Woche 3, Donnerstag
SAMANTHA
Ich sitze im Speiseraum, sehe zu, wie Angelina ihren ekelhaften Mannerwaffel-Mix zubereitet und denke nach. Seit ich mich Harry anvertraut habe, bin ich beruhigter als zuvor, gleichzeitig aber um einiges nervöser. Natürlich, Harry könnte gelogen haben, doch irgendwie sieht er nicht wie ein Aufschneider aus. Und er ist auch keiner, das spüre ich. Generell spricht alles dafür, dass Steve Raab und sein Team uns wirklich mit Kameras überwachen und das ist mehr als beunruhigend.
Wenn man vom Teufel spricht, schießt es mir durch den Kopf, als der Veranstalter höchstpersönlich, mit Karin an seiner Seite, den Raum betritt. Er lächelt, es ist ein strahlend weißes Zahnpastalächeln. Erst, als ich näher hingucke, bemerke ich, dass es eindeutig gekünstelt ist, ebenso, wie das Karins. Sein Blick streift mich und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
"Herzlich willkommen", beginnt er. "zu einer neuen Aufgabe. Diese ist mein persönlicher Favorit: Ihr werdet jeweils zwei Verbrechen erklärt bekommen und müsst einen "Täter" bestrafen und einen verschonen. Ihr habt die Wahl. Wer den kühlsten Kopf bewahrt und die klügsten Entscheidungen trifft, wird am Ende Rankingerster sein. Und keine Sorge: Die "Verbrechen" sind rein erfunden, es kommt niemand wirklich ins Gefängnis."
Ja, toll, das ist wirklich unglaublich toll. Ich blicke Angelina an und sie lächelt kurz, bevor sie wieder einen Löffel isst.
"Und ausnahmsweise", fährt Karin fort. "Beginnt die Aufgabe jetzt sofort. Ihr habt jeweils eine halbe Minute Zeit für eine Antwort."
Mehrere Os betreten den Raum und schieben die Tische beiseite. "Hilf mir mal kurz", keucht O5, der alleine einen drei Meter langen Tisch trägt. Ich packe mit an, meine durchs Reiten aufgebauten Muskeln machen sich da eben doch bemerkbar, und gemeinsam haben wir den Tisch in Sekundenschnelle an den Rand getragen.
"Die Erste ist Lissa", verkündet Herr Raab. "Lissa, komm nach vorne." Lissa steht auf, Simon lächelt ihr ermunternd zu und ich merke, wie alle sich ein bisschen gerader hinsetzen. Manchmal frage ich mich, wie viel die anderen wohl von Raabs dunklen Machenschaften wissen. Ich habe mich zwar Harry anvertraut, dennoch habe ich eine gewisse Scheu, mit den anderen zu sprechen. Auch, weil sie dann mein meistgehütetes Geheimnis erfahren würden.
"Also", sagt Herr Raab. "Lissa: Was würdest du eher bestrafen? Numero uno: Jemand lügt seine oder ihre Eltern an und erzählt ihnen, er oder sie würde an einer Schulveranstaltung teilnehmen, während er oder sie in Wirklichkeit für mehrere Wochen quasi Urlaub macht. Oder Numero duo: Jemand lügt seine oder ihre Eltern an, und erklärt, jemand hätte ihn oder sie mit dem Fahrrad gerammt, obwohl er oder sie in Wirklichkeit sich geprügelt hat."
Ich muss fast grinsen. Das sind ja mal witzige Möglichkeiten. Doch Lissa ist leichenblass geworden, schnappt kurz nach Luft und richtet ihren Blick dann auf den Beamer, auf dem ein Countdown sich immer weiter der Null nähert. "Ich würde das zweite bestrafen", flüstert sie schließlich, als es bei "fünf" angelangt ist. Herr Raab notiert sich etwas, bedeutet ihr, an ihren Platz zurückzugehen und holt als nächstes Sophie heraus.
