Woche 6, Mittwoch, Nachmittag
SIMON
Ich sitze mit Lissa, Harry und Samantha am Tisch und denke nach, wie so oft, als es plötzlich an der Tür klopft.
Bumm. BUMM. BUMM.
Es sind nur leise Schläge, fast sanft, trotzdem lassen sie mir das Blut in den Adern gefrieren.
"Versteckt euch!", zischt Harry, der vermutlich den gleichen Gedanken hatte wie ich: Jetzt haben sie uns.
Ich packe die immer noch stumme Lissa am Arm und ziehe sie in den Wandschrank, während Harry und Samantha sich panisch nach Laura umsehen, und dann gemeinsam mit ihr ins Schlafzimmer rennen. Robin kriecht unter die Anrichte.
Ein bitteres Lachen entschlüpft meiner Kehle. Wenn jemand uns wirklich was tun will, dann hilft es sicher nicht, dass wir uns hier verkrochen haben. Ich bin mir darüber im Klaren, dass das lausige Verstecke sind.
Die Tür geht auf, sie quietscht. Unwillkürlich halte ich den Atem an, presse meinen Körper noch näher an Lissas. In einer anderen Situation würde es mir vielleicht komisch vorkommen, weil ich gerade so viel Körperkontakt wie noch nie mit einem Mädchen habe, aber jetzt habe ich nichts anderes im Kopf als diese Angst, diese heimtückische, lauernde Angst. Diese Angst vor Millionen von Dingen.
Jetzt steht die Tür ganz offen, ich spüre einen Lufthauch ins Zimmer kommen, spüre es durch die Wand des Kastens.
Eine Person steht ganz klar hier im Raum. Von meinem Gefühl und den Vibrationen, die seine oder ihre Füße aussenden, würde ich auf jemanden Kleinen tippen. Keinen erwachsenen Mann, so wie Raab, halt, Leon.
Dennoch ist mir klar, dass ich mich nicht in falscher Sicherheit wiegen darf. Er könnte genauso gut jemand anders geschickt haben. Oder es ist gar niemand vom Managementteam und ich mache mir einfach unnötige Sorgen.
"Hallo?" Der Laut einer hellen Stimme.
Ich kann gar nicht glauben, zu wem sie gehört. Ich habe diese Stimme jetzt schon lange nicht mehr wahrgenommen, es kommt mir vor wie in einem Traum. Nur, dass ich mir noch nicht ganz darüber im Reinen bin, ob es ein schöner oder ein Alptraum war.
Ich habe keine Ahnung, ob ich mein Versteck verlassen soll, also bleibe ich lieber drin.
Aber dann höre ich jemanden ins Zimmer kommen. "Hallo!"
Es ist Angelina, dicht gefolgt von Harry.
Lissa stößt die Schranktür auf und plötzlich kommt mir das Tageslicht wieder blendend hell vor.
Nach und nach kommen wir alle aus unseren Verstecken, blicken überrascht, aber doch erfreut in Richtung der Gestalt, die immer noch in der Tür steht.
"Hallo!", sagt Angelina noch einmal. "Hallo, Sophie! Komm doch rein!"
***
Wir hocken rund um den Tisch, Harry ist seine Verärgerung darüber, dass Angelina einfach herausgeplatzt ist, deutlich anzumerken, aber ganz ehrlich: Was hätte sie denn tun sollen? Ich glaube kaum, dass Sophie irgendeine geheime Agentin ist, die uns aufspüren und verraten will. Bei dem Gedanken an Sophies mögliche Superheldenidentität muss ich beinahe kichern. Das passt einfach nicht zu ihr.
"Erzähl!", fordert Laura auf, die ganz fleckig im Gesicht ist. "Wie bist du weggekommen?" Ich erinnere mich daran, dass Sophie Laura nicht immer gut behandelt hat, aber sie scheint sich trotzdem zu freuen, sie zu sehen.
Das nenne ich mal großherzig.
Sophie trägt Hotpants, in deren Gürtelschleifen sie ein bunt gemustertes Band gebunden hat und ein bauchfreies, zitronengelbes Shirt, darüber ein Netztop. Ihre Haare hat sie straff nach hinten geflochten und sie ist nur leicht geschminkt. Um den Rücken hängen hat sie einen Beutel in Jeans-Optik, aus dem sie jetzt Gloss aufträgt und beginnt, die Konturen ihrer Lippen nachzuzeichnen.
