Woche 4, Samstag, Nacht
HARRY
Es sind alle da. Es ist dunkel. Der Lichtkegel meiner Taschenlampe taucht einen Teil des Korridors in unheimlich flackerndes Licht. Hinter mir sind sie. Zuerst Samantha, im Jogginganzug und mit selbstgenähtem Täschchen. Dahinter Lissa, in Skinny Jeans und einem weißen Oversized-Shirt, zuletzt Simon und Angelina, leise miteinander wispernd.
Wir schleichen uns am Speiseraum vorbei. Kein Licht, im ganzen Haus. Aber ich traue der Stille nicht. Raab muss irgendwo seine Offiziere haben, die nachts patroullieren. Ein Großteil unserer Gruppe hat sich nicht so besonders clever angestellt, was das Geheimhalten an Informationen angeht. Immerhin sind die Kameras deaktiviert. Gute Arbeit, Harry, lobe ich mich insgeheim.
Magdalena weiß davon, dass wir heute ausbrechen. Sie war zwar dagegen, hat allerdings - alle Achtung! - gesagt, ich sei schön langsam alt und erfahren genug, um meine eigenen Erfahrungen zu treffen. Und ich solle mich weiterhin regelmäßig bei ihr melden.
Die Vordertür baut sich vor uns auf, bedrohlich. Sie wirft Schatten über unsere Gesichter, die Taschenlampe kann gegen die gruselige Atmosphäre nichts ausrichten, wenn, dann verstärkt sie diese sogar noch.
"Da hinaus?", fragt Samantha, die anscheinend großes Vertrauen in mich gefasst hat. "Nope", gebe ich flüsternd zurück. "Zu gefährlich. Man könnte uns vom Fenster aus sehen. Lieber die Hintertür." Ich gebe den anderen ein Signal, wir schleichen leise weiter. Wie Einbrecher. Wie Verbrecher. Nur, dass hier nicht wir die Verbrecher sind. Sondern das Managementteam, auch, wenn ich mir noch nicht ganz sicher bin, welchen Plan Raab verfolgt.
Als wir einen weiteren, ausgestorben wirkenden Flur entlangschleichen, hören wir plötzlich Schritte. Es sind ebenfalls leise, tappende Schritte. Es könnte Raab sein. Oder ein Officer. Oder Sophie. Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, was Sophie mit der Sache zu tun hat, aber ich vermute mal, dass Raab sie als Köder ausgewählt hat.
Mein Herz schlägt mit doppelter Geschwindigkeit. Mindestens. Nirgends eine Tür, um hindurchzuschlüpfen, zum Umkehren ist es jetzt schon zu spät. Ich schalte die Taschenlampe aus, drücke Samantha, die neben mir steht, an die Wand, hoffe, dass die anderen es uns gleichtun, und versuche, möglichst flach zu atmen.
Die Schritte werden lauter, kommen langsam, aber sicher näher. Adrenalin schießt durch meine Adern, ich will mich bewegen, ich will etwas tun. Kann nicht. Darf nicht. Habe ich schließlich zu Hause mit Magdalena und den anderen oft genug trainiert. Muss ruhig bleiben, mich darauf konzentrieren, meine Atmung unter Kontrolle zu halten.
Die Schritte sind jetzt ganz nah. Ein Mann geht an uns vorbei, langsamen Schrittes. Dann dreht er sich um, sieht uns direkt an. "Wen haben wir denn da?", flüstert er leise.
Mein Herzschlag setzt aus, mir ist kalt, richtig kalt. Aber der Mann macht nichts, weder schleppt er uns hinter sich her, noch erschießt er uns auf der Stelle. "Simon will abhauen...", sagt er wispernd. Simon geht auf ihn zu. "Hey, Conrad, bitte verrate uns nicht!"
Und da denkt man, dieser Junge hat keine Geheimnisse vor einem. Unfassbar.
"Natürlich nicht", sagt die Gestalt, vermutlich Conrad, mit rauer Stimme. "Ich doch nicht. Übrigens, ich hab es rausgefunden: Sie haben Robert noch, die anderen nicht. Aber er wird gut bewacht. Unmöglich, was zu machen, ich hab's versucht."
