Wie jeden Morgen wurde Olivia vom gleichen nervtötenden Geschrei geweckt, welches aus dem Garten durch das offene Fenster in ihr Zimmer strömte. Genervt riss sie die Augen auf und schlug schnaubend ihre Bettdecke zur Seite. Sie ging zum Fenster und riss es mies gelaunt auf.
,,Hey!" brüllte sie hinunter in den Innenhof und die drei Kinder fuhren erschrocken zusammen.
,,Geht das auch leiser?" schrie sie sauer und die Kinder kicherten.
,,Entschuldige, Liv! Kommt nicht wieder vor!" rief das Mädchen ihr grinsend zu. Liv verdrehte nur die Augen. Das sagten die kleinen Scheißer jeden Morgen, seit drei Wochen. Und trotzdem weckten sie Liv jeden Tag um acht Uhr Morgens mit ihrem Geschrei auf, wenn sie im Garten spielten. Seufzend schlug sie das Fenster zu. Wenn es nicht so heiß wäre, würde sie es ohnehin auch in der Nacht geschlossen lassen...
Liv öffnete griesgrämig ihren Kleiderschrank und holte ein blaues Kleid heraus. Ihren Pyjama warf sie unordentlich auf ihr sowieso schon unordentliches Bett. Sie machte sich auch nicht die Mühe es aufzuräumen.
Mehr war in ihrem kleinen Zimmer auch nicht vorzufinden. Ein Fenster, ein Bett und ein Kleiderschrank. Liv streifte sich das blaue Kleid über und öffnete die Tür um ins Gemeinschaftsbad auf dem Gang zu gelangen und sich die Haare zu kämmen und das Gesicht zu waschen.
Seit drei Wochen lebte sie hier in Mrs Wilson's Waisenhaus für Hexen und Zauberer. Von einem Tag auf den anderen hatte sich ihr Leben von Grund auf geändert. Sie blickte in den kleinen Spiegel gegenüber von ihr und starrte in ihre dunkelgrauen Augen. Seufzend nahm sie die Haarbürste von der Kommode zu ihrer Linken und kämmte durch ihre langen, welligen schwarzen Haare. Sie musterte die silberne Kette, die sich um ihren Hals schlang. Der Anhänger umschloss eine schneeweiße Perle. Allein diese Perle war der Grund dafür, dass sie nun ihr Leben als herkömmliche Hexe führen musste.
Seufzend riss sie ihren Blick von der Kette los. Sie beugte sich über das Waschbecken und hielt mit der einen Hand ihr Haar aus ihrem Gesicht, während sie sich mit der anderen über das Gesicht wusch. Die kühle Berührung des Wassers löste Erinnerungen in Liv aus. Ein Stich fuhr ihr durch das Herz. Doch mittlerweile war es ihr möglich, ihren Schmerz zu unterdrücken.
Plötzlich hämmerte jemand hektisch an die Badezimmertür, was Liv erschrocken aus ihren Gedanken riss.
,,Liv, komm schnell frühstücken! Wir haben Besuch!" rief Evan durch die Tür, ein kleiner Junge der ebenfalls im Waisenhaus wohnte. Dumpf hörte sie, wie er wieder zurück die Treppen hinunter in die Küche rannte. Seufzend trocknete Liv ihr Gesicht ab und machte sich ebenfalls auf den Weg die Treppen hinunter.
In der Küche fand sie wie jeden Morgen das alltägliche Gewusel vor. Mrs Wilson stand lachend mit ihrer geblümten Schürze in die Küche, während die Kinder den Tisch deckten. Insgesamt wohnten neun Kinder im Waisenhaus. Olivia war mit Abstand die Älteste.
,,Guten Morgen, Liv! Hilf' doch bitte beim Tischdecken, ja?" säuselte die wie sonst auch jeden Tag quietschvergnügte Mrs Wilson, während sie das jüngste Mitglied ihrer Schützlinge auf den Hochstuhl setzte. Mrs Wilson war die Leiterin des Waisenhauses. Die gutherzige Frau war ein Squib, was sie jedoch nicht davon abhielt jungen Hexen und Zauberern ein Zuhause zu geben.
