SAMANTHA

"Gut gemacht!", liest Simon vor, seine Stimme zittert, ich kann nicht sagen, ob aus Nervosität oder aus Angst. "Ihr habt es bis hierher geschafft und auch den Hinweis gefunden! Von nun an müsst ihr vorsichtig sein: Findet heraus, wo sich die zweite Gruppe aufhält, lasst euch aber nicht von ihr erwischen! Auf ein faires Spiel!"

"Bitte was?", keucht Angelina. "Was sollte das? Laura, das ist echt nicht witzig!"

"Wa-?", fragt Laura erstaunt. "Was zum Teufel meinst du?"

"Na, was wohl?", fragt Angelina mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. "Das hier! Keiner weiß, dass wir hier sind, also konnte auch niemand den Zettel hier verstecken. Also muss es jemand von uns gewesen sein! Und wer hat ihn zufällig gefunden? Du!"

Ich atme stoßartig aus.

Harry legt mir eine Hand um die Taille und meint, an Angelina gerichtet: "Ich weiß, dass das hier kaum einen anderen Schluss zulässt, aber warte mit denen Verdächtigungen, wenn du dir nicht ganz sicher bist. Warum sollte Laura so etwas machen?"

"Keine Ahnung...", stößt Angelina hervor. "Das war blöd von mir... Sorry, Laura!" "Alles gut", murmelt die geistesabwesend. "Aber ich frage mich wirklich, was das ist."

Geht mir ebenso, denke ich.

"Also, was machen wir damit?", fragt Robin, der sich wieder hinsetzt. Vermutlich ist das lange Stehen noch zu anstrengend für ihn. Kann ich ja verstehen.

"Keine Ahnung." Resigniert seufzt Lissa auf. "Ich dachte, das wär... irgendein Hinweis, wie wir verdammt noch mal hier rauskommen, dabei gibt es uns einfach noch mehr Rätsel auf. Ich halte das nicht mehr aus!"

Vorsichtig nimmt Simon sie in den Arm, als Lissa leise zu schluchzen beginnt. "Ich... tut mir leid, aber ich halte das so einfach nicht mehr aus! Das ist doch Bullshit!"

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, ob ich etwas sagen soll, also halte ich einfach den Mund, so wie fast immer.

Harry nimmt seine Hand von meiner Taille und umgreift meine damit, ich klammere mich an sie wie an einen Rettungsring. Harry ist irgendwie süß, wenn er mir auch ein wenig unbeholfen in Sachen Liebe vorkommt. Beziehungsweise, ich selbst habe um keinen Deut mehr Erfahrung.

"Wir lösen das jetzt auf", meint Simon grimmig. "Also."

Er schnappt sich Block und Stift. "Welche Hinweise haben wir?"

"Diesen Zettel", murmelt Angelina.
"Den Stift", werfe ich ein.
"Die Hütte mit Raab", fügt Charles hinzu.
"Diese Hütte hier", meint Harry.

Dann sind wir alle still. Keiner von uns hat noch mehr Hinweise. Plötzlich keucht Lissa auf. "Das hier!"

Sie fasst sich unters T-Shirt und zieht ein kleines, schwarzes, handgroßes Notizbuch heraus.

Harry reißt es ihr fast aus der Hand. "Was ist das?"

"Das... ihr erinnert euch an die Zirkusaufführung, oder? Da hab ich es gefunden. Ich hab es heimlich mitgenommen und dann irgendwann in diesem Seitenfach meines Sport-BHs versteckt. Ich hab es irgendwie ganz vergessen... nie darin gelesen... es gehörte wohl einer Johanna."

Angelina sieht sie an, als wäre sie nicht ganz dicht. "Wie kann man ein Notizbuch im Sport-BH haben und es dann vergessen? Und vor allem - wechselst du deine Unterwäsche nicht?"

Lissa wird rot bis zum Haaransatz. "Doch, klar", sagt sie. "Ich hatte den seit der Zirkusaufführung nicht mehr an. Es ist..."

"Schon gut", meint Harry, der das Büchlein fieberhaft durchblättert. "Seht mal!"

Es sind winzige Buchstaben, aneinandergereiht zu einem perfekten Muster aus Wörtern, Sätzen und Daten. "Das sind Tagebucheinträge!"