Ich merke, wie Simon auf Abstand geht, dennoch lässt er das Gespräch, das meiner Meinung nach schon viel zu lange dauert, nicht abreißen. Ich hasse es, außen vor gelassen zu werden. Und genau das passiert gerade. Ich fühle mich irrelevant.
Dabei bin ich der, der die Kameras deaktiviert hat, alles herausgefunden. "Wir müssen weiter!", flüstere ich daher. "Simon, wird dieser Mann uns verraten?" "Nö", sagt Simon, ohne lange zu überlegen. "Ich kenne ihn. Zumindest ein bisschen. Oder?"
"Klar", sagt er. "Aber seht zu, dass ihr schnell wegkommt. Notausgang 2 müsste unbewacht sein." "Danke", flüstert Simon und plötzlich ist er der, der das Kommando übernimmt. Alles in mir sträubt sich, das zu tun, was er will, die Führungsposition aufzugeben, doch ich konzentriere mich darauf, ruhig zu atmen.
"Ja, beeilen wir uns."
Wir kommen zum Notausgang 2. Er ist verriegelt. Simon wirkt jetzt richtig ratlos, es ist fast lächerlich, wie wenig er weiß. Wie ahnungslos er ist.
"Lass mich" Ich dränge mich nach vorne, krame in meiner Tasche nach dem Dietrich. Natürlich, es geht. Das Schloss ist quasi überhaupt nicht gesichert, vermutlich hat Raab nicht damit gerechnet, dass irgendjemand ausbrechen möchte.
Die eiskalte Nachtluft schlägt uns entgegen, ich hasse mich dafür, nicht mehr als eine Jogginghose und einen Pulli angezogen zu haben.
Nachdem alle draußen sind, schließe ich leise wieder die Tür, treibe die anderen stetig voran. Ich weiß, wo in etwa wir hinmüssen, das hat Robin mir gesagt. Es ist ein Fußmarsch von nicht mehr als einer halben Stunde, bis wir in den Wald abbiegen müssen.
Wir kämpfen uns sicher eine weitere halbe Stunde durchs Geäst. Inzwischen frieren wir alle, zittern. Es ist zwar bereits Juni, darum aber nicht unbedingt nachts heiß. Verdammte Temperaturschwankungen.
Ich merke, dass Samantha kaum noch kann, würde sie gerne tragen, weiß, dass ich genug Kraft hätte, aber ich will sie nicht verletzen. Sie hat ihren Stolz und ich nehme an, sie will das hier durchhalten.
Längst flüstern wir nicht mehr miteinander, die zuvor fast aufgeregte Stimmung ist umgeschlagen in düstere Gedanken. Es ist dunkel, meine Taschenlampe leuchtet nicht besonders gut, und ich bin mir nicht einmal noch sicher, ob wir den richtigen Weg genommen haben. Was ich mir natürlich niemals eingestehen würde.
Wir gehen und gehen. Wir gehen, bis wir eigentlich nicht mehr gehen können, aber wir gehen trotzdem weiter. Wir gehen bis zum Morgengrauen. Falls wir richtig sind, habe ich keine Ahnung, wie Robin das geschafft hat. Ich kann ihm das, was er getan hat, noch immer nicht verzeihen, aber er ist zäh.
Und irgendwann, da wird der Wald bereits von der Morgensonne in helles Licht getaucht, kommen wir dort an, wo wir ankommen wollten. Endlich. Nach Stunden von Fußmärschen. Samantha knickt fast ein vor Müdigkeit und Überanstrengung, auch Simon, Lissa und Angelina sehen nicht aus, als ob sie noch länger durchhalten könnten.
Aber dann höre ich plötzlich eine Stimme. "Da seid ihr ja!", ruft uns eine Stimme entgegen.
Mein Herz macht einen Hüpfer. Wir haben es tatsächlich geschafft.
Die Stimme gehört zu Charles.
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