Tell Me Your Name
Es ist irgendwann am Abend. Zu spät für den Polizisten, um nicht deprimiert zu werden, wenn er auf die Uhr sieht. Nachtschichten hasst er. Nachtschichten zu Weihnachten hasst er noch mehr. Er betritt sein Büro und stellt die Tasse dampfenden Kaffee vor dem Fünfundzwanzigjährigen Mann ab, der auf der falschen Seite des Schreibtisches sitzt. Der Kaffee ist schlecht. Das weiß er. Es ist der billige Kaffee des Großraumbüros, der schmeckt wie schon einmal aufgegossen.
Ist alles in Ordnung? Kannst du sprechen?
Der Mann nickt und der Polizist setzt sich auf die richtige Seite des Schreibtisches. In seinen Bürosessel.
Dann erzähl. Wann habt ihr euch kennengelernt?
Der junge Mann sieht auf, bemerkt jetzt erst den Kaffee vor sich und legt die Hände darum. Sie sind lang, schlank und kräftig, umgreifen den lackierten Ton jedoch unsicher, zittrig, als könnte die Tasse unter zu viel Druck zerbrechen.
Es war vor drei Wochen, dass ich seinen Account das erste Mal wahrgenommen habe. Er schrieb nie in den Chatroom, deswegen war es leicht zu übersehen. Aber er war die meiste Zeit online... Eigentlich frage ich mich... Wie lange er schon den Chat verfolgt hat, ohne etwas zu schreiben. Aber. Nachdem es mir einmal aufgefallen war, nahm ich den Namen immer wieder wahr. Er stand dort... Immer wieder dieser Name. Obwohl ich wusste, dass es nur ein Account-Name war. Ich hatte auch einmal den Verdacht, dass es nur ein Bug sei, aber dann hat er tatsächlich geschrieben. Nur eine Nachricht. "Hat jemand Lust mich zu entführen?" Das... hat er geschrieben.
Der Mann tippt mit dem Finger an die Tasse. Noch einmal. Vermutlich will er nicht darüber sprechen. Schließlich geht es hier um eine private Angelegenheit. Es ist etwas, über das man normalerweise nicht spricht. Nicht mit einem Fremden. Schon gar nicht mit einem Polizisten. Und der Polizist will es auch nicht hören. Er muss es. Eine Geschichte über die Liebe.
Ich hielt es für einen Scherz. Niemand in diesem Chatroom kannte sich persönlich, uns war lediglich klar, dass wir in der selben Stadt wohnten. So eine Aussage... konnte nur ein Scherz sein. Aber ich habe trotzdem geantwortet. Weil... ich Angst hatte es könnte kein Scherz sein. Während die Anderen im Chat es als Scherz abgetan haben, fragte ich warum er entführt werden wollte. Er gab darauf keine Antwort, doch er bat noch einmal darum. "Möchte jemand mich entführen?" Und mir wurde klar, dass er es wirklich ernst meinte. Er wollte entführt werden. Oder... besser gesagt er wollte von zu Hause weg laufen. Ich fragte warum er entführt werden wollte, doch er gab keine Erklärung ab. Er fragte nur noch einmal. Ich öffnete einen privaten Chat mit ihm, damit die anderen Mitglieder nicht alles mitbekamen. Schließlich... schien diese Angelegenheit sehr heikel zu sein. Es kam ein Gespräch zusammen, bei dem ich ihn alles Mögliche fragte, doch auf das Wenigste eine Antwort erhielt. Doch das wichtigste war, dass er zwanzig war, also nicht mehr minderjährig. Wenn er das nicht gewesen wäre... hätte ich mich wohl niemals darauf eingelassen. Schließlich will ich mir nicht mein ganzes Leben verbauen. Wenn er für eine Weile bei mir unterkommen wollte, dann zählte es weder als Entführung, noch von zu Hause davonlaufen, weil er volljährig war und freiwillig zu mir kam. Das... redete ich mir zumindest ein. Aber natürlich würden seine Eltern sich Sorgen machen, wenn er plötzlich nicht mehr nach Hause kam. Dieses Risiko musste ich wohl eingehen. Ich hätte mir mehr Sorgen gemacht, wenn er irgendwo unter einer Brücke oder in einer Gasse geschlafen hätte. Er wollte für zehn Tage bei mir bleiben, also machten wir uns einen Treffpunkt aus. Ich entführte ihn.
Dem Jungen Mann schleicht sich tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen. Es ist ein trauriges unangenehmes Lächeln.
In meinen Augen... war er wunderschön. Andere hätten ihn vielleicht als gewöhnlich bezeichnet... das war er vielleicht auch, mit seiner Brille und den Allerweltsklamotten. Er hatte kein besonderes Merkmal, war kein bildhübsches Model, aber... er war wunderschön. Sein Lächeln, die Art wie er mir zuwinkte, als er mich am Hut erkannte, den ich als Zeichen ausgemacht hatte und die Weise, wie er seinen Rucksack aufsetzte. Er war wunderschön. Mir hat mal jemand gesagt, dass ich ein Gespür für den Charakter eines Menschen habe. Egal wie jemand aussieht, das spielt wohl für mich keine Rolle. Wenn das stimmen sollte... dann fand ich ihn wohl auf Anhieb attraktiv, weil ich seine Seele mochte. Das klingt... ziemlich abgedroschen. Es klingt abgedroschen, aber... genauso war es eben. Ich habe ihn mit zu mir nach Hause genommen und... er hat mir nicht seinen Namen verraten. Er meinte ich solle einfach den Namen des Chatrooms verwenden. Und dann blieb er bei mir.