Sophie muss sich zwischen Erpressung und Diebstahl entscheiden, Robert zwischen sexueller Belästigung und Einbruch. Angelina zieht Belauschen eines geheimnisvollen Gesprächs Mobbing vor. Es ist eigentlich ziemlich witzig. Und dann bin ich an der Reihe.
Ich trete nach vorne, Herr Raab liest meine Möglichkeiten vor: "Also, Samantha, würdest du eher bestrafen, wenn jemand sehr Reiches eine kleine Menge an Geld stiehlt oder jemand sehr Armes eine große Menge an Geld?"
Mir wird heiß und kalt gleichzeitig. Anscheinend ist immer eine der Antworten eines seiner eigenen Verbrechen, zumindest ist es bei mir so. Das ist so... unglaublich scheiße. Mir war klar, dass das Managementteam davon weiß, warum auch immer, und dass es mich damit erpresst, aber wenn die anderen auch nur einigermaßen mitdenken, können sie sich denken, was ich getan habe. Noch immer schäme ich mich so dafür, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft. Fuck, fuck, fuck. Der Countdown läuft ab und ich spüre, wie kleine, heiße Schweißtröpfchen mir die Haare hinunterlaufen, über den Hals, ins Dekolleté. Sie brennen auf der Haut, so, als wären es kleine Stromschläge und mein Denken setzt für diese halbe Minute völlig aus.
Wie die Teilnehmer davor warte ich auf den letzten möglichen Moment, bis ich schließlich eine Bauchentscheidung treffe. "Ich würde eher den Armen bestrafen." Das wollte ich eigentlich nicht sagen, schließlich war ich selbst in dieser Situation. Und wir waren, beziehungsweise sind, wirklich arm, ich meine, ich hatte einen aus zwei Bleistiften gebastelten Zirkel, und aß ganze Schultage lang nichts, weil die Kantine so teuer war. Trotzdem. Fünf Euro zu stehlen ist kein Verbrechen. Fünfhundert Euro zu stehlen hingegen schon.
Als danach das Ranking kommt, bin ich nicht wenig überrascht. Ich hatte ja gesehen, wer wie lang überlegt hatte.
Tagesranking:
1. Harry Walker - 7 Punkte
2. Robert Lewis - 6 Punkte
3. Sophie Taylor - 5 Punkte
4. Simon Everhood - 4 Punkte
5. Samantha Harris - 3 Punkte
6. Lissa Parks - 2 Punkte
7. Angelina Wood - 1 Punkt
Gesamtranking:
1. Harry Walker - 46 Punkte
2. Simon Everhood - 37 Punkte
3. Lissa Parks - 36 Punkte
4. Samantha Harris - 34 Punkte
5. Angelina Wood - 33 Punkte
5. Sophie Taylor - 33 Punkte
6. Robert Lewis - 30 Punkte
Mehr sagen Raab und Karin nicht dazu und das brauchen sie auch nicht. Der Diebstahl war mein größtes Geheimnis und sie haben ihn hier quasi öffentlich gemacht. Ich bin mir sicher, dass es mit den anderen auch so war und ich glaube auch, die Botschaft zu begreifen, die sie uns mit dieser Aufgabe senden wollten. Benehmt euch, sonst geht's euch an den Kragen, wir kennen eure Geheimnisse!
Ich bin mir sicher, dass Angelina es auch so aufgefasst hat, doch sie wirkt wie ein Geist ihrer selbst. Ihr Gesicht ist blass und ich denke scharf nach, was ihre Auswahlmöglichkeiten waren. Belauschen oder Mobbing sind jetzt ja schließlich keine so großen Sachen. Sicher, Belauschen ist nicht fair und Mobbing eines der verabscheuenswürdigsten Dinge der Welt, ich weiß schon wieder genau, wovon ich spreche, aber nichts, weswegen man im Boden versinken würde, oder?
An diesem Abend kann ich vor lauter Grübeln nicht einschlafen.
Dieser Wettbewerb ist mir schon lange nicht mehr so ganz geheuer, aber seit heute fürchte ich mich richtig davor. Ich will gar nicht wissen, wie es weitergeht.
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