Liv trat stumm in die Küche und blickte sich verwirrt um. Heute waren sie nicht alleine, so wie jeden Tag bis jetzt. Am anderen Ende des Esstisches saß ein alter Mann mit langem, weißem Bart und einer kleinen Halbmondbrille auf der Nase. Er trug einen smaragdgrünen Umhang. Die Kinder saßen aufgeregt im ihn herum und redete prasselnd auf ihn ein, während der alte Mann ihnen lachend zuhörte.
Schließlich hob er den Blick und sah Liv über seine Brille hinweg interessiert an. Diese musterte ihn nur fragend und sagte nichts.
,,Professor Dumbledore ist hier!" quietschte Elenore, ein 12-jähriges Mädchen mit blonden Locken erfreut. Doch der Name sagte Liv nichts. Sie wusste weder was ein Professor war, noch wer Professor Dumbledore zu sein schien.
,,Sag guten Tag, Liv!" forderte Mrs Wilson sie auf.
,,Guten Tag!" sprach Liv. Professor Dumbledore lächelte.
,,Ich wünsche ebenfalls einen guten Tag, Olivia." grüßte Dumbledore sie zurück.
,,Weißt du, wer ich bin?" fragte er, als er Olivias fragenden Blick bemerkte. Sie schüttelte zögernd den Kopf.
,,Professor Dumbledore ist der Direktor von Hogwarts!" sagte Louis, ein Junge der neben dem alten Mann saß. Liv stand noch immer ahnungslos im Türrahmen. Was ein Direktor oder ,,Hogwarts" war, wusste sie genauso wenig.
,,Warum sind sie hier, Professor? Kriege ich vielleicht endlich meinen Hogwarts Brief?" fragte Emily aufgeregt, ebenfalls ein kleines Mädchen, das vergnügt bei Dumbledore saß.
,,Du wirst dich leider noch ein Jahr gedulden müssen." lachte der Professor.
,,Kinder, Kinder! Lasst Professor Dumbledore doch in Ruhe. Setzt euch alle auf euren Platz, jetzt wird gefrühstückt!" sagte Mrs Wilson und stellte ein Tablett mit einem Berg von Pfannkuchen auf den Tisch. Lachend eilten alle Kinder auf ihre Plätze. Auch Liv setzte sich zögernd auf ihren Stuhl.
,,Für dich auch etwas, Albus?" fragte Mrs Wilson.
,,Nur ein Goldlackwasser, wenn du so gut wärst, Marta." antwortete er.
Liv griff nach dem Kürbissirup und verteilte ihn auf ihren Pancakes. Sie griff nach dem kleinen Speer und den winzigen Dreizack, die neben ihrem Teller lagen. Die Menschen nannten diese Dinger Messer und Gabel. Sie verwendeten sie zum Essen, hatte Liv gelernt. Sie verstand den Sinn dahinter allerdings nicht... mit den Fingern würde es doch viel schneller gehen.
Nach dem Frühstück bat Mrs Wilson die älteren Kinder die Küche sauber zu machen, während sie mit Professor Dumbledore in ihr Büro verschwinden wollte.
,,Liv, würdest du uns bitte begleiten?" forderte die Frau sie freundlich auf. Verwundert war Liv ihr einen Blick zu, doch sie folgte den beiden in das kleine Büro der Heimleiterin ohne weitere Fragen zu stellen oder gar zu antworten.
Mrs Wilson setzte sich hinter ihren Schreibtisch während Liv auf dem Sessel gegenüber von ihr Platz nehmen sollte. Dumbledore zog es vor stehen zu bleiben.
,,Also Albus..." begann Mrs Wilson und kramte in ihren Unterlagen herum.
,,Ich habe dir ja in meinem Brief schon einiges über das Mädchen geschrieben. Das Zaubereiministerium hat sie vor drei Wochen bei mir abgesetzt, ohne jegliche Informationen, bis auf, dass ihr Name wohl Olivia lauten soll." erklärte sie und holte eine dünne Akte hervor.
