen Finger und drückt es nach oben, sodass ich wieder direkt in die Mündung der Pistole blicke.
"Lass... lass sie los!", würgt Harry hervor, der noch immer von dieser unmenschlich muskulösen Frau festgehalten wird. "Erschieß mich von mir aus. Aber nicht sie!"
Er röchelt, als die Frau ihren Arm fester gegen seinen Hals presst.
"Hast du es noch nicht verstanden, Kleiner?", höhnt der zweite Mann.
Auch nicht Hagrid.
"Hast du es noch immer nicht verstanden? Ihr werdet alle sterben, kapiert? Gefühlsduselei bringt dich jetzt nicht mehr weiter, du Dummkopf"
Ich schluchze auf.
"Aber es wird schnell gehen", sagt der erste Mann. "Und du, du bist Lissa", fügt die Frau hinzu, die noch immer mit der einen Hand Harry umklammert hält und mit der anderen die Pistole auf Lissa und Simon richtet.
"Wenn Lissa hier artig erzählt, wo ihre Mutter das verdammte Zeug versteckt hat, geht es bei der Kleinen auch ganz schnell. Ansonsten muss sie leiden. Vielleicht einen klitzekleinen Schuss hierhin, einen klitzekleinen Schuss dorthin und sie dann liegen lassen, hm?"
Ich schwitze und habe noch immer Angst.
Ich habe keine Ahnung, was los ist, alles, was ich will, ist, dass Lissa tut, was die sagen.
Warum auch immer sie mit ihnen unter einer Decke steckt.
Denn das tut sie vermutlich.
Ich will nicht sterben. Und schon gar nicht will ich langsam sterben!
Ein Schluchzen aus Lissas Richtung.
"Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht!"
"Lüge.", sagt der erste herablassend.
"Bitte lassen Sie Samantha und Lissa aus dem Spiel!", presst Harry heraus. "Merken Sie nicht, dass sie gar nichts weiß?"
"Wirklich nicht!"
Lissa schüttelt es.
Mich schüttelt es innerlich.
Schon seit vielen, vielen Minuten.
Die Panik lähmt mein Gehirn, macht mein Denken langsamer, nur meine Tränen fließen umso schneller.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich will einfach nicht hier umkommen, verdammt.
Aber ich kann nichts tun.
Ich bin ein verdammtes Weichei.
Meine Augen tun schon weh vom vielen Weinen, aber ich kann einfach nicht aufhören.
"Na, Lissa, hast du dich entschieden?", fragt die Frau langsam.
"Ich weiß es nicht!", ruft sie. "Ehrlich! Glaubt mir doch!"
"Nein, das tun wir nicht", sagt die Frau abermals. "Los, kommt."
Und dann schießt der Mann.
Ich spüre nur noch diesen unbändigen Schmerz um mich herum, der in meinem Körper zu explodieren scheint.
Plötzlich fühle ich gar nichts mehr.
Und dann wird es dunkel.
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