Woche 3, Sonntag
SIMON
Mein Gott, ich bin verwirrt. Ich fühle mich seltsam rastlos und kann nichts dagegen tun. Ich habe schon bei ItsAStory ein neues Kapitel hochgeladen, bei einem meiner Lieblingsbücher weitergelesen, mir etwas vom Buffet gegönnt, versucht, ein Gedicht zu schreiben, alles Dinge, die mich normalerweise ablenken, aber nicht heute.
Ich weiß auch nicht, warum. Mir geht es nicht schlecht, im Gegenteil. Ich bekomme immer gutes Essen, habe ein super Zimmer, nette Mitbewohner, coole Challenges, einen zuvorkommenden Veranstalter. Alles in allem müsste ich doch Freudensprünge machen. Außerdem war das sicher nur ein blöder Zufall. Also, das, dass ich bei den Verbrechen zwischen Verschweigen seiner Sexualität oder Verschweigen eines Diebstahls auswählen musste. Schließlich können die nicht wissen, dass ich in Wirklichkeit schwul bin. Natürlich, meine Eltern und Freunde wussten es, die meisten erst, nachdem ich ihnen Larron vorgestellt hatte. Ich bezweifle zwar, dass es die Lehrer gekümmert hat, aber gewusst haben sie es sicher. Ich meine, ich bin die ersten Wochen, Monate schikaniert worden, nur weil ich war wie ich war. Blöde Botschaften an meinem Spind, Getuschel auf den Gängen. Nichts Schlimmes, einfach nur... Kleinigkeiten. Das Leben haben sie mir trotzdem schwerer als nötig gemacht. Teenager können so scheißgemein sein.
Lissa klopf an der Tür. "Simon?", fragt sie. "Kann ich reinkommen?" Aber heute bin ich nicht in der Stimmung für einen Plausch mit ihr. "Sorry, ich geh dann gleich duschen", lüge ich also. "Dann will ich noch ein bisschen auf ItsAStory chillen. Vielleicht am Nachmittag?" "Klar", sagt Lissa mit weiterhin unerschütterlicher Fröhlichkeit.
Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich will nicht mal nach draußen gehen, denn seit ich weiß, dass wir den Nationalpark nicht verlassen dürfen, ist es mir auch unmöglich geworden, zu Michels Grab zu fahren. Der einzige Grund, warum ich mich hier beworben habe. Weiß der Geier, warum ich überhaupt genommen worden bin. Es müssen sich Tausende beworben haben.
Schließlich verlasse ich mein Zimmer und stromere durch das Gebäude, aus welchem Grund auch immer. Irgendwann treibt es mich wie automatisch zum Speiseraum, wo ich Herr Raab und Robert diskutieren höre. Ach ja, der wird ja heute heimgeschickt.
"Bitte, bitte!", höre ich ihn sagen, höre ich ihn flehen. "Ich- wir gehören zusammen! Es wäre grausam, uns jetzt zu trennen! Lass mich hierbleiben! Meinetwegen als... als Küchenjunge oder Putzkraft oder Bürohilfe oder irgend so etwas, aber... Sie wohnt am anderen Ende von Amerika, Herr Raab! Wir würden uns nie wiedersehen!" "Robert", sagt Herr Raab sanft. "Kaum eine Beziehung in diesem Alter hält für immer. Steigere dich da nicht in etwas hinein."
"Mag sein, dass wir in zwei Wochen Schluss gemacht hätten, aber das wären wunderbare zwei Wochen gewesen! Jeder Moment, den man mit diesem Mädchen verbringen darf, ist Gold wert!"
Jetzt erst bemerke ich, dass Harry hinter mir steht. Jungstreffen, denke ich. Er schiebt sich an mir vorbei. "Hey, Robin, Herr Raab", sagt er, als wäre es das Normalste der Welt, in ein Gespräch über Liebeskummer zu platzen. "Robin, ich wollte schon länger mal mit dir reden.", sagt er ganz ruhig. "Und nachdem du ja nach Hause geschickt wirst, möchte ich mich gerne jetzt noch mit dir unterhalten!"
Aber plötzlich, das spüre ich, explodiert bei ihm innerhalb etwas. "Harry!", ruft er. "Genau das ist das Problem! Ich möchte nicht nach Hause geschickt werden und das werde ich auch nicht! Es ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal, ob du glaubst, dass ich ausreißen muss oder so!"
Harry packt ihn am Arm. "Komm jetzt mal mit.", sagt er mit gefährlich leiser Stimme. "Komm, wir sollten das noch klären." Sie rauschen an mir vorbei, in Richtung Harrys Zimmer. Ich kann nicht anders, ich muss an der Tür lauschen. Ich muss einfach herausfinden, was den ruhigen, sonst seine Worte so mit Bedacht wählenden Harry dazu gebracht hat, Robert hinter sich her zu zerren.
Doch die Tür ist fest geschlossen und schalldicht. Ich kann kein Wort verstehen und ich weiß auch nicht, warum, aber das macht mich unglaublich wütend.
