Woche 2, Freitag
ROBIN
Mein Kopf dröhnt, ich kann keines meiner Körperteile bewegen und als ich versuche, mich umzudrehen, schießt mir ein stechender Schmerz in den Nacken.
Entfernte Stimmen. "Er ist wach!" Die Sonne scheint durchs Fenster, doch den Raum, in dem ich mich befinde, sagt mir nichts. Die Wände sind weiß gestrichen, die Vorhänge dottergelb und das Bett, in dem ich liege, mit blütenreiner Bettwäsche überzogen.
Eine Frau eilt auf mich zu. Sie trägt einen weißen, steril aussehenden Kittel und ihre Haare sind, wie die Karins, in einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
"Hallo, Robin!", sagt sie mit freundlicher Stimme. "Wach?" Ich schaffe es nicht, zu nicken und auch fühle ich mich zu schwach, um auch nur ein Wort rauszubringen. Doch die Frau scheint ohnehin keine Antwort zu erwarten. Mit geübten Handgriffen stellt sie meinen Polster auf und hilft mir, mich aufzusetzen. "Ich bin Dr. Lower", sagt sie. "Ausgebildete Ärztin. Aber du kannst Johanna zu mir sagen." Mir liegt eine freche Erwiderung auf der Zunge, doch ich hüte mich, sie auszusprechen, da ich es mir nicht mit dem einzigen Menschen verscherzen will, mit dem ich vermutlich die nächsten Stunden verbringen werde.
"Du hattest einen Schutzengel", sagt sie schaudernd. "Ein unvorbereiteter Sturz aus drei Metern Höhe, noch dazu auf eine betonierte Fläche, weil du kurz vorm Beenden des Hochseilgarten standst. Himmel!" Sie schüttelt den Kopf und lächelt gleich darauf wieder. "Du hast eine leichte Gehirnerschütterung, deine Nackenmuskulatur musste einiges aushalten, dein linkes Bein ist gebrochen und der rechte Ellenbogen geprellt. Aber das dürft nicht allzu schlimm sein. Morgen darfst du wieder auf, falls du möchtest. Also, nur wenn du dich nicht überanstrengst und einen Rollstuhl verwendest."
Ein Rollstuhl? Ich blicke angewidert drein, oft genug habe ich mich über Menschen lustig gemacht, die solch ein Fortbewegungsmittel benötigen.
"Schau nicht so!", meint Dr. Lower. "Du kannst froh sein, dass du überhaupt aufstehen kannst! Andere wären froh, wenn sie sich mit einem Rollstuhl fortbewegen könnten! Krücken gehen noch nicht, da dein rechter Arm nicht belastbar ist. Aber wenn du lieber durch die Gegend getragen werden willst oder im Bett bleiben - nun gut!"
Das fehlte mir gerade noch! Ich drücke ein "Nein" heraus und danach noch kurz "Sorry" Ich weiß nicht warum, aber irgendwie will ich, dass Dr. Lower mich mag.
"Schon gut", meint Dr. Lower. "Ich verstehe dich ja. Mehrere Wochen kein Sport, keine Überanstrengungen und immer diese Kopfschmerzen. Alles gut." Dieses Lächeln!
"Herr Raab wird dann gleich kommen", verkündet die Ärztin. "Er wird dir ein paar Fragen stellen. Kannst du mit Ja oder Nein antworten?"
"Ja", sage ich und bringe sogar ein schiefes Grinsen zustande. "Geht klar."
"Herr Raab", murmle ich. "Der Name sagt mir doch was" "Klar", sagt Dr. Lower mit unerschütterlicher Fröhlichkeit. "Schließlich ist er der Veranstalter des Wettbewerbs."
"Das ist es nicht", presse ich heraus. "Etwas anderes." "Keine Ahnung, was du meinst", erklärt Dr. Lower schnell, sieht jedoch beunruhigt aus.
