Woche 4, Sonntag, Nachmittag
SAMANTHA
Ratlos blicke ich von Laura, zu Robin, zu Charles und dann wieder zu Laura. Ich verstehe nicht, was sie haben. Es ist doch nur ein bescheuerter Kugelschreiber, den ich zurückzugeben vergessen habe!
"Was ist denn jetzt?", fragt Lissa, die ähnlich verwirrt wirkt wie ich. "Kommt her", meint Robin tonlos. "Charles, du hattest Recht."
Jetzt drängen wir uns alle um die drei und lesen, was auf dem Kugelschreiber geschrieben steht, lesen, was ich eigentlich schon vorher gelesen habe.
Steve Raab - Richter und Jugendforscher
"Und?", fragt Simon und hebt die Augenbrauen. "Wir wissen, dass er Jugendforscher ist, und dass er Anwalt ist, ist auch nicht so abwegig."
"Sieh auf das Foto", stammelt Laura. Jetzt beugen wir uns näher über den Miniaturkopf, dem ich letztes Mal kaum Bedeutung geschenkt habe. Es ist ein Mann um die 40, der strahlend lächelt. Aber es ist nicht Steve Raab.
"Das ist- das ist-", murmelt Angelina ohne jegliche Emotionen in der Stimme. "Ich kenne den nicht!"
"Nein", sagt Robin. "Natürlich nicht. Jetzt ergibt alles Sinn. Charles?"
Charles lehnt sich zurück, sein Gesicht ist blass. "Wir hatten hier viel Zeit zum Nachdenken", beginnt er. "Und da ist natürlich schnell die Frage aufgetaucht: Warum veranstaltet Raab so etwas? Rentiert es sich für ihn überhaupt?" "Die Antwort ist: eigentlich nein.", wirft Laura ein. "Darauf haben wir uns schnell geeinigt. Charles allerdings hat noch lange weiter darüber herumgebrütet und kam von dem Gedanken nicht weg. Auf eine Lösung sind wir nicht gekommen."
Jetzt übernimmt Robin. "Kürzlich dann waren wir auf Entdeckungstour. Und nicht weit von hier, nur eine knappe Stunde Fußmarsch, steht noch eine Hütte. Wir haben hineingesehen. In der Ecke stand ein Mann, gefesselt und geknebelt."
Fuck. Das klingt wie aus einem schlechten Film. Gefesselt und geknebelt.
"Mir ist er gleich bekannt vorgekommen.", fährt Charles wieder fort. "Und wenig später wusste ich auch, woher. Ich kannte ihn aus dem Fernsehen. Er war wegen dem Cruel-Fall interviewt worden. Ihr erinnert euch?"
Ich nicke. Unter dem Namen "Cruel-Fall" verstand ganz Amerika die drei Kindermorde, die alle in einem Monat stattgefunden hatten.
"Ja, er hatte die Täter dingfest gemacht und war deshalb vor die Presse getreten. Und ich bin mir ganz sicher, dass er und der gefesselte Mann ein und derselbe sind. Nämlich Raab."
Ich halte unwillkürlich die Luft an und atme dann laut hörbar wieder aus. "Das- das kann nicht sein! Wir haben Raab bei der Verlosung gesehen! Er war immer er!"
"Damals war er vermutlich schon nicht mehr er", meint Laura düster. "Der Livestream war nur für die Teilnehmer sichtbar und ist unmittelbar nachher gelöscht worden. Damals hat er schon - wer auch immer er ist - sich als Raab ausgegeben."
"Ich weiß, wer er ist", murmelt Angelina jetzt. "Ich habe sie einmal reden gehört. Karin hat ihn immer mit ,Leon' angesprochen und er sie mit ,Lenka'"
"Ja, das würde passen", gibt Robin tonlos zurück.
"Das ist alles so verdammt... komisch!", ruft Lissa und ihre Stimme klingt ungewöhnlich schrill. "Wir- wieso? Wieso hat dieser blöde Zufall genau uns ausgewählt? Wie ich mich gefreut habe, gelost worden zu sein! Hätte es doch irgendjemand anderen getroffen!"
"Glaubst du wirklich noch angesichts der Tatsachen, dass es ein faires Auslosen war?", fragt Harry. "Na, glaubst du das?"
Lissa schüttelt langsam den Kopf. "Aber das ist ja noch viel schlimmer!", sagt sie. "Wieso uns? Wieso haben sie uns ausgelost... sorry, ausgewählt? Was ist an uns anders?"
"Das, Lissa", murmelt Charles. "kann dir vermutlich keiner beantworten."
***
Wir sitzen im Haus, rösten Pilze über dem kleinen Gaskocher, lachen, erzählen Geschichten. Aber unser Lachen klingt schrill und gekünstelt, die Geschichten sind viel zu gezwungen und gewollt lustig.
"Wir müssen herausfinden, warum", sagt Charles plötzlich und sofort ist das große Thema in unseren Köpfen wieder präsent. "Und das geht nur, wenn wir zu dem echten Raab gehen und mit ihm sprechen!"
"Das ist ein viel zu großes Risiko", erklärt Laura und man merkt ihr an, dass sie diese Diskussion bereits mehr als einmal geführt haben. "Damals hat Raab uns nicht gesehen. Wenn er uns bemerkt, uns erkennt, eins und eins zusammenzählt, dann weiß er, wer wir sind. Und was ist, wenn Raab, Verzeihung, Leon, ihn irgendwie foltert und rauskriegt, wo wir sind? Nein, kommt nicht in die Tüte!"
Es fühlt sich immer noch komisch an, die kleine ruhige Laura so bestimmt reden zu hören, aber sie scheint in der Zeit, die sie hier verbracht hat, in eine Anführerrolle gefunden haben.
Plötzlich erhebt Harry die Stimme. "Ich würde auch sagen, dass wir zu ihm müssen.", sagt er. "Aber wenn euch wohler dabei ist, kann ich über einen sicheren Nachrichtenkanal... Freunde von zu Hause informieren, die uns sonst retten können."
"Ja, klar", sagt Laura in einer Mischung aus panisch und ironisch. "Du kommst woher? Minnesota? Weißt du, wie lange deine sogenannten Freunde brauchen würden, um herzukommen?"
Und, warum, weiß ich auch nicht, plötzlich werfe ich ein: "Ich würde mitkommen." Ich weiß nicht warum, aber ich habe Vertrauen in Harry. Er wirkt so... viel älter als wir und seit ich ihm damals das mit dem Diebstahl gebeichtet habe, fühle ich mich noch mehr zu ihm hingezogen.
Aber er ist 16 und ich 14. Zwei Jahre sind in unserem Alter eine Ewigkeit. No way.
"Von mir aus könnten wir auch gehen", sagt Lissa. "Ich will wissen, warum wir das durchleben müssen!"
Laura weiß, wann sie verloren hat. "Aber auf jeden Fall nicht mehr heute!", sagt sie. "Und ich komme auch nicht mit."
"Musst du auch nicht", meint Harry. "Wir können ohnehin nicht alle dort aufkreuzen. Wir überlegen uns noch einen Schlachtplan, okay?" "Okay", sagt Laura leise.
Und damit ist das Gespräch seltsamerweise beendet.
***
Und noch mehr Enthüllungen... Überrascht?
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