"Es war überhaupt nicht schlimm", berichtet sie, während sie einen prüfenden Blick in den mitgebrachten Spiegel wirft. "Also, natürlich war es schlimm, weil wir nicht wussten, wo ihr seid, und uns Sorgen gemacht haben, aber... wir hatten eine schöne Zeit."
"Wir?", fragt Harry und hebt eine Augenbraue.
"Ich und Robert"
"Robert?"
"Ja, anscheinend wurde er gar nicht nach Hause geschickt. Sobald Herr Raab merkte, dass ihr weg seid, durfte er zu mir, damit wir nicht ganz einsam sind." Sie muss anscheinend schon bei dem Gedanken daran kichern.
Ich will mir gar nicht vorstellen, was die beiden getan haben, um ihre Langeweile zu vertreiben.
Igitt.
"Natürlich sind wir ziemlich streng bewacht worden, aber... man hat uns nichts getan. Und als ich letztens mit O3 und O5 spazieren gehen durfte, habe ich ihn mit einem Karateschlag außer Gefecht gesetzt und hab euch gesucht. Ich irre hier schon seit ungelogen zwei Tagen herum!"
"Haha", macht Samantha ironisch. "Das glauben wir dir jetzt bestimmt. Du bist in diesen Schuhen zwei Tage lang gegangen, kannst natürlich Karate und bist auch nicht im Geringsten schmutzig geworden. Ganz sicher."
"Außerdem bringt Karate überhaupt nichts, Taylor, wenn der Gegner sich nicht an die Regeln hält, die bei Karate gelten", stimmt Robin provozierend zu.
"Seid ihr dann endlich fertig?" Sophie verdreht die Augen.
"Als erstes: Ja, ich kann Karate. Und wenn man den Gegner unvorbereitet trifft, dann kann Karate helfen. Zweitens: Das waren die sportlichsten Schuhe, die ich habe."
Wir blicken hinunter auf Sophies Füße, die in modischen, aber unbequem aussehenden Sneakers stecken.
"Und drittens: Glaubt ihr wirklich, ich renne weg, ohne mir Wechselzeug einzupacken? Die Flucht hatte ich schon länger geplant und daher auch diesen Beutel mit. Ich kann's euch ja zeigen."
Sie kippt den Inhalt auf den Tisch. Zum Vorschein kommen drei weitere Oberteile und eine Hose, eine Kappe, Taschentücher, eine angebrochen Packung Tampons, und ein kleines Täschchen mit Schminkutensilien.
"Und? Wollt ihr vielleicht noch ein dem T-Shirt riechen, um nachzuprüfen, ob ich es auch wirklich getragen habe? Ich habe mich so bemüht, dass ich hier wegkomme und ihr... konfrontiert mich nur mit Vorwürfen! Es war schon schlimm genug, dass ich Robert zurücklassen musste!"
"Wir glauben dir ja", sagt Lissa schnell. "Okay? Hast du Hunger?"
"Eigentlich müsste ich ja auf meine Figur achten...", beginnt Sophie und sieht bedauernd in die Runde.
Da kann ich dann doch nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Ich weiß nicht, ob sie es absichtlich macht, aber sie ist gerade mehr die typische Zicke denn je. Und das vertreibt mir die Freude fast darüber, dass wir beinahe wieder vollständig ist."
"Das war ein Scherz, okay?", sagt Sophie. "Was habt ihr da?"
Es ist irgendwie beruhigend, alle wieder hier zu sehen. Trotzdem. Ein kleines Fünkchen Misstrauen bleibt. Ich weiß nicht einmal, warum. Ich möchte es nicht haben, ich möchte mich einfach nur freuen, dass Sophie wieder unter uns ist, aber ganz kann ich das Gefühl aus meinem Inneren nicht vertreiben.
Aber ich bemühe mich.
Ich bemühe mich wirklich.
***
Das kam ja mal unerwartet, was?
Was haltet ihr davon, dass Sophie wieder da ist?
Und wie fandet ihr das Kapitel? :)
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