Und plötzlich schießt es mir in den Kopf, die Erinnerung, die ich von nun an für immer mit Dr. Steve Raab verbinden werde. Mein Kopf dröhnt noch mehr und mir treten Tränen in die Augen. Laura! Vermutlich habe ich mir das alles nur eingebildet, denke ich. Aber nein, Bilder schwirren wie ein Film vor meinen Augen. Schreie, Blut, der Geruch nach feuchter Erde. Ich habe mir das sicher nicht eingebildet. Und wenn es stimmt, was ich glaube, muss ich schleunigst hier weg.
Herr Raab betritt den Raum. Er trägt braune Cordhosen und ein Hemd und lächelt mich an. "Robin", sagt er. "Wir sind so froh, dass es dir gut geht! Ein tragischer Unfall..." Er lächelt mir kurz zu. "Was... ist passiert?", drücke ich mit heiserer Stimme heraus. "Du hattest anscheinend deine Karabiner nicht richtig verschlossen", erklärt er. "In der Mitte des Flying Fox gaben sie nach... Aber du hattest Glück im Unglück und hast überlebt... Wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können." Ich habe es direkt vor mir, meine Finger, wie sie den Karabiner einhängen. Korrekt einhängen, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe die Karabiner korrekt eingehängt. Plötzlich bin ich mir ganz sicher. Und das sage ich auch.
"Ich habe es exakt so gemacht, wie es uns der Guide bei der Aufgabe gezeigt hat, Mann! Denkst du, ich bin so blöd und setze mein Leben aufs Spiel? Nee, es war ganz sicher richtig! Das war versuchter Mord", schiebe ich noch hintendrein
Herr Raab sieht mich durchdringend an. "Nach so einem Schock ist es verständlich, dass du dir nicht eingestehen möchtest, dass du selbst der Auslöser warst. Allerdings ist es unfair, die Schuld in anderen zu suchen. Versuchter Mord, das ist nichts... nichts, was mein einfach jemandem anhängen könnte."
Ich sehe ein Funkeln in seinen Augen und plötzlich wird mir einiges klar. Er weiß es. Er hat genau gesehen, dass ich anwesend war, dass ich mitbekommen habe, was geschehen ist. Und wenn ich nicht sofort den Mund halte, dann bin ich schneller von der Bildfläche verschwunden, als ich "Hochseilgarten" sagen kann.
Ich weiß nicht, warum ich mir dessen so sicher bin, aber das bin ich. So drücke ich widerwillig heraus: "Jaaah, kann sein, dass ich daran Schuld war..." Herr Raab lächelt wieder. "Du kannst entweder nach Hause fahren oder hier bleiben, wie du möchtest. Bleibst du allerdings hier, wirst du die sportlichen Aufgaben missen müssen."
Gedanken schießen im Schnelldurchlauf durch mein armes Hirn und ich wäge die Vor- und Nachteile ab. Er wird mich nicht einfach nach Hause schicken, nach dem, was ich gesehen habe. Ich weiß zwar nicht viel und doch ist es zehnmal mehr als ich sollte.
Meine Überlebenschancen sind um einiges größer, wenn ich hierbleibe und irgendwann versuche, abzuhauen. Vielleicht zu Laura.
"Ich bleibe", erkläre ich deshalb dem verblüfft wirkenden Herrn Raab. "Vermutlich werde ich ohnehin bald heimgeschickt werden, aber ich will bei meinen Freunden bleiben."
Hm. War vermutlich ein wenig zu dick aufgetragen, doch Herr Raab scheint es mir abzunehmen. "Sehr gut", sagt er. "Bis morgens habe ich dir sicher einen Rollstuhl besorgt."
Gerade, als ich mich wieder ein wenig beruhigt habe, schießt mir ein Name durch den Kopf. Laura. Mein Herz rast und wäre ich nicht schon im Bett gelegen, wären mir sicher die Knie eingeknickt.
Ich kann nicht warten, bis der Veranstalter gewaltsam dafür sorgt, dass ich verschwinde. Ich muss es von selbst tun. Und zwar bald.
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