"Zeig!", fordert Lissa und streckt ihre Hand wieder danach aus. Danach reicht sie es weiter.

Als es zu mir wandert, schlage ich irgendeine Seite auf.

27. April '21: Pläne wurden durchkreuzt. P. hilft nicht mehr. Hält es für eine bescheuerte Idee. Tue ich ja auch. Dennoch mach ich mit. Ich tue es nicht für seinen Plan, der ist irre. Ich tue es für S.

Eine andere Seite: 11. Mai '21: auf Krankenstation versetzt. Dacht ich's mir fast. L. hat kein Vertrauen in mich. Außer in mich als Krankenschwester. Aber so kann ich zumindest denen helfen, denen er nicht helfen will. Ich finde es nicht okay, was er macht. Das ist purer Wahnsinn. Aber ich kann ihm das nicht sagen. Sonst bin ich tot.

"Wow..." Ich schlucke. "Harte Lektüre."

Harrys Daumen streicht mit leichtem Druck über meinen Handballen. "Wer das wohl geschrieben hat? Jemand psychisch Kranker oder jemand, der sehr wohl etwas kapiert hat? Er hat auf jeden Fall an das geglaubt, was er geschrieben hat."

"Sie.", wirft Lissa ein. "Sie hat an das geglaubt, was sie geschrieben hat. Vorne steht ein Mädchenname drin. Johanna."

Wir sehen uns an. Das Notizbüchlein wandert von Hand zu Hand, wir berühren es so sorgfältig als wäre es ein Schatz. Ziemlich krank eigentlich, wenn man bedenkt, dass Lissa das vorher schon tage- beziehungsweise wochenlang in ihrem Sport-BH hatte. Aber ich will mich nicht beschweren. Vielleicht bringt uns dieses Heft ja noch mal so richtig weiter.

Als Robin das schwarze, handflächengroße Etwas in die Hand nimmt, weiten sich plötzlich seine Augen.

"Ich kenne diese Schrift!", keucht er schließlich. "Ich kenne die! Die Schrift habe ich schon mal gesehen, vor gar nicht allzu langer Zeit! Lasst mich denken, lasst mich denken!"

"Dass du überhaupt denken kannst", murmelt Angelina neben mir, aber Robin ignoriert sie.

"Ich hab's gleich, ich hab's! Das ist die Schrift von der Ärztin, die mich nach dem Unfall behandelt hat! Die hieß, die hieß- Dr. Lower! Dr. Johanna Lower! Und das ist haargenau ihre Schrift!"

"Bingo", stöhnt Charles. "Aber warum führt sie Tagebuch? Und vor allem: Warum versteckt sie es in einer Abstellkammer - wenn ich das richtig verstanden habe?" Er sieht Lissa an.

"Das ist doch völlig klar.", sage ich plötzlich, aus einer Eingebung heraus: "Hört mal: Ich kann ihm das nicht sagen. Sonst bin ich tot. Das klingt nicht so, als würde sie von einem Pazifisten schreiben."

"Pazifist?", wirft Robin fragend ein. "Jemand, der gegen Gewalt ist, du Dödel", schimpft Angelina, "Red weiter."

"Also, das war bestimmt gefährlich! Und niemand würde in einer Abstellkammer nach ihrem Tagebuch suchen! Die Frau war ein Genie! Das ist wie der Raum der Wünsche!"

Robin sieht schon wieder verständnislos aus.

"Raum der Wünsche? Hallo? Harry Potter?", fragt Angelina, richtiggehend verwirrt. "Sag nicht, du kennst Harry Potter nicht!" "Ähm... doch?", sagt Robin langsam. "Die Bücher auch?", steigert Angelina sich hinein. "Ähm... ja, die ersten drei, glaub ich." "Wer ist Peaves?"

"Wer ist wer?" "Ach, vergiss es." Angelina verdreht die Augen. "Gib's zu, du hast nie ein Harry-Potter-Buch auch nur angerührt!" Robin wird rot, er wird tatsächlich rot.

"Das ist doch jetzt auch egal!", fährt Harry dazwischen. "Entscheidend ist jetzt, dass wir wissen, wer das geschrieben hat und wir auch eine Vermutung haben, warum. Jetzt heißt es handeln."

"Handeln?"

"Ja, handeln. Ich denke, es wird Zeit, dass wir Raab noch einmal so richtig ausquetschen."