Er nippt an dem nun lauwarmen Kaffee. Nach der Erfahrung des Polizisten wird der Kaffee mit jedem Grad, den er kälter wird auch ekliger. Aber der Mann beschwert sich nicht. Er trinkt ohne zu meckern und langsam. Vielleicht will er Zeit schinden, um seine nächsten Worte zu wählen.
Wo haben Sie ihn hin gebracht?
Der Polizist schüttelt den Kopf.
Vielleicht erzähle ich Ihnen das, wenn wir hier fertig sind.
Der Mann fügt sich.
Wenn man es genau nimmt hat er mir nur auf der Tasche gelegen. Ich habe es ihm selbst angeboten, also kann ich mich darüber nicht einmal beschweren. Ich will mich auch gar nicht beschweren. Das... war einfach die Situation. Mein Sofa wurde zu seinem Reich. Er wollte mit mir ins Kino... in den Zoo... in einen Vergnügungspark... in Clubs. Wir unternahmen eigentlich jeden Tag etwas. Und einmal begeleitete er mich sogar mit auf die Universität. Er... lächelte immer. Eigentlich war er ein furchtbar fröhlicher Mensch. Gar nicht meine Natur. Aber gleichzeitig... war er furchtbar fragil. Wenn man ihm Fragen stellte... persönliche Fragen... dann schaltete er ab. Er wollte diese Dinge nicht beantworten. Und natürlich steckte mehr dahinter. Schließlich war er von zu Hause weggelaufen.
Er seufzt und blickt zur Seite. In seinen Augen ist eine Sehnsucht erkennbar, die der Polizist nicht nachempfinden kann. Er hat noch nie nach Jemandem verlangt, der für ihn nicht erreichbar ist.
Ich weiß gar nicht, wann ich angefangen habe zu lächeln, wenn ich morgens in mein Wohnzimmer kam und er auf der Couch schlief. Er sah dann immer so unschuldig aus. Der leicht offen stehende Mund... die langen Wimpern... das Haar, das ihm ins Gesicht fiel... und der freie Bauch, weil ihm das Shirt hoch rutschte. Wann genau... habe ich mich wohl in ihn verliebt? Ich weiß es nicht. Vielleicht bereits bei unserem ersten Treffen. Wenn er schlief... war er wie ein Kind. Doch dieses Kind schleppte mehr mit sich herum als es zugab. Das spürte ich. Er blickte manchmal auf sein Handy, das er nie anschaltete, als würde er darauf warten, dass es von allein an ging. Als würde er auf eine Nachricht hoffen. Oder eher darauf... dass keine Nachricht kam. Er wollte etwas sagen, doch gleichzeitig wollte er mir nicht die Wahrheit erzählen. Warum er von zu Hause weg wollte. Gestern hat er mich dann... Ich glaube ich habe gestern seine Situation etwas verstanden.
Wieder macht der junge Mann eine Pause. Diesmal, ohne es mit dem Trinken des Kaffees zu rechtfertigen. Er sitzt für einige Sekunden stumm da und scheint mit sich selbst zu ringen. Ob er wirklich darüber sprechen sollt. Der Polizist lässt ihn gewähren. Es gibt verschiedene Arten des Schweigens, die er bereits in allen Variationen bei verschiedensten Verhören kennengelernt hat. Und dieses Schweigen war keine Gehorsamsverweigerung, sondern dient lediglich dazu, sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen. Er presst die Lippen aufeinander und atmet dann tief durch, bevor er wieder aufsieht.
Am Morgen hat er unerwartet verlangt wandern zu gehen. Ein seltsamer Wunsch... kurz vor Heiligabend. Aber vielleicht fiel ihm auch nichts anderes ein, weil wir in den letzten Tagen bereits alles gemacht hatten, was man tun konnte. Das dachte ich zumindest. Doch jetzt glaube ich... dass dieser Ausflug das war, was er am meisten machen wollte. Auf diesen Berg steigen... Er übernahm die Führung an diesem Tag. Er packte unsere Sachen und bereitete das Essen vor. Dadurch, dass es so kalt war, begegneten wir so gut wie niemandem, als wir den Berg hinaufstiegen. Er wollte so hoch es nur ging. Irgendwann gab es keine Felder mehr und wir wanderten durch das leicht waldige Gebiet. Ich konnte wegen der Kälte mein Gesicht nicht mehr spüren und auch seine Nase und Wangen waren rot, doch er war unverändert fröhlich, zeigte auf alles, das ihn begeisterte. Wegen der Jahreszeit dämmerte es bereits, als wir oben auf der Aussichtsplattform ankamen. Er rannte zum Zaun und lachte beim Anblick der kleinen Stadt am Fuße des Berges. Er blickte darüber hinweg und für einige Minuten standen wir stumm da... ließen unsere Blicke über die Landschaft schweifen.
