
KAPITEL VIER
Ich wachte ruckartig auf, als ich fiel. Orientierungslos sah ich mich um. Ich lag in einer schmalen Lücke zwischen einem fremden Couchtisch und einem fremden Sofa, von dem ich vermutlich gerade eben herunter gefallen war. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Ich erinnerte mich nur noch schwach daran, wie ich auf dieser Couch gelandet war.
Simons Freundin – Ally – hatte uns ins Haus geschubst und uns dann mürrisch ein paar Decken und Kissen zugeworfen, bevor sie wieder den Flur entlang nach hinten in ihr Zimmer geschlurft war. Simon und ich hatten uns die Decken und Kissen aufgeteilt und uns dann halb tot auf die beiden Sofas fallen lassen, die im Wohnzimmer gestanden hatten.
Ich wühlte mich aus der Decke hervor, die ich mit mir auf den Boden gezogen hatte und stand auf. Dann sah ich mich um. Die Wände des Hauses waren aus Holz, wie auch fast alle Möbel. Es sah alles etwas wild zusammengewürfelt aus, beinahe wie aus einem Secondhandshop, was es auf eine merkwürdige Art wiederum richtig gemütlich machte. Ich streckte mich und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als ich merkte, wie verspannt mein Nacken und mein Rücken waren. Eine Couch war einfach nicht zum darauf schlafen gedacht, aber ich würde mich nicht beschweren, immerhin war es besser als der Autositz in Simons 1990er Ford Escort.
„Hey, bist du auch schon aufgewacht?", Simon stand im Türrahmen der vermutlich zu der anliegenden Küche führte. In der Hand hielt er eine Tasse, die leicht dampfte. „Auch einen Kaffee?", fragte er mich und hielt mir die Tasse entgegen. „Ich habe noch nicht daraus getrunken."
Ich schüttelte müde den Kopf und kam zu ihm hinüber. Ich mochte keinen Kaffee, mir war eher nach einem Glas Wasser zumute. Als ich die Küche betrat blieb ich wie angewurzelt stehen, etwas überrumpelt von dem, was ich sah.
Am Herd stand Ally, den Rücken mir zugewandt. Sie hatte ihre Haare zu einem unordentlichen und wilden Dutt auf dem Kopf zusammen gebunden und Kopfhörer in den Ohren. Zu der Musik, die nur sie hören konnte tanzte sie, während sie in einer Pfanne Pancakes briet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Kurz nach dem aufstehen war es definitiv zu viel verlangt jemandem dabei zu zusehen, wie er die Hüften schwang.
In dem Moment vollführte Ally eine Drehung und erblickte mich. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und nahm die Kopfhörer aus den Ohren.
„Na endlich, Schlafmütze! Ich dachte schon, du wachst nie auf! Hab extra keine laute Musik angemacht, damit du noch in Ruhe pennen kannst.", meinte sie stürmisch.
Heute Nacht war mir das überhaupt nicht aufgefallen, aber als ich sie jetzt bei Tageslicht sah, viel mir auf, dass sie Tattoos hatte. Zwei Rosenranken schmückten jeweils ihre Schlüsselbeine, über der Ellenbeuge ihres rechten Armes hatte sie einen kleinen farbigen Regenbogen tätowiert und auf einen Fingerknöchel hatte sie sich das Venussymbol stechen lassen. Das und die schwarzen Klamotten, der Eyeliner und ihre impulsive frische Art verliehen ihr etwas ungezwungen, selbstbewusstes, das ich bewunderte. Sie war wirklich cool. Vielleicht hatte Simon doch Recht gehabt, dass man sie einfach lieben musste.
„Pancakes?", unterbrach sie meine Gedanken. Ich nickte und wandte mich schnell ab, ich wollte nicht, dass sie bemerkte, dass ich sie angestarrt hatte. Irgendwie war es mir peinlich. Wieso zum Teufel war es mir bitte peinlich? Himmel, wenn Simon und Ally meine Gedanken hören könnten würden sie vermutlich von der puren Masse erschlagen werden.
Ein bisschen fühlte ich mich so wie in dem Lied, das gerade im Hintergrund lief. Ally hatte ihr Handy mit einer Bluetoothbox verbunden, sodass ich jetzt auch hören konnte, wozu sie eben noch getanzt hatte: Foreign Tides von RY X. Es war ruhig und doch so intensiv melodisch, wie ein rhythmischer Sog.
Simon zog mich zu den hohen Stühlen, die an einem Tresen in der Küche standen. Wir setzten uns und warteten, bis Ally fertig mit den Pancakes war. Dann setzte sie sich zu uns und wir machten uns über das Essen her. Es war zwar mit Sicherheit noch nicht so lange her, seit Simon und ich uns in dem Buffet den Magen voll geschlagen hatten, aber ich hatte schon wieder Hunger.
„Also du bist Kath?", begann Ally mit vollem Mund während sie mit der Gabel auf mich zeigte. Ich nickte.
„Cooler Name. Wie auch immer... Simon hat mir erzählt, wo er dich aufgegabelt hat.", kam sie gleich auf den Punkt. Meine Stimmung sank augenblicklich in den Keller. Ich war zwar einerseits froh, dass Simon es ihr erzählt hatte, während ich noch geschlafen hatte und nicht hatte zuhören müssen, andererseits tat es aber auch verdammt weh. Ich wollte nicht darüber nachdenken und noch weniger wollte ich, dass andere darüber nachdachten. Ich hatte Angst, sie würde mich jetzt abstempeln, in eine Schublade stecken und nie wieder auf eine andere Art und Weiße betrachten.
„Das ist schon eine verdammt harte Scheiße.", meinte sie nur und in jedes einzelne Wort legte sie so viel Wut und Schmerz, dass ich sie überrascht ansah. Es hörte sich fast so an, als wüsste sie genau, wie ich mich fühlte. Doch ich wagte nicht, sie danach zu fragen, nickte nur und senke meinen Kopf wieder. Die Haare fielen mir ins Gesicht, was mir ganz recht so war, ich wollte nicht, dass die beiden sahen, dass mir die Tränen in den Augen standen. Es machte mich fertig, weil ich noch nicht einmal selber wusste, warum mich das gerade so traf. Ich war überfordert mit den Gefühlen in mir drin.
„Oh, weißt du überhaupt schon, warum ich nach Edmonton gehe?", wechselte Ally urplötzlich das Thema. Ich schüttelte verneinend den Kopf, an diese plötzlichen Themenwechsel würde ich mich noch gewöhnen müssen. Seltsam, wie schnell man Dinge verlernte, wenn man sich abschottete. Ich stocherte mit einem Stück meines Pfannkuchen in dem Ahornsirup herum, der sich golden und dickflüssig am Rand meines Tellers gesammelt hatte.
„Dachte ich mir schon. Ich muss hier raus. So einfach. Meine Eltern sind schrecklich konservativ und kommen mit meinem Aussehen und dem ganzen Kram überhaupt nicht klar.", dabei machte sie eine ausschweifende Handbewegung, die sich auf alles und nichts beziehen konnte. „Und das kotzt einfach derbe an. Gerade sind sie auf ihrem alljährlichen Urlaub, deswegen ist jetzt der richtige Zeitpunkt, meine sieben Sachen zu packen und zu gehen.", erklärte sie mir.
„Also läufst du davon?", fragte ich sie überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. So wie Simon es gestern gesagt hatte, hatte es sich angehört, als würde sie dort aufs College gehen und hätte nur eine Woche bei ihren Eltern verbracht oder so. Ich hatte mir ehrlich gesagt keine großen Gedanken darüber gemacht. Im Grunde gar keine Gedanken – ausnahmsweise.
„Nein.", ihre Stimme klang bestimmt. „Du läufst davon. Ich laufe auf etwas zu, das ist ein Meilen weiter Unterschied.", Simon legte sein Besteck auf den Teller: „Ally, bitte! Jetzt tu doch nicht so, also ob..."
Doch Ally lies sich durch ihn nicht einschüchtern. „Du läufst vor deiner Vergangenheit davon, was auch immer das sein mag, ich habe keine Ahnung und ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Was nicht egal ist, ist allerdings, dass du während du davon läufst aussiehst wie ein kleines Häufchen Elend! Ich meine schau dich an, was soll das für ein Abgang sein? Sollen sie dich so in Erinnerung behalten? Willst du dich so in Erinnerung behalten?", ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Mir fehlten die Worte. Sie hatte recht, sie hatte so verdammt recht. Ich rannte davon und die Tatsache, dass sie es ausgesprochen hatte tat verdammt weh. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Ich war feige, so würde ich nie ein neues Leben beginnen können. Denn ich lies das alte in Wirklichkeit überhaupt nicht hinter mir. Ich zog es immer mit, wohin ich auch ging. Und merkte es noch nicht einmal.
„Ally, hör auf! Du siehst doch, was du hier anrichtest.", unterbrach Simon sie nun ein zweites Mal und dieses mal um einiges bestimmter, während er mir beschützend eine Hand auf die Schultern legte. Ich zuckte unter seiner Berührung zusammen, doch er nahm seine Hand nicht zurück. Schwer spürte ich das Gewicht auf meinem Rücken und wusste nicht, ob es sich gut oder erdrückend anfühlte.
„Ich finde, sie sollte zumindest wissen, was ich denke.", warf Ally Simon vor.
„Das kannst du nicht machen.", schnitt er ihr das Wort ab. „Außerdem hast du ihr ja bereits gesagt, was du von ihr hältst, und das nicht gerade sonderlich einfühlsam!", setzte er in einem anklagenden Tonfall nach.
„Und wieso nicht, bitteschön? Bist du meine Mutter?", fauchte sie. Ihre Wangen glühten.
„Es geht nicht um dich und auch nicht um mich. Wenn du mit dieser Scheiße jetzt anfängst machst du alles kaputt.", stellte er mit funkelndem Blick klar.
Ich fühlte mich unbehaglich. Ich mochte es nicht, wie sie über mich hinweg stritten und ich noch nicht einmal wusste, um was es ging. Ich hatte das Gefühl als ging es bei ihrem Streit um etwas ganz anderes – nicht um mich. Ohne es beim Namen zu nennen sprachen sie über etwas viel Tieferes.
„Von was redet ihr?", warf ich deshalb dazwischen. Beide sahen mich an und verstummten, beinahe als hätten sie ganz vergessen, dass ich alles mitgehört hatte. Das war nichts neues für mich, Leute um mich herum vergaßen oft, dass ich direkt neben ihnen saß. Ich ging einfach immer in der Gruppe unter. Meistens hatte es seine Vorteile. Manchmal aber auch nicht.
„Ok", meinte sie dann und nahm die Hände in die Luft, als würde sie verhaftet. „Ich sage, was ich denke: Ich denke, sie braucht mal eine kleine Auszeit.", sie sprach immer noch zu Simon, doch ihr Blick bohrte sich in meine Augen. Die Haare auf meinem Nacken stellten sich auf. Was meinte sie? Auf was wollte sie hinaus? Ich fühlte mich von der Situation – oder von ihr – minimal überrumpelt.
„Du hast doch noch überhaupt nicht gelebt! Du hast vielleicht vegetiert, aber das reicht nicht. Du darfst nicht aufgeben, bevor du überhaupt weißt, was du da weg schmeißt, verstanden! Du schmeißt dein verdammt noch mal einziges Leben weg und das all derer, die dich lieben mit dazu!", ihre Stimme glühte vor innerer Überzeugung und ihre Augen glitzerten. Waren das etwa Tränen? Ich erschrak, wie schnell hatte sich dieses Frühstück doch in etwas komplett anderes gewandelt. Und wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass Ally mehr als jeder andere, dem ich je begegnet war, wusste, wovon sie sprach?
Simon unterbrach die angespannte Stille. „Wir haben vorhin schon darüber gesprochen, als du noch geschlafen hast, ich wollte nicht, dass sie es dir sagt, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest. Aber wie es aussieht ist es dafür jetzt zu spät, also kann ich es dir genau so gut auch einfach sagen: Ally ist der Ansicht, dass wir alle für ein paar Tage aussteigen sollten um einfach mal Zeit zu haben mit uns selbst klar zu kommen.", während er sprach malte er dabei immer wieder Anführungszeichen in die Luft, vermutlich, weil er Ally dabei zitierte. Die Stille hielt an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich bemerkte, dass mein Mund offen stand und klappte ihn schnell wieder zu.
Der erste Gedanke den ich hatte war, dass Ally definitiv nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Der zweite war, das ich so etwas niemals machen würde. Und der dritte, dass es eine auf eine unglaublich dumme Weiße geniale Idee war. Ich sah zu Simon. Sein Gesichtsausdruck schwebte zwischen amüsiert und lass-den-Quatsch. Dann sah ich zu Ally. Sie hatte ihre Hände inzwischen wieder sinken lassen und saß jetzt super entspannt auf ihrem Hocker. Den Mund zu einem selbstgefälligen Grinsen verzogen. Sie wusste, dass sie gewonnen hatte und genoss es. Simon würde ihr nicht widersprechen, er war nicht der Typ dazu und ich würde es auch nicht tun.
Alles was sie eben gesagt hatte war wahr: Ich hatte nicht gelebt. Und wenn ich nicht bald heraus fand, wie sich Leben anfühlte würde ich es vielleicht nie erfahren.
„Simon, ganz ehrlich. Du bist ein klasse Typ, aber vergiss deine Familie und deine Tante mal für eine Sekunde. Hab mal Spaß.", redete sie auf ihn ein. Ehrlich? Ally könnte eine Ausbildung in einer Werbeagentur machen und würde vermutlich binnen einer Woche zur Leitung aufsteigen.
Simon stieß den angehaltenen Atmen zwischen den Zähnen aus und runzelte die Stirn während er die Hände hinter seinem Kopf verschränkte. Ich konnte die Zahnrädchen hinter seiner Stirn sprichwörtlich rattern sehen, während er darüber nachdachte, ob er sich auf dieses kopflose Unterfangen einlassen sollte.
„Ok.", gab er sich geschlagen. „Ok, lass uns dieses Wochenende auf den Kopf hauen.", Ally grinste und ihr Grinsen wurde zu einem ausgelassenen tiefen Lachen. Es hätte verrückt klingen können, aber für mich klang es einfach nur echt; ungefiltert.
„Zum Glück ist in dir doch noch so etwas wie der juvenile Leichtsinn zu finden, ohne dich und dein Auto wären wir in Kanada nämlich nicht gerade weit gekommen.", schmunzelte sie.
„Ich weiß.", antwortete Simon mit einem Grübchen in der Wange und zerzauste ihr mit einer Hand das wilde Haar. Ally schrie lachend auf und wich ihm aus.
Heilige Scheiße, was tat ich hier bloß? Früher hätte ich mich auf so etwas nicht einmal im Traum eingelassen doch jetzt fragte ich mich, was Ally wohl damit gemeint hatte, dass ich diese Auszeit vom Alltag bräuchte. Sah ich so fertig aus? Oder wusste sie wie ich fühlt und wollte mir helfen, weil sie das alles selbst schon einmal durchgemacht hatte. Vielleicht brauchte sie dieses Abenteuer auch einfach nur selber und ich war der Vorwand? Ich merkte, wie meine Gedanke in eine dunkle Spirale abdrifteten. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig stoppen und schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, wie lästige Obstfliegen.
„Cool, vielleicht sollten wir uns dann mal überlegen, wo wir hinwollen, das Wochenende wartet nicht auf uns und es ist jetzt ohnehin schon halb drei mittags.", meinte Ally, während sie auf die Uhr ihres Handys blickte. „Wie wäre es: Ihr räumt den Kram hier auf", bei diesen Worten machte sie eine ausschweifende Geste, die unser Geschirr mit einschloss „und ich schaue mal, wo wir hier noch ein paar Landkarten haben. Ich finde wir sollten es auf die klassische Art machen, ohne Navi, das hat viel mehr Stil.", mit diesen Worten verschwand sie aus der Küche und lies Simon und mich etwas überrumpelt mit der plötzlichen Wendung zurück. Wir blickten uns an und mussten grinsen. „So, jetzt weißt du, wie Ally drauf ist. Das ist die erste Hälfte ihrer Persönlichkeit", meinte Simon nur. Dann standen wir auf und begannen, das Geschirr im Waschbecken abzuspülen. Ich fragte mich, was wohl diese zweite Hälfte ihrer Persönlichkeit sein könnte. Vielleicht hatte sie ja sogar was damit zu tun, wie ernst Ally mich eben angesehen hatte. Als wüsste sie genau, was in mir vorging, weil es bei ihr genau so war. Vielleicht war Ally ja auch... Stopp. Dummer Gedanke. Dummer Gedanke. Dummer Gedanke.
Meine Gefühle fuhren Karussell und konnten sich offensichtlich nicht entscheiden, was passend für diese Situation war. Ich wusste es auch nicht.
Simon trocknete gerade den letzten Teller mit dem inzwischen feuchten Handtuch ab, während ich den Ahornsirup wieder an einen freien Platz zurück in den Kühlschrank stellte, als Ally mit einem Stapel zerfledderter Karten zurück in die Küche kam.
Sie war die ganzen Karten unachtsam auf den Tisch, wodurch eine kleine Staubwolke aufstieg, die mich zum niesen brachte. „Die waren wohl schon länger nicht mehr in Gebrauch, was?", fragte ich, während ich mit den Händen den Staub vor mir weg zu wedeln versuchte.
„Nope.", meinte Ally nur mit einem Lächeln auf den Lippen, setzte sich hin und verschwand hinter einer der Karten, die sie vor sich auffaltete.
Simon und ich setzten uns zu ihr und tauchten ebenfalls hinter zwei Karten unter. Die Farben waren inzwischen ausgeblichen und die Ecken ganz rund, aber das verlieh ihnen fast noch mehr von dieser viel gereisten Ausstrahlung, die Karten in meiner Fantasie einfach immer hatten.
„Was haltet ihr davon: Jeder sucht sich drei Orte aus, zu denen er unbedingt will und die halbwegs auf der Strecke nach Edmonton liegen?", schlug Simon vor. Ich nickte und Ally grunzte zustimmend. Erst als Simon mich beim Name nannte fiel mir auf, dass er mein Nicken hinter der Karte überhaupt nicht hatte sehen könnte. Schnell räusperte ich mich: „Ja. Passt."
Eine Weile hörte man nichts außer das extrem laute Ticken einer Uhr, die wohl irgendwo im Wohnzimmer hängen musste und hin und wieder dem Blättern von einem von uns in den Landkarten. Ich brauchte nicht lange, um mich für die paar Orte zu entscheiden, an die ich wollte. Die Tatsache, dass mein Dad nie das Geld und die Zeit für so etwas gehabt hätte hatte mich früher nie daran gehindert trotzdem zu träumen und Routen zu planen, die ich irgendwann einmal fahren würde, wenn ich älter war. Ich hatte es beinahe vergessen, an wie viele Orte ich noch hatte reisen wollen, bis ich jetzt wieder in einer Landkarte versank.
Mit meinen kleinen Kinderfingern war ich die Linien nachgefahren, die die Highways darstellten. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich dort hin reisen würde und was ich dort alles erleben würde, all die wundervollen Abenteuer voller geheimer Wesen und noch nicht entdeckter Wälder. Kinderträume.
„Habt ihr schon was?", fragte Ally schließlich, legte ihre eigene Karte auf den Tisch und blickte uns an. „Ja, denke schon.", meinte Simon.
Im Endeffekt hatte jeder von uns doch mehr als drei Orte gefunden, zu denen er fahren wollte und Ally kreiste sie alle mit einem schwarzen Edding auf ihrer Karte ein, damit wir auch ja nichts vergaßen. Als wir fertig waren diskutierten wir erst mal eine geschlagene halbe Stunde darüber, welche Orte wir nun streichen würden, weil sie zu uninteressant, zu weit weg oder sonst irgendwie nicht passend waren.
Als wir uns endlich geeinigt hatten war auf der Karte fast nichts wieder zu erkennen, weshalb wir unsere Ziele noch mal auf einer neuen Karte einkreisten. Es war nicht unbedingt die kürzeste Route, die wir hätten wählen können, da sie erst mal für gute 600 km nach Westen führte und dann in einem großen Bogen wieder zurück nach Osten in Richtung Edmonton ging. Unsere Route führte von Canmore zum Lake Louise, dann weiter nach Nordwesten zum Jasper National Park und schließlich über einige kleine Siedlungen wie Snaring und Edson zurück nach Osten und direkt nach Edmonton.
„Wenn wir durchfahren sollten wir ungefähr neun bis zehn Stunden brauchen.", rechnete Ally im Kopf aus. Ich hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber ich hatte generell wenig Ahnung von Autos und Roadtrips.
„Tja.", ich blickte auf die Uhr. Es war inzwischen halb vier nachmittags. „Wenn wir das auch nur ansatzweise schaffen wollen sollten wir vermutlich sofort aufbrechen.", schlug ich vor.
„Geht klar, ich brauch nichts, also können wir meinetwegen auch sofort los.", stellte Ally fest und blickte auffordernd zu Simon der uns offensichtlich mit seinem kleinen Ford Escort würde fahren müssen. Ally überraschte mich jede Sekunde wider aufs neue. Wie konnte man absichtlich ohne irgendetwas mitzunehmen aufbrechen. Würde sie nichts vermissen? Vermutlich nicht, Ally war ganz offensichtlich nicht diese Art Mensch. Sie hatte es gesagt: Sie rannte auf etwas neues zu, sie würde sich ihr Leben in Edmonton neu aufbauen. Aber war ich selbst denn so viel besser? Mit was war ich aus Calgary fortgegangen? Auch nicht mit mehr, als dem, was ich bei mir getragen hatte.
„Ach und übrigens, Kath, wir haben keinen Zeitdruck: Simon will die Uni sowieso abbrechen, ich fange nochmal von vorne an, egal ob an einem Sonntag oder einem Donnerstag und du hast ja auch nicht, wo du pünktlich um acht Uhr morgens am Montag wieder zurück möchtest, oder doch?", sie zog eine Augenbraue in die Höhe. Geschlagen schüttelte ich den Kopf und konnte mir ein kleines Grinsen nicht vergreifen. Wieso waren Menschen immer so auf Zeit und Pünktlichkeit fixiert? Wieso war ich das? Es wurde Zeit, etwas daran zu ändern.
Weil wir also sonst nichts mehr zu erledigen hatten verließen wir kurzerhand das Haus. Ally schloss die Tür hinter sich ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten, wo ihre Eltern ihn dann bei ihrer Rückkehr finden würden. Sie hatte ihnen keine Nachricht hinterlassen, was mich eigentlich kaum noch verwunderte. Vielleicht würden sich auch ihre Eltern keine Gedanken machen, vielleicht war das auch nur wieder eine weitere typisch Ally Aktion. Ich wusste es nicht und es war mir ehrlich gesagt auch ziemlich egal.
Simon setzte sich wieder hinters Steuer, Ally machte sich auf dem Beifahrersitz breit und verstaute ein abgenutzt aussehendes Skateboard, das sie eben noch aus der Garage geholt hatte im Fußraum. Ich hatte die gesamte hintere Sitzreihe für mich alleine. Simon fuhr aus der Einfahrt von Allys Eltern und auf die Straße. Los ging es. Ich hatte gemischte Gefühle, auf der einen Seite war ich aufgeregt und kribbelig darüber, dass ich endlich ein Abenteuer in meinem eigenen Leben erfahren würde doch auf der anderen Seite biss das schlechte Gewissen und ich wusste einfach keine Antwort auf die Frage, was in mich gefahren war, dass ich das hier tat.
Ich kannte weder Simon noch Ally, sie konnten genau so gut zwei verrückte Kommilitonen sein, die junge depressive Mädchen, die an ihrem Coming Out zu Grunde gingen, verschleppten. Oh Gott, mein Kopf war ein einziges Kino für Horror Filme. Absurde Horrorfilme. Es gab keine Nicht-Heterosexuelle-Menschen-jagende, Skateboard-fahrende, Tante-aus-Edmonton-holende jugendliche Killer.
Ally hatte die Landkarte aufgefaltet und gab Simon für den Anfang ein paar Anweisungen, wo er hinfahren sollte, bis wir auf dem Highway wären, während ich mich im hinteren Teil des Autos gemütlich einrichtete und meine Schuhe auszog. Es würde eine lange Fahrt werden, wieso sollte ich sie also nicht mindestens genießen?
Als wir auf die Schnellstraße einbogen legte Ally die Karte zur Seite und und blickte im Rückspiegel zu mir. Unsere Blicke trafen sich und sie lächelte mich an. Meine Gedanken wurden vernebelt von einem merkwürdigen Gefühl, das ich nicht wirklich in Worte fassen konnte.
Ich sah benommen zu Boden und räusperte mich mehr oder weniger überzeugend um den Klumpen aus meinem Hals zu bekommen.
„Oh, scht!", warf in dem Moment Simon ein und drehte den Lautstärkeregler für die Musik auf. „Das ist doch ein passendes Lied für uns drei Fremde, was.", schmunzelte er. Strangers von Sigrid begann ganz sanft zu spielen. Manchmal war das Schicksal wirklich etwas ironisch.
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