Ich mache mich aus dem Staub, tigere weiterhin ruhelos durch das Gebäude. In einem dunklen, engen Gang allerdings kommt mir jemand entgegen. Eine männliche, dunkelhäutige, muskulöse Figur. Er packt meine Hand. "Komm mit." Er zieht mich in ein kleines Zimmer. Es hat ein penibel gemachtes Einzelbett, einen Tisch, einen Schrank und ein Waschbecken.
"Wer bist du?", frage ich, eine, meiner Meinung nach, äußerst nachvollziehbare Frage. "Ich bin auch schwul", sagt mein Gegenüber stattdessen, so, als würde das alles erklären. Dann sieht er mich an. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Er sieht mich fragend an, ich starre zurück. Es ist ein Blickduell, das seltsamste, das ich je gehabt habe. "Ja?" "Ja, was?", frage ich verwirrt, völlig verwirrt, meinen Blick nicht von ihm abrichtend. Dann muss ich blinzeln, und nicke leicht mit dem Kopf, mir tränen die Augen.
Doch plötzlich kommt der völlige Fremde auf mich zu, umarmt mich und gibt mir einen Kuss. Ich bin völlig überrumpelt. Was soll das denn? Ich will mich loslassen, finde aber irgendwie nicht die nötige Kraft dazu. Mein Gegenüber greift mit den Händen unter mein T-Shirt und streichelt meine, nicht sehr definierten bis hin zu gar nicht vorhandenen Muskeln. Jetzt finde ich wieder Kraft, etwas zu tun, mit aller Kraft stoße ich ihn weg. Der Dunkelhäutige stürzt auf sein Bett.
"Was sollte das, Mann?", frage ich völlig außer mir. "Ja- wir sind doch beide homo. Oder? Stimmt es etwa gar nicht?"
Ich muss mit einer zornigen Belustigung in der Stimme schnauben. "Doch, bin ich! Aber das gibt dir doch noch lange nicht das Recht, mich einfach zu küssen! Ist ja nicht so, als müssten zwei Schwule, kaum, dass sie sich treffen, sich sofort lieben. Oder ist das... mit... was weiß ich... deinem Lieblingsbuch auch so? Sobald du jemanden kennenlernst, der es auch mag, musst du dich sofort mit ihm befreunden?"
Ich bin völlig in Fahrt, ich bin außer mir. Ich fühle mich... ja, wie fühle ich mich eigentlich? Wie eine Mischung aus benutzt, wütend, verwirrt und einer Menge anderer Gefühle.
"Aber... du wolltest das doch? Du hast genickt!" Ich muss lachen, es ist ein bitteres, freudloses Lachen. "Ja, klar." Die Ironie in Person.
"Also... ich... es tut mir leid. Ich dachte wirklich, du würdest das so wollen."
"Bitte?", frage ich. "Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!", stoße ich hervor. "Eigentlich... eigentlich wollte ich nur mit dir reden... Dir etwas Wichtiges mitteilen... aber dann hat es mich überkommen... Scheiße, ich bin so ein Idiot!"
"Was wolltest du mir sagen?", frage ich, seine Entschuldigungen nicht im Mindesten akzeptierend. Ich meine, dieser Typ hat mich gerade quasi sexuell belästigt.
"Das... darüber kann ich jetzt nicht reden. Aber komm morgen um dieselbe Zeit wieder hierher, dann kann ich es dir erklären! Und... ich kann dir nicht sagen, wie blöd ich mir jetzt vorkomme. Ich habe immer Probleme damit, anderer Leute Gefühle zu verstehen. Und meistens mache ich dann das absolut Falsche."
Jetzt weichen alle Gefühle von mir, um der Verwirrung Platz zu machen. Ich verstehe gerade überhaupt nichts. Ich möchte ihm am liebsten eine scheuern, gleichzeitig aber wissen, was er mir denn sagen wollte.
"Geh jetzt!", sagt er. "Bis morgen." Er schiebt mich aus der Tür. Erst draußen bemerke ich, dass ich noch nicht einmal seinen Namen weiß.
So ein Scheiß, denke ich und überlege, ob ich nicht zu Herrn Raab gehen sollte. Aber dann bin ich doch zu verblüfft, zu entsetzt und zu neugierig. Der Typ wirkte... ehrlich betreten und wie ein Verbrecher sah er auch nicht aus.
Ich sage Lissa morgen einfach, dass ich weggehe und dass sie Raab informieren soll, wenn ich nach einer Stunde noch nicht zurückgekommen bin. Nach diesem Entschluss fühle ich mich besser. Aber ein mulmiges Gefühl, das bleibt.
***
Sorry, das war jetzt ein total komisches Kapitel. Ich hatte plötzlich diese Idee und wollte es ausprobieren. Finde es auch völlig okay, wenn euch das Kapi nicht so gefällt, es werden NICHT mehr solche kommen. Aber dieser Mann wird noch wichtig werden. Also, bitte trotzdem weiterlesen :)
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