,,Wir gaben ihr zusätzlich den Nachnamen Roberts. Für's erste. Aber hier wird sie von allen nur Liv gerufen. Sie scheint ihr Gedächtnis bei dem Überfall verloren zu haben, als sie hierher kam konnte sie kaum ein Wort sprechen. Vermutlich eine schwerwiegende akute Amnesie. Wir wissen nichts über ihre Eltern, nichts über ihre Herkunft, es scheint als wäre sie einfach vom Himmel gefallen." seufzte die Frau.
,,Das einzige, was sie uns über sich sagen konnte war, sie wäre sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Ist das zu glauben? Pah." schnaubte die Frau bekustigt.
Liv hörte der Frau gespannt zu. Es stimmte, sie hatte behauptet sie wäre sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Der Mann, der sie gefunden hatte, hatte das Gleiche gesagt. Also hatte sie es einfach auch behauptet.
,,In der Tat merkwürdig..." murmelte der Professor.
,,Sie behauptet außerdem, sie hätte noch nie gezaubert." fügte Mrs Wilson hinzu. Dumbledore zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.
,,Tatsächlich?" fragte er an das Mädchen gewandt. Sie nickte. Sie hatte noch nie einen Zauberstab in der Hand gehabt, sie hatte auch keinen eigenen. Aber sie hatte ja auch noch nie einen gebraucht.
,,Ich glaube, das hat etwas mit ihrer Amnesie zutun." sagte Mrs Wilson.
,,Als sie hierher kam, glaubte sie auch unsere Sprache nicht sprechen zu können. Und siehe da, drei Wochen später spricht sie perfektes Englisch. Wir mussten ihr alles Mögliche wieder beibringen, angefangen von Tischmanieren bis hin zur Verwendung eines Badezimmers." seufzte sie, während Liv sie mit großen Augen anstarrte.
,,Aber sie hat es im Handumdrehen verstanden und gelernt, vermutlich ein Zeichen dafür, dass sie es vor ihrer Gehirnerschütterung und dem Gedächtnisverlust schon gekonnt hat."
,,Ich lerne schnell." sagte Liv zum Professor. Dumbledore musterte sie interessiert.
,,Und du glaubst wirklich, dass sie im sechsten Jahrgang gut aufgehoben ist, Marta?" fragte Dumbledore seine Bekannte. ,,Wenn sie alle Zauber und den Stoff der unteren Klassen vergessen hat?"
,,Aber natürlich, Albus!" meinte die Frau überzeugt.
,,Natürlich kannst du sie noch nicht in den Abschlussjahrgang stecken, so viel ist sicher. Aber sobald ihr Gedächtnis wieder aufgefrischt wird, wird sie sich an alles erinnern können, sodass sie im sechsten Jahrgang sicher gut aufgehoben ist! Du kannst sie doch nicht zu den elf-Jährigen in den ersten Jahrgang stecken!"
,,Erster Jahrgang?" fragte Liv verwundert.
,,Professor Dumbledore ist der Leiter einer Schule, wo du nach den Sommerferien unterrichtet wirst." erklärte Mrs Wilson an Liv gewandt.
,,Schule?" fragte Liv wieder.
,,Dort geht man hin, um zu lernen!" sagte die Frau. Liv nickte stumm.
,,Warst du schon einmal auf einer Schule, Olivia?" fragte Dumbledore das Mädchen. Liv antwortete nicht. Sie starrte ihn lediglich mit großen Augen an.
,,Natürlich war sie auf einer Schule, ich bitte dich!" antwortete Mrs Wilson für das Mädchen.
,,Vermutlich kommt sie aus dem Ausland, was weiß ich. Sie kommt nach Hogwarts, so lange, bis wir mehr über ihre Herkunft wissen, oder ihre Familie gefunden haben!"
Beim Wort Familie wurden Olivias graue Augen trüb. Ihre Familie hatte sie zurück gelassen. Ihre Familie hatte sie nicht mehr bei sich haben wollen...
,,Vertrau mir, Albus! Im sechsten Jahrgang ist sie hervorragend aufgehoben!" meinte Mrs Wilson. Dumbledore grübelte.
,,Ich kenne dich lang genug, Marta... und ich vertraue auf deinen Instinkt." meinte er.
,,Na also!" sagte die Frau zufrieden und lächelte.
,,Hast du gehört, Liv? Du gehst nach Hogwarts!"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro