KAPITEL SECHZEHN
Frierend stiegen wir gemeinsam mit dem hyperaktiven Beagle in Simons Auto und er drehte die Heizung voll auf. Meine Wangen und meine Nase waren von der Kälte draußen bereits ganz rot und taub und auch die Tatsache, dass ich jetzt fast keine Haare mehr auf dem Kopf hatte trug dazu bei, dass ich fror. Aber Ende September konnte man dagegen wohl auch nichts machen.
„Also, wir haben noch circa eine Stunde lang Zeit, das zu tun, worauf wir Lust haben, bevor wir nach Edmonton weiterfahren müssen.", stellte Simon fest und sah dabei auf die Uhr auf dem Armaturenbrett, die orangen aufleuchtete. „Ja, schon klar.", stellte ich enttäuscht und neugierig zur gleichen Zeit fest und wartete darauf, dass er endlich mit ein paar Informationen herausrückte.
„Ich meine: Natürlich kann ich jetzt nicht mit so einer coolen Idee wie Lake Louise um die Ecke kommen, aber immerhin ist es unsere letzte gemeinsame Zeit dieses Wochenende und ich finde da sollten wir noch einmal etwas Spaß haben.", erklärte er nervös. Er schien sich nicht mehr so ganz sicher zu sein, ob die Idee bei uns gut ankommen würde und wollte offensichtlich unsere Erwartungen herabsetzten, sodass wir nicht all zu enttäuscht wären.
„Hey.", warf Ally vorsichtig aber bestimmt ein, sie schien seinen Rückzieher auch bemerkt zu haben. „Ich finde es cool, dass du dir auch etwas überlegt hast, dann haben wir alle auf unsere Weiße zu dem beigetragen, was uns auf diesem kleinen Trip passiert ist. Das ist doch super. Mach dir nicht immer so einen Stress um das, was andere von dem denken,was du tust. Das haben sie meistens gar nicht verdienst... also, wir schon.", fügte sie dann lachend hinzu. „Aber du verstehst, was ich meine.", sie hatte den Arm nach vorne ausgestreckt und ihm kameradschaftlich auf die Schulter gelegt, während sie ihn im Rückspiegel beobachtete. Er blickte sie im Spiegel kurz an und nickte dann mit zusammen gekniffenen Lippen, doch er lächelte schon wieder ein kleines Bisschen. Ally hatte den Umgang mit anderen Menschen einfach raus, ich war immer wieder aufs Neue davon fasziniert, wie sie jedem das Gefühl geben konnte, gut genug zu sein, ohne irgendwelchen leeren Argumente zu verwenden.
Also warf Simon erneut das Auto an und bog aus dem Parkplatz heraus auf die Straße, Snoopy war ganz begeistert und schaute hechelnd aus dem Seitenfenster hinter Simon.
„Wir sind da.", nuschelte er schließlich und setzte den Blinker. Wir bogen in eine leere Straße ab und von dieser wiederum in die Einfahrt eines Parkplatzes hinein. Ich sah mich verwirrt um. Ein Parkplatz? Mit allem Respekt: Was war daran eine Überraschung? Parkplätze hatten wir in den letzten zwei Tagen mehr als genug besucht.
Doch dann sah ich genauer hin und erkannte wo wir uns befanden. Es war kein Parkplatz, also ja unter anderem, aber neben dem Parkplatz befand sich ein Skater Park auf dem mehrere Menschen im Licht großer, heller Laternen mit ihren Skateboards herum fuhren, Tricks übten oder einfach nur an der Seite saßen und zusahen. Vielleicht war dieser Parkplatz tatsächlich doch keine so schlechte Idee. Kurz überlegte ich, ob ich ihn neckend fragen sollte, ob er die Straßen von Red Deer auswendig kannte oder ob Google Maps ihm da vielleicht ein wenig geholfen hatte. Schlussendlich entschied ich mich dagegen, Ally wäre zu Tode enttäuscht.
„Oh, Simon! Das ist eine ganz wunderbare Idee! Kommt!", rief Ally und war schon halb aus dem Wagen ausgestiegen. Wir folgten ihr und in einer stummen Übereinkunft entschieden wir uns wieder die ganzen Schals, Mützen und Handschuhe anzuziehen, auch wenn wir dann wie eine einzige bunte kleidungstechnische Katastrophe aussahen. Das war uns egal, wir hatten in den letzten zwei Tagen schon ganz andere Dinge getan, die viel verrückter gewesen waren, als einfach nur Kleidung zu tragen, die nicht perfekt zusammen passt und identisch mit der der anderen aussah. Es war kalt, das war Argument genug für uns.
„Oh, ganz nebenbei, Simon.", hakte Ally ein, während wir alles was wir brauchten aus dem Kofferraum heraus zogen. „Du hast doch nicht etwa gegoogelt, wo sich dieser Skater Park befindet?", verdammt, naja, dumm war Ally auch nicht. Simon zuckte nichtssagend die Schultern und schenkte ihr ein Schiefes Grinsen mit einem Tiefen Grübchen. Entgegen meiner Erwartung boxte sie ihn aber nur ironisch in die Seite und lachte, als sie ihr schwarzes Skateboard aus dem Fußbereich des Beifahrersitzes hervor zog.
Während Simon unsere letzten Überreste an Gummibärchen-Packungen und Chipstüten zusammensammelte und noch zwei Sprite unter einem der Sitze hervorkramte, wippte ich die ganze Zeit über nur auf meinen Füßen vor und zurück. Teils um Snoopy beschäftigt zu halten, der in immer währenden Kreisen um meine Beine herum rannte und teils, weil mir einfach kalt war.
„So.", meinte Simon und schloss den Wagen mit einem Klicken des Schlüssels ab. Ally lies ihr Skateboard auf den geteerten Boden fallen und stellte sich darauf, ein paar mal holte sie mit dem Bein Schwung, dann war sie auf und davon in Richtung der Skater Bahn. Ich sah ihr bewundernd dabei zu und fühlte mich gleichzeitig wie ein kleines Kind, das zum ersten mal etwas neues zu sehen bekam. Und, naja, das war ja noch nicht einmal gelogen. Snoopy schien ebenso begeistert von Allys neuem Fortbewegungsmittel, wie ich und ließ augenblicklich von mir ab, um ihr laut bellend hinterher zu hechten.
„Hey, können wir uns zu euch setzten?", ging Ally direkt auf eine kleine Gruppe Teenager zu, die am Rand der Bahn saßen und zusahen, wie andere herum fuhren und ihre Kunststücke vollführten. Die nickten einfach nur und rückten ein wenig auseinander, damit wir uns mit in ihren Kreis setzten konnten. Es erstaunte mich, wie selbstverständlich sie uns einfach mit aufnahmen, an meiner alten Highschool hätte ich nicht einmal im Traum an so etwas gedacht. Dort blieb jeder mit den Leuten zusammen, mit denen er bereits in der Grundschule befreundet gewesen war und man verließ diese Gruppen auch nicht, nie. In meinem Fall hatte das geheißen, den größten Teil meiner Pausen alleine zu verbringen, weil mir dieses Cliquengehabe schon immer zu anstrengend gewesen war.
Wir setzten uns mit auf die Decken, die sie auf dem kalten Untergrund ausgebreitet hatten. In der Mitte stand ein großes altes Sauergurkenglas, in dem ein kleines Feuer brannte. Kurz hatte ich Angst, Snoopy könnte sich in seiner Freude daran verbrennen, doch der Beagle kümmerte sich gar nicht um die Flammen sondern sammelte eine begeisterte Streicheleinheit nach der anderen ab. Ich sah mich verstohlen um. Es waren drei Jungs und zwei Mädchen. Einer von ihnen rauchte und das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren hielt eine Bierflasche in der Hand, aus der sie einen Schluck nahm und sie dann an denjenigen der neben ihr saß weitergab.
„Wer seid ihr? Wie heißt ihr? Ich glaube ich habe euch hier noch nie gesehen, wenn das richtig ist. Ich bin fast jeden Tag hier, also ist es im Grunde unmöglich, dass ich euch noch nicht bemerkt hätte, wenn ihr schon einmal hier gewesen wärt.", begann ein andere der Jungs das Gespräch. Er war dünn aber muskulös, trug schmutzige ausgetretene weiße Turnschuhe und eine Cap verkehrt herum auf seinem Kopf.
„Stimmt.", gab Ally zu. „Wir sind so zusagen nur auf der Durchreise."
„Will jemand Gummibärchen? Wir haben auch noch Chips mit Knoblauch-Geschmack.", bot Simon an und warf die noch ungeöffneten Packungen in den Kreis. Augenblicklich stürzten sie sich auf das Junkfood und rissen die Tüten auf. So etwas wie ein schlechtes Gewissen oder vorgetäuschte Höflichkeit gab es hier wohl nicht. Sollte mir recht sein, ich hatte das ohnehin immer furchtbar anstrengend gefunden.
Als sie die Tüte an uns weiter reichten nahm ich mir ebenfalls eine Hand voll Chips und schob mir ein paar davon in den Mund. Knoblauch war jetzt nicht unbedingt meine erste Wahl, aber irgendwo waren Chips immer noch Chips und schmeckten einfach immer gut.
„Willst du auch?", fragte mich der Junge neben mir und hielt mir die halb leere Bierflasche entgegen. Ich hätte mich ekeln sollen, weil ich nicht wusste, wer sie waren und wer schon aus dieser Flasche getrunken hatte, doch die letzten zwei Tage hatten mich, was solche Dinge anging, etwas abgehärtet und ich verfolgte nun mehr die Scheiß-drauf-du-wirst-nicht-daran-sterben-Strategie und bis jetzt war ich noch gut damit gefahren.
Also nahm ich sie lächelnd entgegen. Als ich die Flasche nahm, sah ich kurz die Hände des Jungen. Die Nägel waren schwarz lackiert. Der Lack blätterte zwar bereits wieder ab, aber es war unbestreitbar Nagellack. Erneut musste ich daran denken, dass die Welt voll mit Individuen war, die nicht der Norm entsprachen, die sich anders definierten. Und all die Jahre war ich blind für diese Kleinigkeiten gewesen und hatte mich so alleine gefühlt. Jetzt kam mir dieser Gedanke schon beinahe wieder lächerlich vor. Verschloss man absichtlich die Augen vor solchen Dinge? Weil man Angst hatte, sie darin wieder zu erkennen? Vermutlich schon.
Ich hob ihm die Flasche in einem imaginieren Prost entgegen, er grinste und ich nahm einen Schluck, dann reichte ich die Flasche an Simon weiter. Der lehnte dankbar ab, da er später noch würde fahren müssen und drückte Ally das Bier in die Hand, die einen genüsslichen Schluck daraus nahm.
„Also, was macht ihr drei hier auf der Durchreise", fragte das andere Mädchen. Sie hatte dunkle Haut, langes glattes Haar und wunderschöne, große, haselnussbraune Augen. Aber nicht annähernd so schöne Augen, wie Ally. Meine Ally. Himmel, wie war ich so schnell so kitschig und verliebt geworden? Ich schmunzelte in mich hinein.
„Lange Geschichte.", ich musste bei meinen eigenen Worten lachen, denn es war die Wahrheit. So viel war in den letzten paar Tagen geschehen, dass ich wirklich nicht wusste, ob ich mich überhaupt noch an alles erinnern konnte. „Sagen wir einfach mal, wir wollen alle nach Edmonton und das hat uns mehr oder weniger unfreiwillig zusammengewürfelt.", die genaueren Einzelheiten würden wohl keinen von ihnen interessieren und ich hatte auch keinen Drang, von meiner ersten Begegnung mit Simon zu erzählen. Nicht im geringsten.
Das Mädchen nickte bloß, keine Ahnung, was sie dachte, aber es war mir wirklich total egal. Ich musste mich vor ihr nicht rechtfertigen, vor keinem von ihnen, es fühlte sich gut an, niemandem etwas beweisen zu müssen, ich fühlte mich selbstbewusster.
„Also...", setzte der Junge neben mir an und schien zu versuchen herauszufinden, was wir hier taten und wer wir waren: „Ihr seid jetzt zum skaten gekommen oder zum trinken?", er hatte fast so wuscheliges Haar wie Simon und eine Hakennase, die mich verdächtig an Severus Snape erinnerte.
„Gute Frage!", rief Ally und sah mich auffordernd an. „Wir haben so etwas wie eine Mission. Also Simon und ich... ach ja, wo wir gerade dabei sind: wie heißt ihr den?", fiel sie sich selbst in die eigenen Worte und sah fragend in die Runde.
Das Mädchen mit den großen braunen Augen stellte sich als Maddy vor, die Blonde hieß Brooke, der Junge neben mir mit der wilden Haarmähne Caden. Die Namen der anderen beiden Jungs vergaß ich gleich nachdem ich sie gehört hatte. Egal. Hoffentlich.
„Ok, cool. Naja, wie gesagt wir sind auf einer Mission.", setzte Ally erneut an, nachdem auch wir uns vorgestellt hatten. Snoopy lief zwei mal um sie herum und ließ sich dann in ihrem Schoß nieder. „Eigentlich müssen wir alle aus den verschiedensten Gründen nach Edmonton und auf unserer Fahrt dahin wollten wir noch so viel wie möglich erleben, bevor der Ernst des Lebens wieder über jeden einzelnen von uns herfällt. Zum Beispiel habe ich Kath die Haare geschnitten.", erklärte sie strahlend. Als sie meinen Namen sagte, legte sie mir eine Hand auf die Schulter und lehnte sich an mich. Mein Herz hüpfte, meine Haut kribbelte und ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ihre Nähe zu mir löste aus, dass ich mich fühlte, als würde ich andauernd unter Strom stehen.
„Jo, wie cool. Richtig geile Aktion!", kommentierte einer der namenlosen Jungs. „Und was habt ihr als nächstes vor?"
„Offensichtlich kleine, süße Hunde ausleihen und Skateboard fahren, sonst wären wir ja wohl nicht hier.", stellte Ally lachend fest. „Klingt logisch.", kommentierte die Blonde.
„Ok, also.", wollte Maddy klarstellen und zeigte nacheinander mit dem Finger auf uns, während sie sprach. „Du", damit war Ally gemeint. „Fährst vermutlich bereits, sie ist noch eine Jungfrau und wird heute ihre Erstversuche starten und er?", fragend blieb sie mit dem Finger bei Simon hängen.
„Ich skate auf meinen Gitarrensaiten.", schmunzelte er, als hätte er nur darauf gewartet, das sagen zu können. Erstaunte Gesichter. „Wow, du spielst Gitarre? Gut? Was spielst du?"
„Er würde es euch nie sagen, weil er einer von der bescheidenen Sorte ist, aber er spielt verdammt gut und singen kann er auch noch und wenn ihr es hören wollt ist das kein Ding, weil sie hinten im Kofferraum liegt, also die Gitarre.", flüsterte Ally übertrieben geheimnisvoll. Für diesen Kommentar stieß Simon sie in die Seite und ihr Körper rutschte noch näher gegen meinen, wogegen ich überhaupt gar nichts einzuwenden hatte, im Gegenteil, unauffällig zog ich sie mit meinen Fingern um ihre Hüfte noch näher zu mir.
Ally zwinkerte Simon freundschaftlich zu und er ergab sich durch die Flut an Begeisterungsstürmen und stand auf, um seine Gitarre zu holen.
Kurz darauf kam er mit dem Instrument wieder zurück. „Irgendwelche Wünsche?", fragte er in die Runde.
„Oh, ich hab einen!", rief Brooke begeistert und strich sich ihr rapunzelblondes Haar mit einer beiläufigen Bewegung aus den Augen. „Kennst du zufällig The other side of paradise von Glass Animals?", wollte sie hoffnungsvoll wissen. Simon überlegte kurz und summte dann probehalber eine Melodie. Sie nickte begeistert. „Klar, geht das.", Simon brauchte kurz, bis er seine Akkorde zurecht gelegt hatte, dann begann er zu spielen. Ich kannte das Lied noch nicht, aber ich verliebte mich, sobald er begann zu singen. Es hatte eine leicht melancholische Melodie, die etwas langsamer war, aber einen wirklich coolen Beat hatte. Ich schloss die Augen und nickte mit dem Kopf im Rhythmus, während er die Saiten anschlug und den Bass auf dem Holz der Gitarre trommelte. Brooke sang mit ihm und es klang zauberhaft; zweistimmig.
Das Lied endete viel zu früh, ich hätte es in Dauerschleife hören können. Nach einer kurzen Pause ging er in ein neues Lied über. Simon war in seinem Element versunken und nahm um sich herum nicht mehr viel war. Wenn er spielte und sang glaubte ich, den Simon zu hören, der er gewesen wäre, wenn nicht all die Verantwortung auf seinen Schultern gelastet hätte. Ich sah nicht den Jungen, der den jungen Vater für seine kleinen Geschwister spielte, sondern einfach einen jungen Studenten, der es genoss sich durch Musik auszudrücken, der Spaß hatte und sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Die anderen hatten sich wieder ihrem Bier zugewandt und redeten wieder miteinander und genossen einfach die Musik im Hintergrund.
Das nächste Lied hieß Good Luck von Broken Bells und ohne Pause darauf folgte Needle in The Hay von Elliott Smith. Sobald ich wieder mein Handy in Händen und eine WLAN Verbindung im Haus meiner Mama haben würde, würde ich mir all die Lieder in einer Playlist speichern, damit ich sie nie vergaß. Nicht die Lieder und nicht die Abenteuer, an die sie mich erinnerten.
„Möchtest du das mit dem Skateboard jetzt mal ausprobieren?", flüsterte Ally mir leise ins Ohr. Ihre Lippen berührten dabei mein Ohrläppchen und ein Schauer jagte mir durch den Körper, von den Fingerspitzen bis in die Zehen.
„Ja, wenn du mich auffängst, wenn ich hinfalle.", grinste ich.
„Immer doch.", wisperte sie mir zurück. wir befanden uns unter einem Haufen anderer Menschen und trotzdem fühlte ich mich hier sicher. Ich konnte nicht sagen, was diese fremden Mittelschicht-Teenager von den Kleinstadtkids aus Black Diamond unterschied. Im Grunde nichts und trotzdem... vielleicht hatte auch ich mich verändert.
Ally zog mich in die Höhe und klemmte sich ihr Skateboard unter den Arm, dann zog sie mich auf den beleuchteten Skateplatz.
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