Dann atmete er tief ein und begann ohne Vorwarnung an zu schreien. Ein lauter, langer, tiefer Schrei, der eine Mischung aus Trauer und Verzweiflung mitschwingen ließ. Er schrie die Stadt an, doch der Ton verklang ungehört von denen, an die dieser Schrei gerichtet war. Genau wie die Worte, die er danach den Berg hinunter brüllte.
Er atmet tief durch und schließr für einen Moment die Augen. Vermutlich versucht er, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. An das, was der Andere gesagt hat. Und obwohl dieser die Worte geschrien hat, sagt der junge Mann sie langsam und bedacht. Leise und ohne jede Wut darin.
Ich bin fertig mit euch! Was soll das heißen, ich muss die Firma übernehmen? Habt ihr mich überhaupt gefragt?! Ihr habt mich nie gefragt- Nie beachtet was ich wollte! Bin ich euer Spielzeug? Nein, ein Werkzeug! Soll ich eure Fehler gerade biegen?! Was soll das heißen ich habe Pflichten? Ich bin ein freier Mensch! Ich darf leben wie ich will! Ich darf lieben wie ich will! Und ich darf sterben wie ich will! Es ist doch nicht meine Schuld, dass ihr euer Leben nicht auf die Reihe bekommt! Lasst mich in Ruhe! Lasst mir meine Freiheit! Ruft mich nicht an! Schreibt mir nicht! Sprecht nicht mit mir! Sucht nicht nach mir! Aber das würdet ihr nie tun! Ihr lasst suchen! Wann habt ihr jemals persönlich etwas getan? Liebe? Das ist keine Liebe! Ihr liebt nicht mich, sondern nur euer Geld! Ihr werdet mich niemals wieder bekommen!
Sein Blick wandert wieder zu der Tasse. Er seufzt und schüttelt den Kopf, als würde er etwas verneinen wollen.
Danach sind wir wieder nach Hause. Er hat sich entschuldigt, dafür dass er mir so viele Probleme bereitet. Aber ich habe es nicht als Problem gesehen... keinen einzigen Tag lang. Und er sagte... "Ich wünschte ich dürfte dich lieben." Ich habe die Worte nicht verstanden... Ihre Bedeutung. Und ich traute mich nicht ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Doch mir wurde bewusst, dass es der letzte Tag war... Dass er den nächsten Tag gehen würde. Ich wollte ihm einen angenehmen Abshied bereiten... Und mcih auch selbst trösten... Wir würden uns sicher nicht wiedersehen. Also ging ich einkaufen, um etwas zu kochen... Ich war nur... nur eine Stunde...
Er schluckt. Die nächsten Worte kommen ihm schwer über die Lippen. Der Polizist kann es ihm nicht verdenken.
Er lag im Badezimmer und... das Blut war überall. Ich konnte nicht denken... Ich habe ihn gepackt und versucht das Blut zu stoppen. Ich weinte und mein Kopf war leer. Dann hat er gesprochen... Er hat mich angesehen. Und diese Worte... haben mich wieder zu Sinnen geholt. "Hilf mir..." Es war nicht sein Leben, das ich retten sollte, sondern seine Seele... glaube ich... Er weinte... Er hatte Angst... Aber nicht vorm Sterben. Also... küsste ich ihn... und sagte... ich würde ihn nie wieder los lassen... und...
Den Rest kennt der Polizist und lässt dem jungen Mann Zeit, um sich zu beruhigen. Die Tränen unterdrückend krampft dieser die Finger um die Tasse. Es wirkt nicht mehr, als würde er die Tasse beschützen wollen. Er klammert sich an sie, als würde sie stattdessen ihn schützen. Vor der Realität.
Wo... ist er? Bitte...
Der Polizist lächelt schwach. Der junge Mann kann einem wirklich leid tun. Er hat den Rettungsdienst gerufen und alles versucht, um seinen Geliebten am Leben zu halten, obwohl er verzweifelter war, als der Polizist sich vorstellen kann. Mit solchen Situationen hat er zwar des Öfteren zu tun, doch natürlich kann man nie wirklich nachvollziehen, wie die Betroffenen sich fühlen. Er blickt auf die Akten vor sich. Der "Entführte" ist ein Student und Erbe einer Firma. Doch die Familie scheint nicht gerade glücklich zu sein. Zumindest wenn man den Gerüchten glauben schenken will. Vielleicht hatte der Sohn der Familie von Anfang an geplant Suizid zu begehen. Er klappt die Akte zu.
Die Befragung ist beendet. Falls wir weitere Details von Ihnen brauchen, werden wir Sie kontaktieren. Wegen dem Opfer
Er steht auf und tippt auf die Mappe.
Ich mache mich auf den Weg ins Krankenhaus. Ich kann Sie mitnehmen. Wenn wir uns beeilen sind wir da, bevor er aufwacht. Und vielleicht verrät er Ihnen diesmal seinen Namen.
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